Mahmoud Darwisch: Palästina als Metapher

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Mahmoud Darwisch: Palästina als Metapher

Darwisch-Palästina als Metapher

WER SEINE GESCHICHTE ERZÄHLT, ERBT DAS LAND DER ERZÄHLUNG

– Gespräch mit dem libanesischen Dichter Abbas Beydoun. Das Gespräch erschien 1995 in der Zeitschrift Al-Wasat (London) und der arabischen Literaturzeitschrift Masharif (Haifa/Jerusalem). –

Abbas Beydoun: Lassen Sie uns mit Ihrem letzten Buch beginnen. Ihr Vater, dem man in Ihrer Dichtung sonst selten begegnet, wird darin mit dem Weggang und der Vertreibung aus Palästina in Verbindung gebracht. Im Gegensatz zu Ihrer Mutter, die dauerhaft in Zeit und Raum verwurzelt ist. Warum hast du das Pferd seiner Einsamkeit überlassen? – so der Titel dieser Gedichtsammlung – vermittelt das Gefühl, daß Sie sich der Autobiographie annähern, und es finden sich in diesem Band zahlreiche Bezüge auf wirkliche Begebenheiten. Das bietet uns einen ganz natürlichen Anlaß, über Ihre Kindheit zu sprechen.

Mahmoud Darwisch: Väter haben wir im Verlauf der Geschichte viele gehabt, während es immer nur eine einzige Mutter gab. Die Identität der Väter hat sich verändert, die der Mutter ist dieselbe geblieben. Das Land meiner Geburt ist, wie Sie wissen, ein Ort des Zusammentreffens von göttlichen Botschaften, Zivilisationen und Kulturen, Propheten und Invasoren. Aber ihnen allen ist gemeinsam, daß sie nur vorübergehende Gäste gewesen sind, ganz gleich, wie lange ihr Aufenthalt gedauert hat. Und so ist auch der „Vater“ nie ein einziger ein für allemal und für immer, im Unterschied zur Mutter, die – auch wenn man sie nicht auf diese eine Metapher reduzieren darf – den Gedanken der physischen und historischen Kontinuität verkörpert. Von daher rührt die Kraft unserer kulturellen Verbindung zur „Mutter Erde“.
Außerdem gehöre ich einer Generation an, die ihre leiblichen Väter für den Weggang und das Exil verantwortlich macht. Die Väter, unsere Väter, haben in der Verteidigung unseres Landes versagt. Wir stellen ihnen immer noch Fragen darüber, und unsere Bindungen bleiben wegen dieser Gespräche voller Vorwürfe zwiespältig. Gleichzeitig bewahrt die Mutter ein ideales, aus der Ära früherer Mutterschaften überkommenes Bild. Das ist die wenn auch ein wenig verkürzte Erklärung für meine Haltung zu Vater und Mutter.
Alles in allem stimmt es, daß das Buch Warum hast du das Pferd seiner Einsamkeit überlassen? sich meiner Autobiographie annähert und daß ich darin meine Vergangenheit neu zusammensetze. Aber ich versehe den Vater und die Mutter mit Kennzeichen, die über ihre bloßen Eigenschaften als meine Eltern hinausweisen – symbolischen Bezügen auf den Ort, die Kultur und das Menschliche überhaupt.
Ich stamme aus einem bäuerlichen Milieu. Meine Familie besaß ein wenig Land. Sie arbeitete auf ihm und lebte von seinen Erzeugnissen. Meine Kindheit ist erfüllt von ländlichen Bildern. Mein Vater war ausschließlich mit dem Boden und der Abfolge der Jahreszeiten beschäftigt und in einem solchen Grad von seiner Arbeit in Anspruch genommen, daß er uns als mit seinem Boden eins geworden erschien. Er ging morgens weg, kehrte nicht vor Einbruch der Nacht zurück und überließ uns, meine Brüder und mich, der Obhut meines Großvaters, der uns verwöhnte, mit uns spazierenging, mit uns die Nachbardörfer besuchte. Mein Großvater war also mein eigentlicher Vater.

