Geboren ward das Werk erst… durch des Dichters mündliche Offenbarung.
Roda Roda
Die vorliegende Anthologie versammelt 122 Autoren mit über 400 Gedichten, alle im Originalton, alle also von den Verfassern der Texte selbst gelesen. Sie setzt ein mit dem Jahr 1907, dem Jahr, aus dem die erste Tonaufnahme einer Autorenlesung eines lyrischen Textes erhalten ist. Eine Besonderheit, denn das Archivieren von Aufnahmen war in den großen Rundfunkhäusern zwar üblich, blieb jedoch über Jahre musikalischen Darbietungen oder nur den berühmtesten Autoren vorbehalten. Obwohl die Autoren bereits zur Zeit der Weimarer Republik in die Rundfunkhäuser strebten, um sich ein paar Reichsmark hinzuzuverdienen, hatten nur wenige Gelegenheit, tatsächlich dort zu lesen, und davon wurden wiederum nur wenige aufgezeichnet und so für die Nachwelt erhalten.1 Die Anthologie beginnt also im Jahr 1907, und sie endet im Hier und Jetzt, in einer Zeit, da Autoren ihre eigenen Homepages pflegen und ihre Lesungen dort zugänglich und zu hören sind.
In einem Jahrzehnt, in dem alles, was gewünscht und gesucht ist, im Internet zur Verfügung zu stehen scheint, mag eine derartige Sammlung zunächst nicht erstaunen. Jedoch: Was heißt verfügbar, wenn es sich um Aufnahmen aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts handelt? Was bedeutet es heute, wenn sich ein Verlag und seine Herausgeber daran machen, zu recherchieren, was jemals aufgenommen worden ist? Zu recherchieren, welche Aufnahmen erhalten sind? Auszuwählen aus dem, was vorhanden ist? Und doch feststellen zu müssen, dass Vieles nie auf Walze oder Platte gebannt oder aus Archiven gelöscht wurde und damit für das kulturelle Gedächtnis für immer verloren ist?
Es bedeutet genau dies: sich auf die Suche zu machen nach dem, was das kulturelle Gedächtnis einer sprachlichen Gemeinschaft ausmacht. Hineinzuhören in ein Jahrhundert, das mit zwei Kriegen begann, das mit der deutschen Teilung die Teilung eines gesamten Kontinents erlebte, das Wettrüsten zweier sich gegenüberstehender politischer Systeme verfolgen musste und nach Perestroika und Glasnost schließlich in eine neue, wiedervereinigte Phase eintrat. Ereignisse, die sich in den Gedichten widerspiegeln, die im Laute dieses Jahrhunderts in deutscher Sprache entstanden sind und die in zahlreichen und bedeutsamen Anthologien deutschsprachiger Lyrik festgehalten sind. Was diese Anthologien aber nicht festhalten, ist ein Aspekt europäischer Mentalitätsgeschichte: die gesprochene Sprache, die für die jeweilige Zeit typische Art des Vortrags, ihre Intonation – das Porträt eines Jahrhunderts in den Stimmen ihrer Dichter.
Das Selbst-Lesen, das Sich-Versenken in Gedichten, ohne dass der Autor anwesend ist, sein muss, eine Autonomie also, die die Rezeption eines Textes erst ermöglicht, hat in den Jahrhunderten der schriftlichen Vermittlung von Literatur zu etwas geführt, was das „Verschwinden der Stimme in der Schrift“2 genannt worden ist. Die Stimme hat an Bedeutung verloren, sie ist nicht mehr Voraussetzung dafür, Literatur zu erfahren, wie das etwa in der mittelalterlichen Dichtung der Fall war. Eine Rezeption von Lyrik über die Stimme des Autors ist heute die Ausnahme und geschieht nur dann, wenn sich der geneigte Zuhörer zu Lesungen oder Festivals begibt. In Vergessenheit geriet, dass die Stimme des Dichters mindestens ebenso bedeutsam ist wie das Geschriebene, ihr Rhythmus, ihre Intonation, ihr Versmaß, hier unterstreicht der Autor das Geschriebene durch seine Lesung, dort scheint seine Interpretation dem Text völlig gegenläufig zu sein. Erst das Hören des Textes mag dann die ganze Dimension des Textes sichtbar machen – man denke dabei nur an offenkundige Beispiele wie die Gedichte des Dada oder die Dialektdichtungen, Texte, die ohne ihre akustische Form nicht vollständig erfahrbar sind. Emotion, Temperament und Charakter geben den Blick frei auf den Verfasser und seine Zeit. In seinem Vortrag vereinigen sich Sprechkunst und Schauspielkunst zugleich, er ist Darstellung und Inszenierung eines Textes in einem, ist Vorbild oder Spiegelbild, Zerrbild oder Gegenbild seiner Zeit, die sich ihm wie ein Stempel einprägt. Macht man die „verschwundene Stimme“ wieder sichtbar – oder besser: hörbar –, so eröffnet sich auch der Blick auf ihre Herkunft. Das gilt nicht nur für zeitgenössische Autoren, Autoren des Hier und Jetzt, erlebbare und erfahrbare Stimmen, sondern auch für das, was vergangen und unwiederbringlich scheint. Wenn man die Stimmen von Kurt Schwitters, Raoul Hausmann, Friedrich Schnack oder Anton Wildgans hört, diesem expressiv-deklamatorischen Akt beiwohnt, gewinnen die Gedichte eine neue, unerhörte Dimension. Die Tatsache, dass diese und andere außergewöhnliche Aufnahmen erhalten sind – Thomas Bernhards hier zu hörende Gedichte beispielsweise, die bislang unveröffentlicht geblieben sind, oder das Gedicht „Dem ewig Lebenden“, das Johannes R. Becher während Stalins Beerdigung vorträgt –, spiegelt eine Entwicklung wider, die auch als Apotheose der menschlichen Stimme zu Beginn des 20. Jahrhunderts bezeichnet wurde: Mit der Möglichkeit der Tonaufzeichnung setzt in den Rundfunkhäusern in der ersten Jahrhunderthälfte eine Wiederbelebung des gesprochenen Wortes ein. Viele Autoren verdienten sich über Jahre etwas durch die Lesungen im Rundfunk dazu, die Sender waren fester Bestandteil des kulturellen Lebens, dessen Verbreitung und dessen Archivierung.
Die Zusammenstellung von Autoren und ihren Gedichten in dieser Anthologie basiert auf Recherchen, die mehrere Jahre in Anspruch genommen haben. Es galt zu sichten, welche Aufnahmen durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk realisiert wurden und erhalten sind. Im Deutschen Rundfunkarchiv sind diese Aufnahmen verzeichnet. Zudem wurde in Literaturarchiven, bei Stiftungen, Kultureinrichtungen und in den Archiven privater Sammler recherchiert; mit Anzeigen wurde nach verschollenen Originalaufnahmen gesucht. Auch der Hörverlag hat in den letzten Jahren verschiedene Autoren aufgenommen und bereits in Einzelausgaben veröffentlicht. Diese Archive und Fundorte und deren bedeutende, Kultur sichernde Leistung waren Voraussetzung und Basis der vorliegenden Anthologie.
Manches ist also erhalten, vieles zwar als gesendet dokumentiert – vor allen Dingen aus der Zeit der Weimarer Republik –, jedoch nicht archiviert und damit nicht erhalten. Die Möglichkeit, einzelne nicht erhaltene Gedichte oder gar Autoren neu aufzunehmen, wurde bedacht und verworfen. Eine Anthologie der Dichterstimmen will genau das: Sie will eine Anthologie der authentischen Aufnahmen sein, sie will hineinhören in den originalen Duktus der Lesungen, sie will nichts ersetzen und nichts nachspielen. Diese Anthologie ist der Ort für die Körper- und Seelenspuren der Dichterinnen und Dichter in ihren Texten. Und so sind in dieser Sammlung neben wichtigen und bekannten Gedichten auch solche dabei, die bislang beinahe ein Schattendasein führten. Sie werden in der vom Dichter gesprochenen Form zu akustischen Meisterwerken. Das vermag die Stimme, das vermag das gesprochene Wort. Das vermag die Sammlung deutschsprachiger Dichterstimmen.
Christiane Collorio, Vorwort
Als Ingeborg Bachmann 1952 in Niendorf zum ersten Mal ihre Verse vor der Gruppe 47 las oder vielmehr flüsterte, da erklärte Hans Werner Richter, der Gruppenhäuptling, man habe diese Gedichte eigentlich noch gar nicht richtig vernommen, und er bat Wolfgang Weyrauch darum, sie doch nochmals vorzulesen, laut und deutlich. Weyrauch intonierte dann mit prächtiger Baritonstimme jene zuvor mehr gehauchten als gesprochenen Bachmann-Verse, aber im Wohlklang seiner Stimme verlor sich alles das, was das spezifische Fluidum und den Zauber dieser frühen Verse der Dichterin ausmachte. Zu Ingeborg Bachmanns Gedichten gehört eben unabdingbar diese leise, stockende, unsicher zitternde und fast brechende Stimme, die keine Mittellage besaß, sondern nur Ober- oder Untertöne, sodass sich Martin Walser beim Hören an die Frauenseite in der Kirche seiner Wasserburger Kindheit erinnert fühlte und an die dort erlebten Litaneien. Weniges hat mir so viel Pein bereitet wie jene Schauspielerinnen mit den oft klingenden Namen, die sich nach Ingeborg Bachmanns Tod ihrer Lyrik bemächtigten und sie, natürlich in bester Absicht, mit ihren Rezitationen volltönend hinrichteten.
