Zafer Şenocaks Gedicht „einst suchte ich eine staatenlose Stadt“

ZAFER ŞENOCAK

einst suchte ich eine staatenlose Stadt

einst suchte ich eine staatenlose Stadt
um darin unterzugehen
keiner sollte meine Spur sehen
und je meinen Namen verstehen
einst suchte ich eine Bleibe für eine Nacht
das Bett sollte unterm Fenster stehen
und das Fenster zum Himmel gehen
damit ich ungesehen verschwände

um 1994

aus: Zafer Şenocak: Übergang. Ausgewählte Gedichte 1980–2005, Babel Verlag, München 2005

 

Konnotation

Hier träumt ein lyrisches Ich von der Utopie der Ent-Nationalisierung, vom Ausbruch aus den ethnokulturellen Festlegungen: Zafer Şenocak, 1961 in Ankara geboren und seit 1970 in Deutschland lebend, versucht sich den im Literaturbetrieb üblichen Schablonen zu entziehen. Şenocak, der seit 1979 Gedichte, Essays und Prosa in deutscher Sprache veröffentlicht, weiß um die Wirkungsmacht der Klischees vom „deutsch-türkischen Autor“ oder vom Dichter mit „Migrationshintergrund“.
Das lyrische Subjekt imaginiert in diesem erstmals 1994 publizierten Gedicht einen Zustand der Staatenlosigkeit und Anonymität; ein nomadisierendes Ich, das nur ein Provisorium sucht, „eine Bleibe für eine Nacht“. Diese Lage des Heimatlosen ist hier aber nicht negativ besetzt, sondern als Zustand der Entlastung markiert. Aber es gibt auch ein Moment der Melancholie und der Trauer: denn der hier „ungesehen“ zu verschwinden droht, ist auch auf unentrinnbare Weise einsam.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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