Beydoun: Der Name Ihrer Mutter ist Houriya.

Darwisch: Houriya, meine Mutter, war eine sehr schöne Frau. Sie arbeitete ebenfalls auf dem Feld. Sie stammte nicht aus unserem Dorf, sondern aus dem Nachbardorf, in dem ihr Vater Bürgermeister war. Als ich älter wurde, habe ich meine Eltern gefragt, wie sie geheiratet haben. Ihre Heirat war so traditionell, wie man es sich nur denken kann. Mein Großvater hatte sich aufgemacht, eine Frau für seinen Sohn zu suchen, und man sagte ihm, der Bürgermeister des Nachbardorfes habe eine Tochter im heiratsfähigen Alter. Er ging hin und hielt für seinen Sohn um ihre Hand an. Angeblich haben meine Eltern geheiratet, ohne einander zuvor überhaupt gesehen zu haben, was ich allerdings bezweifle. Ich stelle mir vor, daß es ihnen doch gelungen ist, vorher einige heimliche Blicke auszutauschen.
Ihre Beziehung war von Reibereien und Streitigkeiten gekennzeichnet, vor allem, nachdem meine Familie von ihrem Land vertrieben, von ihm abgeschnitten worden war und wir in äußerst schwierigen Verhältnissen lebten.
Die Wutanfälle meiner Mutter hinterließen einen bleibenden Eindruck bei mir, während mein Vater ständig über den Verlust seiner Erde jammerte. Wenn sie stritten, floh ich oft aus dem Haus, obwohl ich auf der Seite meines Vaters stand, denn er war versöhnlich und außerordentlich sensibel. Meine Mutter dagegen war regelrecht grausam. Sie schlug mich ohne Grund. Oft hatte ich das Gefühl, daß sie dabei ihre Streitigkeiten mit meinem Vater abreagierte, als ob sie die Verantwortung dafür auf mich abladen wollte. Am Ende war ich mir sicher, daß meine Mutter mich haßte. Es war fast ein Komplex. Ich habe meinen Irrtum erst eingesehen, als ich das erste Mal im Gefängnis war. Ich war sechzehn Jahre alt. Meine Mutter besuchte mich und brachte mir Kaffee und Obst. Sie schloß mich in die Arme und bedeckte mich mit Küssen. Da habe ich begriffen, daß sie mich nicht haßte. Damals habe ich mein Gedicht „Ich sehne mich nach dem Brot meiner Mutter“, ein Gedicht der Versöhnung mit ihr, geschrieben. Und als ich später meine Familie verließ, um in Haifa zu leben, erkannte ich, daß ich ihr Lieblingssohn war. Nicht weil ich der beste, sondern weil ich der abwesende Sohn war.

Beydoun: Waren Sie der Älteste von Ihren Brüdern und Schwestern?

Darwisch: Nein, der Zweitälteste. Und das war schwierig für mich. Der Älteste ist der Schützling des Vaters, der Jüngste der der Mutter. Und der in der Mitte steht zwischen ihnen.
In Warum hast du das Pferd seiner Einsamkeit überlassen? erzähle ich zum Teil die Geschichte unserer Familie, aber es handelt sich dabei nicht nur um eine Biographie, denn unsere Geschichte zeigt auch etwas von einer kollektiven Geschichte, ohne daß ich das bewußt beabsichtigt hätte.

Beydoun: 1948 sind Sie von Palästina in den Libanon gegangen. Sie haben dort eine Weile gelebt und sind dann nach Palästina zurückgekehrt. Was haben Sie von Ihrem Aufenthalt im Libanon im Gedächtnis behalten?