Wie aufschlussreich, dass auch der andere bedeutende Dichter aus Ingeborg Bachmanns Generation, Paul Celan, der damals durch sie in die Gruppe 47 eingeführt wurde, dort schlimm scheiterte, weil die Art seines Gedichtvortrags allgemein missfiel. Während Hans Werner Richter darin Anklänge an „den Singsang in einer Synagoge“ zu vernehmen meinte, zog ein anderer Autor der Gruppe den völlig verrückten Vergleich mit dem Tonfall von Goebbels-Reden! Selbst Celans Wiener Freund Milo Dor bescheinigte ihm, dass er „nicht besonders gut, ja elend vorlas“, was uns heute absolut unverständlich anmutet, sind doch Celans Gedichte so eng an seinen ganz eigenen Stimmklang gebunden wie die fast keines anderen Dichters. So wie man in Ingeborg Bachmanns Tonfall beim Gedichtvortrag immer auch ihre Herkunft aus dem Kärntner Gailtal mithörte, schwang in Celans Gedichtvortrag immer ein Ton aus der fernen Bukowina und aus seiner Heimatstadt Czernowitz mit und zugleich die Bitternis über das furchtbare Verhängnis, das über diese Kindheitslandschaft des Dichters und ihre Menschen gekommen war. „Er bewegt sich wie einer, der dem Boden nicht traut“, schrieb Hermann Lenz in seiner Erinnerung an den Freund Paul Celan. Ebenso sprach Celan auch, mit einem gedämpften, fahlen, fast fatalistischen Pathos, das seine Überzeugung beglaubigte, wonach das Gedicht heute am Rande des Verstummens angesiedelt sein müsse. „Zuweilen wurde man zum Zeugen, wie die Stimme aus dem Schweigen kam“, so erinnert Gerhart Baumann eine Freiburger Lesung des Dichters:
Celan brachte nicht sein vorgegebenes Gedicht zu Gehör, vielmehr schuf er es wieder, indem er las.
Nicht nur, wenn ich heute Ingeborg Bachmanns und Paul Celans Gedichte für mich lese, habe ich sofort wieder ihre unverwechselbaren Stimmen im Ohr, sondern auch, wenn ich mir die Gedichte jener vielen anderen Dichter vornehme, die seit meiner frühesten Jugend für mein Leben und meine eigene lyrische Entwicklung bedeutsam wurden und die bei ihren Lesungen zu hören ich noch das Glück hatte, vernehme ich gleich deren Stimmen. Niemals wollte ich deshalb die Gedichte von Nelly Sachs, Hans Arp, Peter Huchel, Günter Eich, Günter Grass oder Ilse Aichinger, um nur diese wenigen zu nennen, je von irgend jemand anderem gelesen hören als von ihren Urhebern selbst. Wer, wenn auch nur auf Schallplatten, einmal Brecht gehört hat und sein aufreizend trockenes Augsburger Schwäbisch, mit dem er sein Gedicht „An die Nachgeborenen“ aufsagte, oder Benn, in dessen Stimme immer etwas von der Wehmut des Verdämmerns in einer Berliner Destille mitschwang, wer Hans Arp mit seinem elsässisch geerdeten Tonfall sein Gedicht „Kaspar ist tot“ geradezu herunterleiern hörte oder Karl Kraus lauschte, der mit einer vom Burgtheater und Moissi geliehenen Prophetenstimme die „letzten Tage der Menschheit“ ausrief, wer sich einmal von der schier zu Tode erschrockenen Jungmädchenstimme der Nelly Sachs ergreifen ließ oder Ernst Meister erlebte, der, als hätte er alte Keilschriften vor sich, mit einer Lupe mühsam seine Gedichte entzifferte und vorlesend dann die einzelnen Worte so abgesetzt voneinander in den Boden hinein sprach, dass sie wie eine Art von Wörter-Findlingen wirkten, der dürfte, davon bin ich tief überzeugt, völlig verloren sein für alle anderen als derartig authentische Vortragsarten.
Es war deshalb wohl nur folgerichtig, dass ich 1957 als gerade einmal Zwanzigjähriger bei dem damaligen Shootingstar unter den deutschen Verlegern, bei Günther Neske in Pfullingen, wo ich für 200 Mark im Monat als Mädchen für alles diente, das Projekt einer ersten Lyrik-LP mit auf den Weg brachte. In einem Ludwigsburger Tonstudio nahmen wir Gedichte von und mit Hans Arp, Günter Eich, Karl Krolow, Helmut Heißenbüttel, Günter Grass, Paul Celan, Ingeborg Bachmann und Walter Höllerer auf, die dann unter dem Titel Lyrik der Zeit auf zwei Schallplatten erschienen (sie sind sogar heute noch als CD erhältlich und auch in die vorliegende tönende Lyrik-Anthologie eingegangen). Ein unschätzbares Dokument.
Dass Stimme und Tonfall ein so entscheidendes Element zum wahren Aufnehmen von Gedichten sind, hängt natürlich auch damit zusammen, dass Lyrik diejenige literarische Gattung ist, die der Musik am nächsten verwandt und wesentlich von Klang und Rhythmus bestimmt ist. Wenn Goethe die Musik als „die höchste der Künste“ apostrophierte, „weil sie keinen Stoff hat, der abgerechnet werden müsste“, so gilt das auch für die Lyrik. Was sollte denn deren Stoff sein? Wollte man Goethes „Über allen Gipfeln ist Ruh“ seinen Stoff abfragen, bliebe so gut wie nichts von ihm übrig. Gedichte, die man auf eine Aussage reduzieren kann, sind keine. Ausnahmen bilden allenfalls Balladen, die heute aber zu Recht, wie ich finde, ziemlich niedrig im Kurs stehen. Gedicht und Gesang galten einmal als Synonyme, jedenfalls waren Klang und Sinn, wie etwa Paul Valérv nicht müde wurde zu betonen, gleichwertige Elemente des Gedichts und untrennbar miteinander verbunden. Es war Robert Walser, der sein Schreiben als ein „mit Worten musizieren“ definierte. Und Joseph Brodsky erklärte:
Die analytischen Funktionen werden vom Dichter ans Gehör delegiert.
Wäre es anders und würde sich das Gedicht nur über seinen Sinn erschließen und aufnehmen lassen, dann hätte ich mangels Russischkenntnissen unmöglich so erregt und begeistert einer Lyrik-Lesung Joseph Brodskys folgen können, die mich stark an den Gesang der Popen in den orthodoxen Kathedralen von Sankt Petersburg oder Sagorsk erinnerte. Wer, wie ich, eine katholische Kindheit und Ministrantenexistenz erlebte (und überlebte), in der ausschließlich Latein in den Kirchen gesprochen und gregorianischer Choral gesungen wurde, der war gut geschult für das Verstehen des vorderhand nicht Verständlichen. Nach einer deutschen Lesung bei einem unserer Petrarca-Preis-Feste fragte ich den englischen Schriftsteller John Berger, ob er etwas verstanden habe, und er antwortete:
Alles – wie ein Hund.
Jeder, der sich Lyrik anhört, sollte, auch wenn es sich nicht um fremdsprachige Dichtung handelt, in sich einen solch musikalischen Hund beheimaten – oder einen Ministranten.
Um zum Schluss nochmals Joseph Brodsky zu zitieren:
Es ist der Tonfall, in dem man zu den Kranken spricht, der sie heilt.
Die tröstliche und heilende Wirkung, die Gedichte haben können, kommt immer auch oder sogar zuerst aus ihrem Ton und ihrem Tonfall. Deshalb ist für mich ein Unternehmen wie das hier vorliegende Konzert dichterischer Stimmen so notwendig wie beglückend.
Peter Hamm, Vorwort
– Überlegungen zum Lesen und Hören von Gedichten. –
Wer in den fünfziger Jahren Gedichte las, moderne Gedichte – für den war Gottfried Benn die oberste Autorität in allen Lyrikangelegenheiten. Benn sagte ihm in seiner Marburger Rede über die Probleme der Lyrik, was ein Gedicht war und woran man ein gutes Gedicht erkannte. Es sollte ein absolutes Gedicht sein, ein Gedicht ohne Glauben, ohne Hoffnung, „ein Gedicht aus Worten, die Sie faszinierend montieren“. Diese faszinierende Wort-Montage war auf dem Papier zu besichtigen und zu rezipieren:
Ein modernes Gedicht verlangt den Druck auf dem Papier und verlangt das Lesen, verlangt die schwarze Letter, es wird plastischer durch den Blick auf seine äußere Struktur, und es wird innerlicher, wenn sich einer schweigend darüber beugt.
