Wolfgang Weyrauchs Gedicht „Als wir in die Klinik gegangen waren“

WOLFGANG WEYRAUCH

Als wir in die Klinik gegangen waren

Ich geh nach Haus, ich riech die Welt nicht mehr,
ich lieg mit Deinem Kind in Deinem Bauch.
Da flügelt’s jäh aus unserm guten Strauch.

Der duftet wie der Zimt, und zu mir her
streicht unsre Amsel, äugt und singt den Reim
von Dir und mir, von Deinem guten Seim.

Der flutet hin, selbst bis zum Großen Bär.
Denn Du bist alles, Stern und Rauch und Brot.
Verschon uns Drei, verschon uns, bitte, Tod

1950

aus: Wolfgang Weyrauch: Atom und Aloe. Gesammelte Gedichte. Reclam Verlag, Leipzig 1991

 

Konnotation

Mehrere Leben zugleich scheint Wolfgang Weyrauch (1904–1980) geführt zu haben – als Autor von Gedichten, Erzählungen und Hörspielen und als Journalist und Verlagslektor. In letzterer Funktion brachte er wichtige Anthologien der Nachkriegsliteratur heraus, vor allem die Kurzgeschichten-Sammlung Tausend Gramm, die 1949 den Begriff „Kahlschlag“ in die Literatur einführte.
In fünfhebigem Jambus und mit einfachen Reimen entwickelt Weyrauch in diesem 1950 im Band An die Wand geschrieben erschienenen Gedicht eine zarte Melodie, die der Schlussreim jäh abbrechen lässt. Dabei kreist das Gedicht weniger um den Tod als um die bevorstehende Geburt eines Kindes. Als Teil einer Reihe von Gedichten, in denen das private Glück eines Paares beschrieben wird, darf man diesen Text vielleicht als ein Brautgedicht lesen, als ein Liebesgedicht allemal.

Norbert Lange (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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