Darwisch: Bilder. Vielleicht auch eine Erfahrung. Aber die Bilder sind in meiner Erinnerung viel ausgeprägter als die Erfahrung. Im Libanon habe ich das erste Mal einen Wasserfall zu Gesicht bekommen. Ich hatte vorher noch nie einen gesehen. Ich wußte nicht, was ein Wasserfall ist. Ich habe die Äpfel an den Bäumen gesehen, während ich bis dahin davon überzeugt gewesen war, daß die Äpfel in ihren Kisten wachsen. Für meinen Großvater war die Reise in den Libanon eine Art touristische Unternehmung, und tatsächlich verwandelte sie sich in einen Ferienaufenthalt.

Beydoun: Ihr Großvater ist mit Ihnen gereist?

Darwisch: Er war es, der die Reise veranlaßt hat. Wie praktisch die Gesamtheit der Palästinenser war er davon überzeugt, daß das Exil nur vorübergehend sein würde. Nichts weiter als eine kurze Abwesenheit, um den arabischen Armeen freies Feld zu lassen und dann wieder in unser Land zurückzukehren. So haben wir einige Monate in dem kleinen Dorf Jezzin verbracht. Dann kam der Winter, und ich habe zum ersten Mal Schnee gesehen. Wir gingen dann nach Damour, das nur einige Kilometer von der Hauptstadt entfernt ist. Ich erinnere mich an die Straßenbahnen von Beirut. Ich erinnere mich, daß wir an der Küste von Damour gebadet haben. Zahlreiche Erinnerungen, zahlreiche Bilder verbinden mich mit dieser Zeit. Im Libanon habe ich auch das erste verletzende Wort gehört.

Beydoun: Welches?

Darwisch: Flüchtling. In der Schule wurde ich bei der geringsten Meinungsverschiedenheit mit einem Schüler als Flüchtling abgestempelt. Um nicht zu ungerecht gegenüber den Libanesen zu sein, muß ich hinzufügen, daß ich dieses Wort auch gehört habe, nachdem wir heimlich über die Grenze nach Palästina zurückgekehrt waren. Wir haben es aus dem Munde von Dorfbewohnern vernommen, bei denen wir Zuflucht gesucht hatten, denn wir sind nicht in unser eigenes Dorf zurückgegangen. Meine Klassenkameraden behandelten mich als Flüchtling, weil ich besser war als die anderen Schüler.

Beydoun: Sie haben Ihr Dorf, Barwa, nicht mehr wiedergefunden. Ist es vollständig verschwunden?

Darwisch: Es wurde nach unserer erzwungenen Abreise von der Landkarte ausradiert. Man hat an seiner Stelle zwei Siedlungen gebaut; die eine für jüdische Einwanderer aus Europa, die andere für Immigranten aus dem Jemen.

Beydoun: Was bedeutet, daß Sie Palästina verloren haben, selbst nachdem Sie dorthin zurückgekehrt sind?

Darwisch: Ich habe mein persönliches Heimatland nicht wiedergefunden. Und auch nicht meinen persönlichen Ort. Der erste Ort meines Lebens ist gleich nach unserer Abreise beseitigt worden. Das ist der Grund, weshalb ich, wenn ich meine Geschichte erzähle, zwangsläufig eine kollektive Geschichte wiedergebe, nämlich die von ganz Palästina. Aber lassen wir diese Betrachtungen über das Persönliche und das Kollektive, über das „Ich“ und die „Gruppe“. Das Schicksal wollte es, daß meine individuelle Geschichte sich mit einer kollektiven Geschichte vermischt und daß mein Volk sich in meiner Stimme wiedererkennt.

Beydoun: Hatten Sie, so jung wie Sie damals noch waren, schon ein Bild vom israelischen Juden?