Das leuchtete uns ein. Denn die moderne Lyrik galt als schwierig – je schwieriger, umso moderner. Das war Dogma, und wir folgten ihm mit Lust. Wie aber waren wir überrascht, als wir dann später eine Schallplatte hörten, auf der unser Idol Big Benn seine Gedichte las. Wir waren verwundert, fast ein wenig enttäuscht. Nicht bloß, weil der Dichter mit seinem eigenen Dogma gebrochen hatte, sondern auch weil Benn, dessen innere Stimmlage wir zu kennen meinten, seine Verse mit einem berlinernden Tonfall las, zugleich pathetisch und sentimental. Der absolute Dichter war plötzlich Mensch geworden, war zu uns herabgestiegen, uns nahegekommen. Es dauerte eine Weile, ehe wir begriffen, so geht es auch. Mehr noch: So bekommt das Gedicht eine weitere Dimension: den raumfüllenden Klang, die menschliche Stimme. Die stumme Musik, die uns entzückt hatte, wurde ergänzt durch die Nebentöne und Schwingungen, die das menschliche Organ der Dichtung hinzufügte. Heute kann ich kein Benn-Gedicht lesen, ohne die vox humana als Register des Dichters mitschwingen zu hören. Es tut der Bennschen Poesie keinen Abbruch. Im Gegenteil: Ihr Pathos erhält einen Hauch Ironie, ihr Sarkasmus wird intim und geschmeidig. Es spricht Dr. Benn aus der Bozener Straße. Man würde durchaus in seine Sprechstunde gehen.
Damals also war Benn mein Gott, später waren es Paul Celan und Ingeborg Bachmann. Beim Wiederhören der „Todesfuge“ bedauere ich, sie nicht vom Dichter persönlich gehört zu haben. Von einem gewissen Punkt aus – als er eine grauere Sprache suchte – hat Celan die „lesebuchreif gedroschene“ „Todesfuge“ nicht mehr vorgelesen. Wer sie jetzt in einer Tonaufnahme hört, begreift, welche Register der Dichter hervorgehoben haben wollte und selbst hervorhob – ein enormer Zugewinn gegenüber jener Lektüre, die der über das Buch gebeugte Leser betreibt. Dämonie und Verführung – der ästhetisierte Schrecken, das alles wird hörbar, wird jene Musik, die der Begriff „Todes-Fuge“ nahelegt. Und man begreift beim Hören dieses Sprech-Gesangs sogar, dass Celan die rumänische Fassung als „Todes-Tango“ bezeichnet wissen wollte.
Heute bin ich geradezu versucht, Benns Apologie des gedruckten, still zu lesenden Gedichts umzuwenden: Das Gedicht wird räumlicher, es eröffnet einen Hallraum, darin seine Musik ertönt, selbst wenn es sich – auf dem Papier – hermetisch oder sperrig geriert. Es wird durchaus innerlicher. Nennen wir nur ein paar Namen, um deutlich zu machen, dass uns unter den modernen Poeten nicht nur die gedruckten Texte geläufig sind. Sondern dass wir auch ihre Stimmen, ihren vokalen Gestus im Ohr haben. Etwa die hohe, leicht nasale Stimme des ironischen Hypochonders Peter Rühmkorf. Die komische Pedanterie des lachenmachenden Schulmeisters Ernst Jandl. Oder die charmant umständliche Komik, mit der Oskar Pastior seine Anagramme, Sonetburger, Villanellen und andere Gedichtgedichte vortrug. Wie gern kamen auch jene Leser zu seinen Lesungen, die seine Bücher nicht recht zur Kenntnis nahmen, ihn aber unbedingt hören wollten. Was ihnen im Druck pedantisch-schematisch und dunkel erscheinen mochte, löste beim Zuhören raunendes Schmunzeln, ja Serien von Lachsalven aus. Wer lacht, hat etwas erkannt. Wer aufhorcht, dem leuchtet etwas ein.
Rühmkorf, Jandl, Pastior sind tot – aber ihre Texte leben noch: ob gelesen oder gehört. Es gibt keinen wirklichen Widerstreit zwischen gelesenem und gehörtem Text: Wir können das eine wie das andere lieben. Wir begreifen dieses Privileg, wenn wir bedenken, dass es nicht immer so war. Zwar ist Poesie immer schon gesprochen und geschrieben worden. Aber ihre Überlieferung war über Jahrtausende an die Schrift gebunden. Schrift war das Speichermedium. Dabei darf nicht übersehen werden, dass der Schrift wiederum die mündliche Tradierbarkeit vorausging. Dafür ist Poesie von Anfang an gemacht. Dichtung ist diejenige Form des Sprechens, die in sich alle sprachlichen Elemente hat, die Überlieferung überhaupt ermöglicht: Bild, Wortspiel und Rhythmus. Der Dichter ist der eigentliche Gedächtniskünstler. Er erscheint früh in der Personalunion von Priester, Seher und Sänger. Er überliefert das Bewahrenswerte, indem er für seine Inhalte einprägsame Formeln und wiederholbare rhythmische Sprachfiguren wählt. Sie konnten seine eigenen Gedächtnisinhalte bewahren und bis zu einem gewissen Grade auch von seinen Zuhörern aufgenommen und bewahrt werden. Für das Auswendiglernen gibt es den schönen Ausdruck „to learn by heart“. Der Dichter, die Dichterin berief sich auf einen Gott oder auf die Musen, um die Ordnung der Welt und die überliefernswerten Geschehnisse der Vergangenheit in einem Gesang zu befestigen, dessen Wiederholung jederzeit die Wahrheit und Würde des Überlieferten bestätigen konnte.
Mnemosyne – Erinnerung, Gedächtnis – war den alten Griechen die Mutter der Musen. Und wenn auch die Musen im laufe der Tradition zur mythologischen Staffage wurden – Erinnern, Eingedenken, Andenken blieben entscheidende Motive allen Dichtens. Hölderlin war vielleicht der letzte Dichter, der noch glaubwürdig von den Musen und von Mnemosyne sprechen konnte. Er, der „Dichter in dürftiger Zeit“, wagt in seiner späten Hymne „Andenken“ den Vers:
Was bleibet aber, stiften die Dichter.
Das mag bereits verzweifelte Hoffnung gewesen sein – Hoffen wider alle Hoffnung. Aber etwas von der Vorstellung, dass Poesie etwas aufbewahrt, was anders nicht zu bewahren ist, steckt in jedem, der heute noch Verse schreibt. So hält sich die Lyrik, dies quasi atavistische Medium, das uns an Ältestes, Uranfängliches erinnert, nicht bloß in der altbekannten Konkurrenz von Drama und Roman, sondern auch gegen die Attraktionen der jüngsten medialen Attraktionen. Immer noch hat das Gedicht in unserem Bewusstsein einen Sonderstatus. Ein erfolgreicher Prosaautor, nämlich Martin Walser, hat sogar gemeint:
Ich glaube, es gibt keinen Schriftsteller, der nicht am liebsten Lyriker wäre.
Und wirklich: Unter den großen Autoren deutscher Sprache, die im zwanzigsten Jahrhundert schrieben, sind erstaunlich viele Lyriker: George, Hofmannsthal, Rilke, Benn, Trakl, Brecht, Celan, um nur einige zu nennen.
Wenn die Poesie also Mnemosyne ist, Erinnerungsspeicher, dann sollte es keinen Streit um die Priorität der Mittel geben. Tontafeln, Papyri, Pergamente, Buchdruck oder aber Schallplatte, Tonband, Diskette sind dienende Medien, die Speicherung von sprachlichen Inhalten ermöglichen – Wiederholung also. Kultur – so ließe sich sagen – ist Möglichkeit der Wiederholung, Verhinderung von Verlust. Hölderlin – unser größter Rühmer der Mnemosyne – schreibt am Schluss der Hymne „Patmos“:
Der Vater aber liebt,
Der über allen waltet,
Am meisten, daß gepfleget werde
Der feste Buchstab, und Bestehendes gut
Gedeutet. Dem folgt deutscher Gesang.
Unvorstellbar (leider!), wir könnten Hölderlins Gesang aus Hölderlins persönlicher Stimme hören. Um so erstaunlicher und schätzenswerter ist es, dass uns die Stimmen so vieler Dichter überliefert sind, die in den frühen Tondokumentationen von Schallplatte und Radio erhalten sind – ein Liebesgedicht von Ricarda Huch, Hofmannsthals wunderbares „Manche freilich müssen drunten sterben“, oder einige der großen satirischen Texte von Karl Kraus. Unausdenkbar, wir hätten noch mehr. Beglückend aber, dass wir diese Zeugnisse besitzen. Manches mag uns in Darbietung und Tonfall befremden. Im Hören begreifen wir aber, wie stark die Impulse sind, die in diesen alten Tondokumenten zu uns sprechen. Auch die Stimme hat ihre Historie, die Spuren von Fremdheit oder Verfremdung. Aber eine jede ist unabweislich menschlich und damit ewig aktuell. Wer sich durch die hier versammelten Lyrikstimmen, diese hundert Jahre Lyrik im Originalton hindurchhört, hört sich durch ein Archiv Menschheitsgeschichte, durch ein Archiv menschlicher Empfindungen und Gedanken, durch ein Stück Lyrikgeschichte, durch die Geschichte von Form und Ausdruck, von den großgefühlten Formen des Symbolismus bis in die Ernüchterungen eines hellen Skeptizismus und den Rap einer Generation, die ihre Emotionen in einen jazzigen Sprechgesang kleidet. Das Entscheidende zur Vielfalt der Lyrik hat schon Bert Brecht gesagt, der über den Bibelton ebenso verfügte wie über die Moritat:
Jedes Gedicht ist der Feind jedes andern Gedichts und sollte also allein herausgegeben werden. Gleichzeitig benötigen sie einander, ziehen Kraft auseinander und können also vereint werden.
