Wolfgang Hilbigs Gedicht „Inverto“

WOLFGANG HILBIG

Inverto

Ich schlief zu tief im Licht
ich lag zu lang im Schein
zuviel verblich mir langsam in Gedanken –
Steine und Schreie wuchsen in mich ein.

Aus abendlichen Räumen über meinen Phantasien
aus den entlaubten Bäumen über meinem Spleen
verzogen Schatten sich
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadahinter sanken
Feuer zusammen und die Nacht erschien.

Und tief in diesem Traum erkannt ich dein Gesicht
hellwach wie Tag – der sich von Schlaf zu Schlaf mir flicht.

1999

aus: Wolfgang Hilbig: Werke. Bd. I. Gedichte. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2008

 

Konnotation

Das Wort „Spleen“ in dem folgenden Gedicht lässt aufhorchen. Mit ihm setzt Wolfgang Hilbig ein deutliches Signal der Nähe zu Dichtern wie Charles Baudelaire oder Georg Trakl. Hilbig, der 1941 im thüringischen Meuselwitz auf die Welt kam und 2007 in Berlin starb, sucht in seinen Gedichten stilistisch und gestisch Kontakt zu den Dichtern der Frühmoderne, die den Abgrund und die Melancholie (griechisch: splēn) im Wappen führten.
Es ist vor allem die Anspielung auf den sechsten Bußpsalm, die Hilbigs Gedicht seine Prägung verleiht. „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir“. Keinen seelenzerknirschenden Traum eines Sünders thematisiert das Gedicht, sondern einen Erkenntnismoment, der aus materieller und geistiger Auslöschung entsteht. Das hellwach wie Tag erscheinende „Gesicht“ des Schlusses zeigt so weniger ein Erwachen mit Schrecken an, als die kaum zu ertragende Offenbarung von Transzendenz.

Norbert Lange (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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