Darwisch: Ich habe meinen ersten Israeli direkt nach unserer „Infiltration“ aus dem Libanon gesehen. Wir wohnten zusammen mit den Eltern in einem anderen Dorf. Wir schliefen zu fünft in einem Zimmer. Mitten in der Nacht kam ein israelischer Offizier herein und weckte meinen Großvater auf, um ihn zu fragen, wie er ins Land gekommen sei. Er machte mir keine Angst, denn er war liebenswürdig. Das ist ein erstes Bild. Das nächste Bild war anders. Ich trug als Kind auf dem Schulfest ein patriotisches Gedicht vor. Ein Offizier bestellte mich zu sich, drohte mir und behandelte mich auf äußerst grobe Weise. Aber die beste unter meinen Lehrern war eine jüdische Lehrerin, während der Schuldirektor und der Englischlehrer wenig Begeisterung erweckten. Und natürlich war auch mein erster Gefängniswärter Jude… Ich sage das alles, um Ihnen klarzumachen, daß ich vielfältige Bilder vom israelischen Anderen habe.

Beydoun: Was ist mit dem Bild vom „Feind“?

Darwisch: Das Bild war von Anfang an menschlich, vielfältig und unterschiedlich. Ich habe keine einheitliche und ein für allemal feststehende Sicht vom Anderen. Ich hatte jüdische Lehrer, meine Verfolger waren ebenfalls Juden. Die Frau, die mich liebte, war Jüdin. Die, die mich haßte, ebenfalls.

Beydoun: Können wir über Ihre Liebe zu dieser Jüdin sprechen?

Darwisch: Das können wir.

Beydoun: Ist sie in Ihrer Poesie präsent?

Darwisch: Sie ist präsent. Aber zu wissen, wie eine Liebe entsteht… Das kann man nicht erklären. Vielleicht ist es einfach Zufall. Das Begehren, die zärtliche Anziehung – so entsteht die Romanze. Die israelische Gesellschaft ist, verglichen mit der mehr traditionellen arabischen Gesellschaft, westlich und offen. Es war nicht leicht, eine Liebesbeziehung zu einem arabischen Mädchen anzuknüpfen. Meine erste Liebe war eine Araberin, aber unsere Beziehung bestand aus einem Briefwechsel! Ohne daß wir uns jemals begegnet sind. Ein Brief nach hier, ein Brief nach da. Ich war so glücklich, wenn sie meinen Brief bekam, ebenso, wenn ich ihre Antwort erhielt. Aber die erste Liebesbeziehung, die diesen Namen verdient, hatte ich mit einer Jüdin.

Beydoun: War diese Beziehung zwiespältig?

Darwisch: Unvermeidlicherweise. Diese Art von Beziehung war zwangsläufig zwiespältig, besonders die Beziehung zu den Eltern der Geliebten, auch wenn ihre Reaktionen entsprechend ihrer unterschiedlichen Herkunft, Bildung und Weltanschauung verschieden waren. Ich war in ein Mädchen verliebt, deren Vater Pole und deren Mutter Russin war. Die Mutter hat mich akzeptiert, der Vater hat mich abgelehnt, und zwar nicht nur deshalb, weil ich Araber bin. Damals fühlte ich mich übrigens nicht die ganze Zeit als Objekt eines Rassismus oder eines aus dem Innersten kommenden Hasses. Es war der Junikrieg von 1967, der alles umwälzte. Er setzte sich, bildlich gesprochen, zwischen beiden Körpern fest, er verschärfte die Unvereinbarkeit bis ins Unbewußte hinein. Stellen Sie sich vor, Ihre Freundin ist Soldatin einer Besatzungsarmee, die die Mädchen Ihres Volkes in Nablus und Jerusalem verhaftet. Das bedrückt einem nicht nur das Herz, sondern auch das Gewissen. Der Krieg von 1967 hat Liebesbeziehungen zwischen arabischen jungen Männern und jüdischen jungen Frauen einen Riegel vorgeschoben.

Beydoun: Haben Sie in Ihrem Innersten gespürt, daß diese Liebe nicht vollständig sein konnte?

Darwisch: Ja.