Harald Hartung, Vorwort
Dichterlesungen haben in der größeren Öffentlichkeit einen Beigeschmack des Provinziellen. Einern bösen Ondit zufolge gehen zu solchen Veranstaltungen nur Menschen, die selber Gedichte schreiben. Selbst Menschen, die ohne Mühe zehn Seiten aus einem dickleibigen Roman vertragen, wenn der Autor oder die Autorin ansprechend aussieht, verschlägt es nie in eine Dichterlesung. Die Vorstellung, eine Stunde lang nur Gedichte anhören zu müssen, ist offenbar so abschreckend, dass man solchen Veranstaltungen besser fern bleibt.
Warum ist das so? Warum traut man jeder noch so langweiligen Prosa mehr zu als einem Gedicht, das oft in zehn kurzen Zeilen für eine Sekunde den Himmel aufreißt? Ist unsere Welt so prosaisch geworden, so auf die Aussage fixiert, daß der „hohe Ton“, auf den die Poesie gestimmt ist, wie eine Zumutung wirkt? Oder liegt es daran, dass die winzige Minderheit, die für Lyrik überhaupt noch empfänglich ist, mit den Texten lieber allein sein möchte? Wäre dann der Dichter einer, der den eigenen Text beim Sprechen unstatthaft manipuliert?
Fragen über Fragen, deren Beantwortung ins Herz des modernen Menschen trifft, der sich ohne nennenswerten Widerstand dem lautesten Krach aussetzt und nichts dabei findet, wenn seine eigene Sprache buchstäblich untergeht im Lärm. Gegen diesen immer beliebter werdenden Lärm, gegen diesen akustischen Terror spricht das Gedicht an. Ein ungleicher Kampf, David gegen Goliath. Denn das Gedicht bevorzugt ja – in aller Regel – die leisen oder leiseren Tonlagen, und wenn es die Stimme anhebt, wenn es zornig wird oder warnen will, dann sind diese Ausbrüche nur ein winziger Ausschlag im Vergleich zu dem großen Geräusch, das uns immer eindeutiger von der Wahrnehmung der Welt trennt. Gedichte gehen aus der Stille hervor, dem geduldigen Beobachten, und wenn sie zur Sprache kommen, dann ist dies ein so stiller Vorgang, dass man schon genau hinhören muss, um ihn zu bemerken. Dieses konzentrierte Hinhören, dieses Bemerken ist in einer Welt der sich überbietenden Lautstärken vielleicht ein wenig anachronistisch, unmodisch.
Trotz der zeitgenössischen Missachtung der Gattung des lyrischen Sprechens – das die Menschheitsgeschichte von den Anfängen bis heute zuverlässiger begleitet und versorgt hat als alle politische Rhetorik- hat die deutsche Poesie nie aufgehört, diesen Faden, der uns mit den Ursprüngen verbindet, weiterzuspinnen. Und gerade das brutale 20. Jahrhundert hat – von Rilke bis Rühmkorf – eine solche Fülle von Stimmen hervorgebracht, dass die gedruckten Anthologien aus allen Nähten platzen. Es war deshalb an der Zeit, diese authentischen Stimmen zu einem großen Festival zu versammeln. Und alle – oder doch fast alle – sind dem Aufruf gefolgt. Ihre Stimmen steigen auf aus verstaubten Archiven, persönlichen Hinterlassenschaften und den dunklen Kammern der Rundfunkanstalten, um noch einmal, verlegen oder mit Inbrunst, mit Pathos oder frech, ihren Reim auf die Welt zu Gehör zu bringen. Man hört fassungslos und mit nicht nachlassender Freude zu, wie die alten Dichter, deren gedruckte Werke man kennt, über die Stimme einen Körper erhalten, wie die Fotografien von ihnen, die man im Kopf hat, sich beleben und einen Menschen hervortreten lassen, dem es in einer glücklichen Minute seines Lebens eingefallen war, ein unsterbliches Gedicht zu schreiben. Und wie die toten Freunde, mit denen man sein Leben verbracht hat, plötzlich wie früher neben einem sitzen. Ernst Meister zum Beispiel, der als alter Mann mit der Lupe sein „Sage vom Ganzen den Satz“ vom Blatt ablas wie ein ehernes Gesetz. Oder Nicolas Born, der sein Gedicht „Für Pasolini“ vorträgt und sich sofort materialisiert. Weil man zu denen gehört, die ihr Leben lang Dichtern zugehört haben, weil man der Ansicht ist, dass sie gründlicher wahrgenommen haben, wie die Welt in ihren Grundfesten knirscht, ist es eine besondere Freude, diesen im wörtlichen Sinne besonderen Menschen zuzuhören.
Was dieses akustische Lyrikfestival so einmalig macht, ist die Möglichkeit nachzuvollziehen, was ein Dichter aus seiner Sprache heraushört. Denn es sind ja nicht die Worte, die wir genauso gut lesen können, schwarz auf weiß, sondern die Stimme, die den Worten einen Raum gibt, einen Hallraum, der allein durch die Stimme existiert.
Keiner hat sein Ohr so nah an der Stimme wie der Dichter. Denn bevor er seine Worte aufschreibt, hat er sie hundertmal gesprochen. Er hat sie ausgetauscht, versetzt, gebrochen, bis sie jenen Klang erzeugen, bis sie den Ton haben, den er als einzige Wahrheit für sein Gedicht angemessen erachtet. Dieses Suchen und dieses glückliche Finden spiegelt sich in höchster Potenz nur in der Stimme. Gerade metaphorische Zweideutigkeiten, komplizierte grammatische Konstruktionen werden durch die Stimme klar und eindeutig. Nur die Stimme kann rhythmische Besonderheiten verdeutlichen, hörbar werden lassen, die dem nur lesenden Vollzug entgehen. Und ganz besonders, wenn es um die großen Dinge geht, um Gott und die Liebe, die Welt und die Wahrheit, ist es aufschlussreich, was die Stimme des Dichters aus den Worten, der Atmosphäre eines Gedichts macht.
Ja, hier ist die ideale Bibliothek des Ohres entstanden. Müßiggänger können von einer Stimme zur anderen wandern, vom Dialekt zum Hochdeutsch und zum hohen Deutsch. Und jeder, der sich einen Sinn bewahrt hat für die Besonderheiten des Gedichts und die Eigentümlichkeiten der menschlichen Stimme, kommt hier auf seine Kosten. Die Stimme des Dichters wird in dieser Edition zum ersten Interpreten der Dichtung. Wer möchte nicht dabei sein bei diesem größten deutschen Poesiewettbewerb aller Zeiten?
Michael Krüger, Vorwort
ist eine Sammlung von Originaltönen deutschsprachiger Dichterinnen und Dichter, die es in dieser Dimension noch nie gab. Sie ermöglicht Einmaliges: hineinzuhören in die ersten Tonaufnahmen des letzten Jahrhunderts, in seltene Lesungen, in den Klang von Lyrikstimmen aus Vergangenheit und Gegenwart. Beginnend bei Hugo von Hofmannsthal, Stefan Zweig und Kurt Schwitters und endend bei Durs Grünbein, Michael Lentz und Lutz Seiler, kommt hier die Lyrik selbst zu Wort.
Mit Friedrich Achleitner . Ilse Aichinger . Erich Arendt . Hans Arp . H.C. Artmann . Rose Ausländer . Wolfgang Bächler . Ingeborg Bachmann . Johannes R. Becher . Jürgen Becker . Gottfried Benn . Werner Bergengruen . Thomas Bernhard . Marcel Beyer . Johannes Bobrowski . Elisabeth Borchers . Nicolas Born . Bas Böttcher . Volker Braun . Bertolt Brecht . Rolf Dieter Brinkmann . Georg Britting . Christine Busta . Hans Carossa . Paul Celan . Heinz Czechowski . Franz Josef Czernin . Theodor Däubler . Hilde Domin . Kurt Drawert . Albert Ehrenstein . Günter Eich . Adolf Endler . Hans Magnus Enzensberger . Elke Erb . Erich Fried . Günter Bruno Fuchs . Franz Fühmann . Peter Gan . Robert Gernhardt . Elfriede Gerstl . Eugen Gomringer . Günter Grass . Ludwig Greve . Durs Grünbein . Michael Guttenbrunner . Michael Hamburger . Peter Handke . Rolf Haufs . Raoul Hausmann . Manfred Peter Hein . Helmut Heißenbüttel . Günter Herburger . Stephan Hermlin . Hermann Hesse . Hugo von Hofmannsthal . Walter Höllerer . Ricarda Huch . Peter Huchel . Richard Huelsenbeck . Steffen Jacobs . Ernst Jandl . Mascha Kaléko . Marie Luise Kaschnitz . Norbert C. Kaser . Erich Kästner . Alfred Kerr . Rainer Kirsch . Sarah Kirsch . Wulf Kirsten . Thomas Kling . Barbara Köhler . Alfred Kolleritsch . Werner Kraft . Theodor Kramer . Karl Kraus . Karl Krolow . Johannes Kühn . Günter Kunert . Reiner Kunze . Elisabeth Langgässer . Christine Lavant . Wilhelm Lehmann . Michael Lentz . Hermann Lenz . Paula Ludwig . Rainer Malkowski . Friederike Mayröcker . Christoph Meckel . Ernst Meister . Karl Mickel . Franz Mon . Heiner Müller . Helga M. Novak . Albert Ostermaier . Bert Papenfuß . Oskar Pastior . Dirk von Petersdorff . Reinhard Priessnitz . Christa Reinig . Joachim Ringelnatz . Gerhard Rühm . Peter Rühmkorf . Nelly Sachs . Robert Schindel . Friedrich Schnack . Raoul Schrott . Kurt Schwitters . Lutz Seiler . Jürgen Theobaldy . Ernst Toller . Christian Uetz . Guntram Vesper . Georg von der Vring . Jan Wagner . Peter Waterhouse . Josef Weinheber . Franz Werfel . Anton Wildgans . Paul Wühr . Albin Zollinger . Stefan Zweig
der Hörverlag, Ankündigung
Lyrikstimmen – Die Bibliothek der Poeten
– Gedichte sind eben für Ohren gemacht: Wer dem ganzen Jahrhundert deutscher Dichterstimmen zuhört, kann die Poesie erst wirklich als Echoraum des Lebens vernehmen. Ulrike Draesner rezensiert die Originalaufnahmen-Anthologie Lyrikstimmen. –
Die Stimme ist ein unheimliches Instrument. Man moduliert, schmeichelt, schimpft und hat doch, die Augen des anderen spiegeln es, etwas ausgedrückt, was man keinesfalls sagen wollte. Das zwanzigste Jahrhundert entdeckte Ohr und Stimme neu: Die Epoche der Aufzeichnungen begann. Gleich verstand man sich auf Experimente, nahm die Ohrmuscheln eines Menschen in Gips ab und setzte sie einem anderen auf. Das Ergebnis: Er hörte, verstand aber nicht. So empfindlich ist unsere akustische Wahrnehmung kalibriert. Das Gehirn weiß, wie Schall die eigenen Ohren entlangläuft und dort gebrochen wird. Wird etwas verändert, muss man das Verstehen neu lernen. Und darf staunen über gesprochene Worte, ihre Schwingungen, Verkettungen, den Reim, den Sinn.
Hören und staunen: 420 Gedichte, gelesen von ihren 122 Autoren. Die Aufnahmen stammen aus hundert Jahren, die Herausgeber haben sie akribisch in Radio- und Tonarchiven zusammengestellt, Annoncen aufgegeben, gesucht. Entstanden ist ein einzigartiges Tondokument, das exklusiv aus authentischem Material besteht. Jene, die mit den geschriebenen Gedichten vertraut sind, überrascht es in fast jedem Vers; jenen, die Gedichte ansehen wie überflüssige Blüten der Literaturgeschichte, öffnet es Auge und Ohr.
Bereits 1907 bat man Hugo von Hofmannsthal vor die neue Technik. Die älteste Aufnahme der Sammlung schnarrt, doch Hofmannsthal scheint vorm Aufzeichnungstrichter nicht gefremdelt zu haben. Vor ihm liest Alfred Kerr – die Anthologie ist nach den Geburtstagen der Autoren, nicht nach Aufnahmedaten geordnet. Das führt zu interessanten Ungleichzeitigkeiten bei biographischer Altersnähe. Kerrs Aufnahme etwa stammt zum größeren Teil aus dem Jahr 1947. Schon hier zeigt sich, was den akustischen Gedichtreigen besonders spannend macht. Man hört immer doppelt, den Zeitgeist und die sprechende Persönlichkeit. In der Stimme des Exilanten Kerr klingt das alte Pathos des frühen zwanzigsten Jahrhunderts nach. Das letzte Gedicht ist Tochter Puppi gewidmet, kräftig fährt ihm da die Rührung in die Stimme, er denkt an den eigenen Tod und kann kaum zu Ende lesen.
Ein Medieneffekt, ein Fehler? Heute schnitte man das. Kerrs Stimm-Bruch ist sentimental, doch auch eindringlich. Man spürt eine gewisse Mediennaivität – und ahnt zugleich, wie sehr man von den Sprech- wie Hörkonventionen der eigenen Zeit eingeengt wird. Die Stimme ist auch Modegerät, eigen- und fremdbestimmt, gefärbt von den zeitgenössischen Gewohnheiten des Sprachgemeinwesens, dem der Text angehört. Über Gefühlsausdruck, über Ironie, Trotz, Wut, Pathos, Coolness, Kitsch lässt sich hier, dem eigenen Hören nachlauschend, wunderbar nachdenken.
Die gesprochenen Gedichte sind Reisen in die Deutlichkeit. Welch Pathos zu Beginn: Dem Liebesgedicht von Ricarda Huch folgt eine Flut männlichen Singens von Blut und Welterlösung. Die Gedichte belegen anfangs ein nahezu unheimlich ungebrochenes Verhältnis zu einst „großen“, bis heute verbrauchten Wörtern wie Heimat oder Seele. Wer zuhört, lernt aus dem Vorbeifliegen eines Gedichts mehr als aus langen historischen Ausführungen, auch weil sich die Herausgeber bemüht haben, unterschiedlichste Stilrichtungen aufzunehmen. Die Gleichzeitigkeit eines Arp oder Schwitters, der seine „Anna Blume“ mit rollendem „R“ „Frauenzimmer“ ruft, bevor er sich auf die wilde, hörenswerte Reise in seine „Ursonate“ begibt, die er ruft, singt und in der Kehle quirlt bis zum Vogelton, die Gleichzeitigkeit dieser Sprachformen mit den Balladen eines Bert Brecht und dem einzigen Tondokument des Nazidichters Josef Weinheber spricht Bände für sich.
Man entdeckt, wie sich über Jahrzehnte hinweg Ketten zwischen den Dichtern bilden, Anregungen und Abstoßungen. Kriegs- und Botschaftsreime, Wortverdreh- und Lautgedichte. Hausmann und Pastior sind, selbstverständlich, verwandt. Zwischen den Reihen- und Grammatikgedichten Mons und Rühms erklingt die grottig-heitere Stimme von Priessnitz, ihr schließen sich der Klingsche Schnarrton an, die schweizerisch gefärbte Vortragskunst von Christian Uetz und der Lentzsche Energiestoß „Poesie“. Munter wird gereimt, geholpert, gestolpert, im Dialekt gesprochen, gebrochen und radebrecht, wie die Kunst es nur hält, und von Jandl zu Gernhardt gemopst. Man ist ironisch, müde, pathetisch, abgehoben, spielerisch, komisch, scharf entspannt, „noch Seher oder schon Spanner?“ (Rühmkorf). Den Medienprofi Benn, der schon in den zwanziger Jahren das neue Radio enthusiastisch begrüßte, hätte ich gern mit Gedichten aus dieser Zeit gehört. Nun liest er Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre, ganz ohne Knattern und mit schichtiger Stimme, und gleich versteht man, warum er ein so erfolgreicher telefonischer Frauenberater war.
Hie und da raunt es, hie und da ist ein Autor wohl nur mehr von historischem Interesse. Das steht der Anthologie nicht schlecht: schließlich hört man nur, was man hört, wenn man auch anderes hört. Einer der Höhepunkte hier: Herr Becher trägt ein Verherrlichungsgedicht auf Stalin vor, bei Stalins Beerdigung. Ein Fund, der zeigt, wie die Stimme die neue Zeit mit überalterten rhetorischen Mitteln beschwört, wie sie härter wird von Vers zu Vers und sich am Ende fast überschlägt.
Nach dem Hören dieser Anthologie wird man Gedichte anders lesen. Für viele sind Autoren grauweiße Fotos in Literaturgeschichten. Hier geht das anders: Berlin, Preußen, Bayern, Hamburg, Wien, die Schweiz und mehrere Deutschlands melden sich. Und jedes Mal zeigt sich der einmalige, konkrete Mensch, der der Autor war. Ja, er hatte eine Stimme. Er lebte.
So schrecklich, heißt es, habe Celan 1952 beim Treffen der Gruppe 47 gelesen, dass er „durchfiel“. Das kann man sich, bezogen auf den Hörkontext der frühen fünfziger Jahre, nun ansatzweise vorstellen. Celan liest aber großartig. Seine Stimme ist – wer öfter hört, entdeckt es – voller Tore. Da entsteht jedes Gedicht vielfach, indem man es gelesen hört.