Beydoun: Wegen des Krieges oder auch abgesehen von ihm?

Darwisch: Selbst ohne den Krieg hätte diese Liebe nicht glücklich sein können. Sie konnte nicht in die Tiefe gehen. Was dann bleibt, sind Neigungen, Begierden, Gefühle, aber ohne Horizont. Und das liegt an dem sozialen und kulturellen Unterschied. Die andere Gesellschaft akzeptiert den Araber nur schwer. Wir sind in ihren Augen die Fremden.

Beydoun: Das Bild vom Feind konnte somit niemals völlig verschwinden.

Darwisch: Nein. Es konnte nicht verschwinden. Aber Frauen verstehen es, solchen Gedanken auszuweichen.

Beydoun: Haben Sie jemals eine ganz tiefe Beziehung gehabt, die diese Idee vom Feind völlig ausgeschlossen hat?

Darwisch: Ich habe mich immer sehr bemüht, die menschlichen Komponenten einer Beziehung und ihre ideologischen Aspekte miteinander zu versöhnen. Ob der Widerspruch sich entspannte oder verschärfte, hing vom Gang der Ereignisse ab. Aber am Ende bin ich immer in einer Sackgasse angelangt. Es war unmöglich, in einer glücklichen Liebe aufzugehen. Die Realität verschärfte die Spannungen, führte zu Streitigkeiten. Die Idee des Feindes war schon in die Beziehung eingedrungen; der Mann und die Frau umschlangen einander, aber der Feind kauerte unter ihrem Bett.

Beydoun: Er ist auch der Feind der Liebe.

Darwisch: Er ist der Feind der Liebe. In einem meiner ersten Gedichte, „Eine schöne Frau in Sodom“, sage ich: „Und jeder tötet den anderen hinter dem Fenster.“ Das Bewußtsein war zerrissen. Es blieb nur die leidenschaftliche Seite der Liebe. Ein intimer Teil, der von der Liebe den Waffenstillstand der Körper stahl. Aber es genügte, aus seinem Körper herauszutreten, um der Idee des Feindes auf der Straße zu begegnen.

Beydoun: Was bedeutete es, daß nur der Körper sich von den äußeren Gegebenheiten befreien und zur Einheit gelangen konnte?

Darwisch: Der Körper war nur in einem Wald oder einem geschlossenen Zimmer unabhängig, nicht auf der Straße und im offenen Tageslicht.

Beydoun: Aber die Dinge liegen verschieden, je nachdem, ob der Andere als Individuum oder als Repräsentant einer Gruppe wahrgenommen wird.

Darwisch: Gewiß verhält es sich anders, wenn jeder den Anderen in seiner Eigenschaft als Individuum wahrnimmt. Ich hatte zahlreiche jüdische Freunde. Aber im entsprechenden Augenblick werden die Individuen immer von ihrer Gemeinschaft an die Ordnung erinnert. Einer meiner besten Freunde war mein jüdischer Nachbar. Er ist am Vorabend des Junikrieges 1967 zu mir gekommen, um sich zu verabschieden, mir zu versichern, daß der Krieg unausweichlich kommen würde, und um mir einen Pakt vorzuschlagen. Jeder von uns sollte den anderen schützen, je nachdem, ob der Krieg von den Arabern oder von den Israelis gewonnen würde. Ich würde ihn beschützen, wenn die ägyptische Armee in Haifa einmarschieren würde, und er würde mich beschützen, wenn die Israelis den Krieg gewännen. In meinem Gedicht „Ein Soldat, der von weißen Lilien träumt“ habe ich die Geschichte dieses Freundes erzählt, der nach dem Krieg zu mir kam, um mir seine Entscheidung mitzuteilen, Israel für immer zu verlassen. Er wollte kein Rädchen in einer Kriegsmaschine mehr sein. Er war ein Humanist, und seine Erziehung war von Pluralismus und Offenheit geprägt. Mit idealistischen Ideen nach Israel gekommen, fand er heraus, daß die Realität ganz anders aussah. Und so ist er fortgegangen. Das Gedicht beschreibt ihn folgendermaßen: Ein einzelner, der sich in sich selbst zurückzieht, der seine Individualität von seiner Gruppe wieder an sich zieht, aber der Druck des Kollektivs ist dennoch mächtig und hart.
Besonders die Medien übten damals einen sehr starken Einfluß aus. Die Israelis glaubten auf eine religiöse Art an das, was sie in ihren Zeitungen lasen. Das ging so weit, daß, wenn einer von ihnen in einer Diskussion in die Enge getrieben war, er als letzte Waffe das Argument vorbrachte: Aber es steht doch in der Zeitung… Und wer auch immer begann, ein Bewußtsein zu erlangen und seine Sicht vom palästinensischen Anderen zu revidieren, wurde von der riesigen Maschine des Bildungssystems und der Medien in sein Ghetto heimgeholt, das Ghetto des Eroberers.