Christine Lavant hingegen sprach vollgesogen wie ein Schwamm und fuhr mit huschenden Bewegungen über die Zeilen. Schön, dass ein Tondokument dieser erst vor einigen Jahren wiederentdeckten Dichterin aus dem österreichischen Lavanttal gefunden wurde. Überhaupt ist auffallend, wie gut es gerade den Dichterinnen gelingt, ihre Texte intim und berührend vorzutragen. Kaschnitz liest auch 1958 ganz ohne falsche Pathosnähe. Ein Schlüssel: Rose Ausländers bukowinisches „R“, überraschend die kräftig-zarte Stimme der Mascha Kaléko, die Gedichte zum Leuchten bringt. Da bedauert man, dass sich unter den 122 Autoren nur zwanzig Frauen finden. Gewiss, Dichtung geht nicht nach Zahlen, und auch bei den Männern fehlt der eine oder andere Name. Aber so frauenarm ist die deutsche Dichtungslandschaft zum Glück nicht, und wenn auch von den Älteren Tondokumente fehlen mögen (ich denke an Hertha Kräftner, Inge Müller, Emmy Hennings, Else Lasker-Schüler), so trifft das auf Zeitgenossinnen wie Ursula Krechel, Anne Duden, Evelyn Schlag, Brigitte Oleschinski, Kathrin Schmidt oder Dorothea Grünzweig, um nur einige zu nennen, nicht zu.
Daraus folgt: Das schöne Projekt ruft nach Erweiterung. Das ist das beste Kompliment. Den Herausgebern gebührt aller Dank insbesondere für das Abenteuer, das sie uns eröffnen. Das Leben der Stimmen ist ein Schatz: irritierend schön.
Michael Hamburger spricht. Als Kind musste er Nazideutschland verlassen, so wurde er englischer Dichter. Er liest seine Gedichte doppelt: erst auf Englisch, dann die Übersetzung ins Deutsche. Es ist einer der berührendsten Momente dieser Bibliothek: Hamburgers Stimme lässt die Gebrochenheit seines Lebenswegs hören. In ihren Färbungen klingen eine ferne Kindheit und die politischen Verwerfungen des Jahrhunderts wider. Spätestens nun weiß man es zu schätzen: Gedichte sind für Ohren gemacht, von lebendigen Menschen für lebendige Zuhörer, durch die Zeiten hindurch. Die Stimme, das heimliche Instrument, verbindet uns.
– Was für eine Literatur-Jukebox! Das Hörbuch Lyrikstimmen bringt einige der besten Gedichte deutscher Sprache, gelesen nicht etwa von Schauspielern, sondern von den Autoren selbst: Bachmann, Benn, Brecht. Die älteste Aufnahme stammt aus dem Jahr 1907 – es spricht Hugo von Hofmannsthal. –
Gerade erst erschienen – und schon ein Standardwerk: Neun neue CDs mit einer Gesamtlaufzeit von weit mehr als 600 Minuten bringen einige der besten deutschen Gedichte der vergangenen 100 Jahre zum Sprechen. Und es spricht nicht irgendwer: Der Münchner Hörverlag hat sich in einem mehrjährigen Mammutprojekt weltweit auf die Suche gemacht nach den Originalstimmen der Lyriker, hat Autoren und Erben angeschrieben, Rundfunkarchive und Antiquariate durchwühlt, Suchanzeigen in internationalen Tageszeitungen geschaltet.
Mit Erfolg: Das Hörbuch Lyrikstimmen versammelt 420 Gedichte von 122 Dichtern, aufgenommen in den Jahren 1907 bis 2007, herausgegeben von der Lektorin Christiane Collorio und den Dichtern und Schriftstellern Peter Hamm, Harald Hartung und Michael Krüger. Mit dabei sind unter anderem Lyrikvorträge von Joachim Ringelnatz, Hermann Hesse, Gottfried Benn, Bertolt Brecht, Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Thomas Bernhard, Robert Gernhardt, Durs Grünbein und Albert Ostermaier.
Der eine oder andere große Name taucht nicht auf, zum Beispiel Else Lasker-Schüler, Kurt Tucholsky und Klabund. Von ihren Gedichtvorträgen wurden entweder nie Aufnahmen gemacht – oder aber sie wurden in den Kriegs- und Nachkriegsjahren zerstört, wenn nicht gar achtlos überspielt.
Erst in den zwanziger Jahren wurde es zur gängigen Praxis, Dichter bei ihren Lesungen aufzuzeichnen, so dass die älteste Aufnahme des Hörbuchs eine Rarität ist: „Manche freilich“ von Hugo von Hofmannsthal aus dem Jahr 1907. Ebenso ein Schatz, nicht nur ein akustischer: Die Vorträge „Bibelszenen“ und „Geflüster“ von Thomas Bernhard, die offenbar nicht nur die einzigen Lyrikaufnahmen des österreichischen Eigenbrötlers sind, sondern bislang auch in Schriftform unveröffentlicht waren.
Manche der älteren Aufnahmen rauschen, auch die Art des Vortrags ist selten so professionell wie die eines Schauspielers. Und dennoch bleibt man dran, wenn den Text diejenigen sprechen, die den Text nicht nur geschrieben, sondern durchlebt haben. Nicht was sie sagen, steht plötzlich im Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern wie sie es tun: wie laut, wie schnell, wie pathetisch, in welchem Rhythmus, mit welchem Dialekt. Und so wird der Klang ihrer Stimmen zur Interpretation aus erster Hand – der Ton macht die Musik.
Natürlich weiß ein gutes Gedicht mehr als sein Autor, das weiß jeder Erstsemester, aber der Autorenvortrag ist dann doch bezwingend auratisch und authentisch. Für den Verlag könnte das zum Erfolgsrezept werden: Authentizität kommt zurzeit ja irgendwie immer gut.
– Ein großartiges Hörbuch: Lyrikstimmen versammelt 420 Gedichte auf 9 CDs. Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Karl Kraus, Hugo von Hofmannsthal – im Originalton. –
Dialekte sind schön, aber manche Dialekte können Pathos zersetzen. Insofern ist es gut, dass Schiller lange vor der ersten Tonaufnahme starb. Hörten wir den Schwaben heute „Die Götter Griechenlands“ aufsagen, käme uns wahrscheinlich eher Marbach am Neckar als der Olymp in den Sinn. Schiller kam davon.
Sein schwäbischer Landsmann Hermann Hesse nicht. Wir besitzen O-Töne. 1944 sprach Hesse sein Gedicht „Stufen“ ein. Heute kann man es auf CD kaufen – zusammen mit 419 anderen Gedichten, die von ihren Schöpfern vorgelesen werden. Neun CDs umfasst das Hörbuch Lyrikstimmen – Bibliothek der Poeten, das im Münchner Hörverlag erschienen ist. Der Reiz liegt gerade darin, das so oft gelesene, schon zerlesene Gedicht vom Dichter selbst einmal zu Gehör gebracht zu bekommen. Vielleicht öffnet die Stimme eine neue Interpretationswelt?
Ja, Schwaben. Die Zufallsauswahl des CD-Players fällt zunächst auf Hesse:
Wie jede Blüte welkt
und jede Jugend dem Alter weicht,
blüht jede Lebensstufe,
blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Da! Der Doppelvokal. Tsaaaiiiit! Waaaishaaaiiit! Was auch immer nun noch kommen mag an Abschied, Neubeginn und Jambus, man kann’s fast nicht mehr ernst nehmen. Die sehr getragene Art des Lesens, dieser Theaterton, der ist uns heute fremd. Wer sagt eigentlich noch Gedichte auf?
Die Lyrikstimmen sind vom Hessischen Rundfunk zum Hörbuch des Jahres 2009 gewählt worden. Völlig zu Recht, der editorische Aufwand hat den Verlag über Jahre beschäftigt. Die Mitarbeiter haben während der Recherche nach den Originaltönen Rundfunkarchive durchsucht, Anzeigen in Zeitungen geschaltet und Etliches mehr. So mancher Schatz wurde dabei gehoben; Thomas Bernhard liest beispielsweise zwei bisher unveröffentlichte Werke.
Während die 420 Gedichte am Ohr vorbeiziehen, könnte man mit dem Auto von Wien nach Hamburg fahren, so lange dauert das. Der älteste Ton stammt denn auch von einem Wiener und aus dem Jahr 1907. Hugo von Hofmannsthal trägt „Manche freilich“ vor. Es kracht und rauscht und plätschert. Es hört sich an, als hätte es während der Aufnahme im Studio aus Kübeln gegossen. Charmant. Hofmannsthals Stimme – ein hoher Bariton:
Manche freilich müssen drunten sterben,
Wo die schweren Ruder der Schiffe streifen,
Andre wohnen bei dem Steuer droben,
Kennen Vogelflug und die Länder der Sterne.
Von der Leichtigkeit des Daseins dieser anderen weiß der Vortrag nichts. Ebensowenig wenig vom Leid der Erstgenannten. Hofmannsthal klingt durchgängig pathetischer als ein gesungenes Auferstehungsevangelium am Ostersonntag. Überhaupt hat sein Vortrag etwas Litaneiartiges. Die Vokale so lang, die Tonhöhen so gleich. Das kontrastive Gedicht wird nicht kontrastiv vorgetragen. Es wird ästhetizistisch verklärt und damit vom Dichter selbst im Vortrag interpretiert.
Das Gegenteil von Verklärung kommt dann auf CD 2. Dort ist Dada. Kurt Schwitters singt „An Anna Blume“ (von hinten wie von vorne) und brilliert in seiner „Ursonate“. Dieses Lautgedicht lässt sich hörend nur genießen, im Ohr zergeht es besser als auf der Zunge:
Fümms bö wö tää zää Uu, pögiff, Kwii Ee.
Und weiter:
Dedesnn nn rrrrr, Ii Ee, mpfiff tillff too, tillll, Jüü Kaa?
Schwitters war der Laut die kleinste Einheit des Gedichts, nicht das Wort. Vielleicht macht sich die Ursonate vorgetragen deshalb so gut, weil sie wie ein Musikstück strukturiert ist? So ein echter Sonatenhauptsatz sagt dem Laien auf Papier auch nicht viel, er muss es klingen hören.
Der ernste Höhepunkt einer bisweilen sehr lustigen Sammlung ist ein Gedicht, das im Titel nicht eine Sonate, sondern eine Fuge trägt. Paul Celan scheint im Vortrag von 1958 die Verse seines Gedichts „Todesfuge“ in einem Crescendo von zwei Minuten und neunundvierzig Sekunden erst zu gebären. Die schwarze Milch der Frühe, der Meister aus Deutschland, sein blaues Auge, Margarete und Sulamith, die blitzenden Sterne. Viel ist diskutiert worden über den Widerstreit von Schrecken und Schönheit in diesem Text. Celan bringt beides zusammen. Er artikuliert einen Widerspruch und artikuliert sich widersprüchlich. Weich und hart. Leise und laut. Wütend und sanft. Auch Paul Celans Vortrag erinnert an Musik.
Deswegen ist den Lyrikstimmen Großartiges gelungen. Lyrik, das war doch die Gattung, deren Name von der Lyra stammt, diesem antiken Zupfinstrument. Texte, die sich singen lassen, genau die hat der Hörverlag zusammengetragen. Bevor Menschen Literatur aufgeschrieben haben, haben sie Verse aufgesagt und vorgesungen. Das tun die Dichter für uns wieder. Gottfried Benn, Karl Kraus, Ingeborg Bachmann, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker, Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger, Michael Lentz und viele mehr. Und bei fast jedem lässt sich ein Dialekt erraten.
– Die Anthologie zum Hören bietet eine Sammlung von deutschsprachigen Gedichten aus den letzten 100 Jahren. Sie werden von den Autorinnen und Autoren wie Ingeborg Bachmann oder Michael Lentz selbst gelesen. Lyrikstimmen wurde als Hörbuch des Jahres 2009 ausgezeichnet. –
Manche freilich müssen drunten sterben, wo die schweren Ruder der Schiffe streifen.
Keine Frage, ein Dichter spricht, und was da so rauscht und knarzt, ist die Vergangenheit selber. Die Aufnahme stammt nämlich aus dem Jahre 1907 und ist das erste lyrische Tondokument überhaupt. Hugo von Hofmannsthal rezitiert hier sein berühmtestes Gedicht „Manche freilich“. Seine Stimme klingt, als käme sie von einem anderen Stern und würde durch einen Zeittunnel direkt an unser Ohr gebeamt.
Ganz vergessener Völker Müdigkeiten kann ich nicht abtun von meinen Lidern.
Aufnahmen wie diese, die aus den Anfängen des letzten Jahrhunderts stammen, sind wahre Fundstücke. Auch wenn der hohe Ton des Vortrags heutzutage befremden mag, kommt beim Hören doch fast so etwas wie Aura auf. Ob Alfred Kerr oder Ricarda Huch, Hermann Hesse – ihre Stimmen transportieren nicht nur Moden ihrer Epoche in die Gegenwart, expressionistisches Stimmentheater, grundiert vom gewittrig grollenden „R“, das seinerzeit alle Bühnen beherrschte:
Erheitert sich doch das Gemüt durch die Aussicht, es könne künftig besser werden
Sie tragen obendrein im Pathos dieses Singsangs, in dem sogar der Spötter Karl Kraus sprach, das Selbstverständnis des Dichters vor sich her: Der gefällt sich da noch in seiner altbewährten Rolle, als Seher, Prediger und moralische Instanz, während Kabarett und Nonsense-Poesie mit Ringelnatz’ Kuddel Daddeldu schon keck an der Stimmungsschraube drehen.
Die Badewanne prahlte sehr, sie hielt sich für das Mittelmeer. Und ihre eine Seitenwand für Helgoländer Küstenland… Sie war – nicht wahr, das merken Sie? Sehr schwach in der Geographie.
Mit Haupt- und Seitenwegen fächern die Lyrikstimmen das ganze Jahrhundert auf. Sie veranschaulichen poetische Umbrüche und Traditionslinien, formale Experimente und dadaistische Negationen. Auch Politisches aller Art verschafft sich Gehör. Der Formen sind mannigfache. Manche, wie die Sprachartistik eines Ernst Jandl, oder Oskar Pastior sind besonders von der Vortragskunst ihrer Autoren abhängig. Dass diese ihre Vorbilder bei Kurt Schwitters und Hans Arp suchten, ist bekannt. Weniger geläufig aber ist, wie der bildende Künstler Raoul Hausmann den sprachlichen Klang schon gegen jeden Wortsinn ausspielt.
Wie die Lyrik nicht nur mit solchen Spielen ihr traditionelles Erb-Gen variiert, ihre nahe Verwandtschaft zur Musik, auch dies macht die akustische Lyrikkollektion aufs Schönste sinnfällig. Erlebt man hier doch weitaus mehr als die physikalische Stimme eines Autors. Man hört klangvolle Wortpartituren, weil Autoren so lesen wie sie schreiben, man hört Stimmungen, biographische Eigenarten und mundartliche Färbungen, immer auf dem basso continuo des jeweiligen Zeitgeistes. Kurzum: hörend erlebt man mehr als der Leser der Gedichte je erfahren könnte.
Einsamer nie als im August:
Erfüllungsstunde – im Gelände
die roten und die goldenen Brände,
doch wo ist deiner Gärten Lust?
(…)
Wo alles sich durch Glück beweist
und tauscht den Blick und tauscht die Ringe
im Weingeruch, im Rausch der Dinge –:
dienst du dem Gegenglück, dem Geist.
Zugegeben, es gibt bessere Vorleser als Gottfried Benn, wenn er seine Weltfluchtsapotheose vorträgt. Man hätte sich das schärfer und weniger sentimental gewünscht, genauso hartgekocht und kalt und ausgenüchtert, wie es dem Bild entspricht, das sich die Welt von „Big Benn“ macht. Dass uns hier stattdessen ein altersmilder, leicht berlinernder Zeitgenosse entgegentritt, entbehrt nicht der Komik, wie überhaupt der Reiz dieser akustischen Bibliothek auch in ihren überraschenden Konstellationen liegt.
Da sie nach Geburtstagen der Autoren, nicht nach Erscheinungsjahren der Gedichte oder Aufnahmedaten geordnet ist, ergeben sich spannungsreiche Nachbarschaften.
Hinter der Trommel her
trotten die Kälber
Das Fell für die Trommel liefern sie selber.
Der Metzger ruft. Die Augen fest geschlossen
das Kalb marschiert mit ruhig festem Tritt.
Hart im Raum stoßen sich die Balladen Brechts mit dem einzigen Tondokument des Nazidichters Josef Weinheber, Johannes R. Bechers Ode an Stalin trifft auf Hans Arps böse Posse „Kaspar ist tot“. Natürlich fehlt auch einiges in dieser wunderbaren Edition: Morgenstern und Rilke etwa, Stefan George und Else Lasker-Schüler, von denen keine Originaltöne aufzuspüren waren. Gefunden hingegen wurde die einzige Lyrik-Aufnahme des noch jungen Thomas Bernhard, der in fast makellosem Hochdeutsch engelssanft zwei bisher unveröffentlichte Gedichte vorträgt.
Erfinde eine Klage über mir und stampfe mich in den Winter.
Es gibt Stimmen, die immer wieder befremden, wie die taumelnd tonlose von Ingeborg Bachmann und es gibt solche, die sich mit professioneller Lust ins Wortgetümmel werfen wie die von Rühmkorf, Artmann oder Michael Lentz.
Ende gut – Frage. Kann ich irgendetwas für dich tun, kann ich etwas für dich tun, kann ich was tun?
Kein Zweifel: Die „100 Jahre Lyrik im Originalton“ sind ein Klangporträt erster Güte und ein Glück für alle, für Liebhaber von Gedichten genauso wie für Lyrikneulinge.