Beydoun: Sie haben gerade von dem „Fremden“ gesprochen. Das ist ein Thema, das in Ihrer Poesie ständig wiederkehrt. Woher kommt das?

Darwisch: Der Begriff des „Fremden“ kann auf mehreren Ebenen gefaßt werden. Die erste besteht ganz einfach darin, daß wir in unserem eigenen Heimatland als Fremde behandelt werden. Die siegreiche und herrschende jüdische Mehrheit ist der Auffassung, daß wir uns nicht in unserer Heimat befinden, sondern in ihrem Land, das sie nach zweitausend Jahren des Exils wiedergewonnen hat. Eine weitere, ebenfalls ganz einfache Ebene ergibt sich für mich aus der Tatsache, daß ich mich nicht mehr in meinem Dorf befinde, das nicht mehr existiert, sondern bei unseren arabischen Nachbarn, Das ist ein Exil im Innern ein und derselben Gesellschaft, im Rahmen ein und derselben Identität. Und schließlich gibt es einen komplexeren Begriff des Fremden, der dem menschlichen Leben als solchem innewohnt.
Wir sind alle Fremde auf dieser Erde. Seit seiner Vertreibung ist Adam ein Fremder auf dieser Erde, auf der er vorübergehend seine Wohnstatt aufgeschlagen hat, während er darauf wartet, ins ursprüngliche Eden zurückkehren zu können. Die Vermischung der Völker, ihre Wanderungen sind nichts anderes als die verschlungenen Wege von Fremden. Sogar der Frieden verwirklicht sich nur in dem Maße zu bestimmten Zeiten der Geschichte, in dem er das Wiedererkennen von Fremden durch andere Fremde ist, so daß es letztlich für die einen wie für die anderen unmöglich wird zu wissen, wer von ihnen eigentlich der Fremde ist. Ich unterscheide in meiner Poesie zwischen dem Fremden und dem Feind. Der Fremde ist nicht ausschließlich der Andere. Er ist auch in mir. Ich spreche nicht von ihm, um mich über ihn zu beklagen oder den Anderen zurückzuweisen. Er ist in mir.

Beydoun: Er ist eine der Bezeichnungen des Ich?

Darwisch: Vielleicht. Und selbst da, wo das nicht der Fall ist, ist der Begriff des Fremden weniger fern von mir, weniger kategorisch als der des Anderen.

Beydoun: Gibt es ein einheitliches Konzept vom Anderen?

Darwisch: Meine Poesie enthält unterschiedliche Ebenen des Ich, des Anderen und des Fremden. Aber selbst in der extremsten Spannung des Konzepts, das heißt, wenn seine Verwendung auf den Feind abzielt, lehne ich niemals die Unterschiedlichkeit ab. Denn auch in diesem Fall gestatte ich dem Feind, eine Stimme zu haben und sich auszudrücken.

Beydoun: Ich möchte gerne für einen Augenblick auf Ihre Kindheit zurückkommen. Wie steht es mit Ihrer dichterischen Erziehung? Kommen Sie aus einer Familie von Dichtern?

Darwisch: Weder von Dichtern noch von Schriftstellern; jedenfalls, was den augenblicklichen Stand meiner Kenntnisse über den Familienstammbaum betrifft!

Beydoun: Wie sind Sie zur Dichtung gekommen?

Darwisch: Ich weiß es nicht. Ich habe einmal versucht herauszufinden, wer mich aus der Familie während meiner Erziehung der Poesie hätte näherbringen können. Mir ist meine Mutter eingefallen. Sie haßte Hochzeiten und ging auch nie zu ihnen hin. Aber sie versäumte keine einzige Beerdigung. Ich habe sie einmal während einer Beisetzung wehklagen hören. Ich habe sie Worte sagen hören, die reine Poesie waren. Wenn man glaubt, daß die Poesie erbliche Ursprünge hat, würde ich sagen, daß die Worte meiner Mutter und selbst die Augenblicke ihres Schweigens der Nährboden meiner Poesie sind. Dessen ungeachtet war es mein älterer Bruder, der mir geholfen hat, der mich an die Hand genommen und über meine im Entstehen begriffene Dichtung gewacht hat. Er war es, der mich ermutigte, meine ersten stammelnden Versuche zur Dichtung ernst zu nehmen.

Beydoun: Ist er Schriftsteller?

Darwisch: Nein, aber er ist es gewesen.

Beydoun: Es gibt also doch Schriftsteller in Ihrer Familie.

Darwisch: Aber er hat das Schreiben aufgegeben und sich damit begnügt, mich zu ermutigen. Meine ersten Lehrer haben mir ebenfalls geholfen.

Beydoun: Könnten Sie uns von Ihrer ersten Lektüre erzählen?

Darwisch: Ich habe mich zunächst zu den Volksdichtern hingezogen gefühlt, den Hochzeitsdichtern und den Dichtern der spontan entstehenden Wortgefechte des Zajal.

Beydoun: Zu den Wechselgedichten der Dichter des „Zajal“?

Darwisch: Das war nach unserer „Infiltration“ aus dem Libanon. Ich erinnere mich an ein Haus am Rande des Dorfes, wo jede Nacht ein Sänger hinkam, der seine Geschichte erzählte. Seine Stimme war melodiös und seine Dichtung schön. Bei Tagesanbruch verschwand er dann, denn er wurde von der israelischen Polizei gesucht. An diesen Sänger habe ich in meinem Gedicht „Die Erde“ gedacht: „Der Sänger sang vom Feuer und den Fremden, und der Abend war der Abend.“ Diesem von der israelischen Armee verfolgten Mann hörten wir des Nachts zu, und am Tag verschwand er. Er erzählte seine Geschichte eines Gejagten auf der Flucht; von der Suche nach seinen Angehörigen; wie er die Berge emporkletterte und in die Täler hinabstieg. Da habe ich erkannt, daß Worte die Wirklichkeit in sich tragen, ihr sogar gleichkommen können.

Beydoun: Was war für Sie damals die Dichtung?

Darwisch: Die, der ich während unserer Zusammenkünfte in diesem Haus zuhörte: die volkstümlichen Heldenerzählungen insgesamt, zum Beispiel die von Antar.
Diese Heldensagen sprudelten über vor Poesie. Die Stimme des Erzählers nahm mich gefangen, ohne daß ich verstand, warum. Ich war ein Kind, das zuhörte und hingerissen war. In der Schule habe ich dann gelernt, daß Dichtung nicht nur erzählt, sondern auch geschrieben wird. Auf diese Weise entdeckte ich die Gedichte, die in unserem Lehrplan vorgesehen waren. Das waren Auszüge aus den Muallaqat, von Mutanabbi, von Jarir, von Farazdaq. Aber meine ersten Vorbilder waren die andalusische Poesie und die Dichtung der syrisch-libanesischen Emigration in Amerika, des Mahjar. Aus dem einfachen Grund, weil sie leicht zu imitieren waren. Später wurden meine Verbindungen zur Dichtung direkter, das heißt, ich fing an, mir die Werke von Dichtern zu besorgen.