Allein schon die über 420 Aufnahmen von Gedichten zu sammeln ist schon eine besondere Leistung und in dieser Edition ein außergewöhnliches Geschenk. Denn hier sind Originalaufnahmen von insgesamt 122 Dichtern und Dichterinnen aus 100 Jahren versammelt! Die Aufnahmequalitäten sind naturgemäß recht unterschiedlich und beispielsweise bei dem ältesten Stück von Hugo von Hofmannsthal nur schwer zu verstehen. Diese Anstrengung lohnt sich aber, da hier die Originalverfasser/-innen ihre persönlichen Werke vortragen und somit auch ein Zeitdokument erklingt.
Gerade jüngere Menschen werden erstaunt sein, mit welcher Stimmlage und Satzbetonung die einzelnen Gedichte vorgetragen werden.
Sicher werden hier auch einige Dichter/-innen entmystifiziert; denn bei einigen mag der Vortragsstil einfach nicht gänzlich überzeugen mit dem Inhalt. Trotzdem wird man sich an den allermeisten der Vorträge erfreuen; zumal man die meisten Originalstimmen überhaupt nicht kennt.
Ob nun Mascha Kaléko, Ricarda Huch, Nelly Sachs, Rose Ausländer, Marie Luise Kaschnitz oder Hilde Domin: sie werden genauso faszinieren wie auch Bertolt Brecht, Erich Kästner oder der ungewöhnliche Vortragsstil von Joachim Ringelnatz.
Aber die Anthologie hat keinen allein antiquarischen Charakter, sondern versteht es blendend, auch viel jüngere Schriftsteller/-innen einzubeziehen.
So fehlt Durs Grünbein genauso wenig wie auch Friederike Mayröcker, Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger oder Christoph Meckel bei den Dichtern/-innen, die noch in jüngster Zeit veröffentlichen.
Wer aber nicht nur die Stimmen hören mag, der wird sich über die Auswahl der Lyrik besonders freuen. Altbekanntes und Neueres stehen hier ausgewogen nebeneinander, so dass es eine ausgewogene Mischung von Entdecken und Wiederhören gibt.
Vielen Menschen aus der Schulzeit oder aus anderen Anlässen bekannte Werke wie „Im Nebel“ (Hermann Hesse), „Die Moritat von Mäckie Messer“ (Bertolt Brecht), „Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühen“ (Erich Kästner) oder „Hiroshima“ (Marie Luise Kaschnitz) erfahren hier noch einmal eine Renaissance.
Neben den Aufnahmen selbst überzeugt aber auch der gut durchdacht gestaltete Aufbewahrungskarton mit insgesamt neun CDs, die meist jeweils über einstündige Aufnahmen verfügen. Diese Box ist stabil und vom Äußeren her mit einzelnen Portraits und in klaren Farbstrukturen gehalten. Die CDs sind alle einzeln in Klarsichthüllen verpackt. Zudem liegen zwei booklets bei, die zum einen die Inhalte der jeweiligen CDs benennen und andererseits komprimierte, alphabetisch geordnete Kurzbiographien der Dicher/-innen enthalten sowie kleinere Essays zu Werk und Interpretation sowie zum Lesen und Hören von Gedichten.
So erhält man ganz nebenbei eine fundierte Anthologie deutscher Lyrik mit zahlreichen Zusatzinformationen und Interpretationshilfen.
Diese Sammlung eignet sich sowohl für Deutschlehrer/-innen als auch für Lyrik-Liebhaber/-innen und wird hoffentlich mit dazu beitragen, dass Schriftsteller/-innen bei Autorenlesungen ein aufmerksames und zahlreicheres Auditorium vorfinden.
Diese Bibliothek der Poeten LYRIKSTIMMEN stimmt vollends gut auf Lyrik ein, stimmt von Preis, Qualität und Gestaltung her und wird die Stimmung für Poesie zu heben verstehen! Es ist zu wünschen!
Vielleicht hatten sie auch immer schon einmal die Idee oder den Wunsch die Stimme eines berühmten Dichters hören zu können, beispielsweise die von Erich Kästner, von Hermann Hesse, Berthold Brecht, Robert Gernhardt, Thomas Bernhard, Kurt Tucholsky, Ricarda Huch oder Ingeborg Bachmann. Jetzt haben sie die Gelegenheit dazu, denn der Hörverlag hat nach fünfjähriger Arbeit zur Frankfurter Buchmesse 2009 dieses faszinierende Zeitdokument herausgebracht. Herausgeber, die Dichter und Schriftsteller Michael Krüger, Harald Hartung, Peter Hamm und Christiane Collorio, haben unter dem Titel Lyrikstimmen eine unglaubliche Anthologie zusammengestellt. 122 der wichtigsten Dichterinnen und Dichter der letzten hundert Jahren aus dem deutschsprachigen Raum sind auf diesen neun CDs versammelt. Die älteste Aufnahme von Hugo von Hofmannsthal stammt aus dem Jahre 1907. Insgesamt werden 420 Gedichte von ihren Verfassern vorgetragen. Die ersten Tonaufnahmen aus den frühen Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts berauschen weniger, als dass sie rauschen. Häufig spürt man die Unsicherheit der Autoren mehr als die Kunst des Vortrags und trotzdem ist es ein Faszinosum den Text von dem gesprochen zu hören, der ihn auch geschrieben oder durchlebt hat.
Authentizität, Interpretation aus erster Hand, dadurch zeichnen sich diese Tondokumente aus, die auch gleichzeitig ein Spiegel ihrer Zeit sind. Aufwendige Recherche und weltweite Archivfunde in Rundfunkarchiven und Antiquariaten machen es möglich das diese großartige Edition, die ungeheure Entwicklung des lyrischen Vortrags, wie er heute perfektioniert ist, von seinen Anfängen her nachzeichnet. In dem unverwechselbaren Pathos merkt man Mentalität, Deklamationsart und Redestil der jeweiligen Epoche. Bei einigen Aufnahmen wird man unangenehm an die Nazizeit erinnert und dann merkt man auch, wie sich nach dem Kriegsende der Deklamationsstil total verändert hat. Mit erschütterter „Grabesstimme“ wollten die Dichter und Denker dem aufmerksamen Publikum scheinbar erklären, wie Ernst es wirklich um unsere Welt bestellt ist.
Fazit: Ein Mammutwerk das nicht verhehlt, der eine oder andere Dichter ist wirklich kein guter Vorleser, wenn er seine Verse in Schülermanier brav aufsagt, hinausschreit oder vorliest. Eine wahnsinnige Arbeit haben sich die Herausgeber da gemacht. Unter dokumentarischen Gesichtspunkten ist ihnen ein Meisterwerk gelungen, ein absolutes Muss für jeden Lyrikliebhaber, für den einen oder anderen eine ideale Einstiegsdroge, die bei manchen Rezitationen den Wunsch aufkommen lässt das dann lieber lesen zu wollen.
Diese Sammlung von insgesamt neun CD’s ist ein editorisches Meisterwerk, das nach Angaben der Herausgeber mehr als fünf Jahre Recherchearbeit gekostet hat. Über 1.000 Einzelrechte an den auf diesen CD’s zu hörenden Aufnahmen waren abzuklären, ehe der Hörverlag zur Veröffentlichung schreiten konnte.
Für jeden Freund der Lyrik des 20. Jahrhunderts werden diese Originalaufnahmen eine große Freude sein, geben sie ihm doch die Möglichkeit, insgesamt 420 Gedichte zu hören, die von ihren VerfasserInnen selbst vorgetragen werden. Die ältesten Aufnahmen dieser Edition stammen – rauschend und fremd – aus dem Jahr 1907 und sie reichen dann bis in die aktuelle Neuzeit. Seltene, bislang unveröffentlichte Aufnahmen sind dabei, doch der kundige Hörer wird beim Durchhören auch feststellen, dass ganze Abschnitte der Lyrik und Dichter leider für immer verloren sind, zumindest was die akustische Umsetzung betrifft.
Es bewahrheitet sich auch hier erneut, was man bei Lesungen von Schriftstellern und Poeten immer wieder feststellen kann: sie sind nicht immer ihre besten Interpreten. Doch so wie bei einer Lesung das Zusammenspiel zwischen dem Text und dem lesenden Autor das eigentlich Verzaubernde ist, wenn es jedenfalls gelingt, so sind auch bei diesen Aufnahmen die Stimmen der meist längst verstorbenen Poeten ein eindrucksvolles Erlebnis und die CD-Sammlung präsentiert sich als eine wohl Jahrzehnte überdauernde Anthologie der Lyrik eines Jahrhunderts, das nicht nur viele Gedichte hervorbrachte, sondern auch unzählige verbrannte und ihre Dichter gleich mit ihnen.
Für alle Freunde von Gedichten ein wunderbares Geschenk.
Katja Stopka: Archiv der Poeten
zeithistorische-forschungen.de, Heft 2, 2011
Manfred Orlick: Über 100 Jahre Lyrik und Prosa im Originalton
literautrkritik.de, August 2022
Elke Heidenreich stellt Lyrikstimmen in Lesen! vor.
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