Beydoun: Schreiten wir ein wenig in der Zeit voran. Sind Sie auch von Stimmen der Gegenwartsliteratur beeinflußt worden? Zum Beispiel von Nizar Kabbani?

Darwisch: Ganz bestimmt.

Beydoun: Wie weit ging dieser Einfluß?

Darwisch: Die Dichter meiner Generation in Palästina haben die zeitgenössische arabische Dichtung nicht wirklich verfolgt. Diese Dichtung erreichte uns nur sporadisch. Wir waren kein Teil ihres Publikums, das in der übrigen arabischen Welt sehr bedeutend war. In den fünfziger Jahren drangen Teile dieser Dichtung allmählich auch zu uns vor. Das geschah indirekt, auf dem Weg über die Kritiken, die wir in den Zeitungen, den Zeitschriften und der Handvoll in die Universität eingeschmuggelter Bücher lasen. Von daher waren uns zwei wichtige Stimmen bekannt, nämlich die von Sayab und Bayati. Nicht zu vergessen die Stimme Kabbanis, die jedoch in ihrem Verhältnis zur modernen Poesie zwiespältig blieb.
Wie viele meiner Generation bewunderte ich die dichterische Sprache Nizar Kabbanis, seine Fähigkeit, die Beziehungen zwischen den Menschen und Dingen zum Tanzen zu bringen. Und so blieb uns seine Stimme im Gedächtnis. Aber es war vor allem die Modernität Sayabs und Bayatis, die unsere Verbindung zur zeitgenössischen arabischen Dichtung herstellte. Zunächst dominierte die Stimme Bayatis. Das hatte übrigens politische Gründe. Die Parteien der Linken haben sehr dazu beigetragen. Aber diejenigen, die stärker auf die dichterische Ästhetik achteten, zogen Sayab vor. Wir haben ein wenig zwischen diesen beiden Stimmen hin- und hergeschwankt, aber die Vorherrschaft der Linken und des revolutionären Gedankenguts begünstigte Bayati. Der Blickwinkel, von dem aus man die Poesie und die Kultur überhaupt sah, ging von dem Prinzip aus, daß sie im Dienst des Volkes und der Revolution stehen sollten. Die Stimme Bayatis überdeckte alle anderen. Wir, die Palästinenser in Israel, lebten damals in einer wahrhaften Hölle und konnten an nichts anderes denken. Einige Zeit später machte ich mich mit der Poesie Sayabs vertraut, und dieser hatte für mich dann den Vorrang vor Bayati. Aber unter meinen Freunden zog eine große Zahl weiterhin letzteren vor. Die spätere Dichtung habe ich erst nach meinem zweiten Weggang aus Palästina kennengelernt.
Ich habe noch nicht erwähnt, daß wir außerdem für zwei große aus Ägypten kommende Stimmen empfänglich waren, nämlich die von Abd al-Muti Hijazi und Salah Abd al-Sabur, Diese vier Namen, und dazu Nizar Kabbani, schufen für uns ein erstes Bewußtsein von dem, was jenseits der kulturellen Mauern vor sich ging, hinter denen man uns isoliert hielt. Aber wie ich bereits gesagt habe, sind die wirkliche Kenntnis, das Zuhören, die grundlegenden Entscheidungen erst später gekommen.

Beydoun: Haben Sie sich denn an den Avantgarde-Erfahrungen der Zeitschrift Shir beteiligt? Haben Sie ein Echo davon gespürt?

Darwisch: Nein, nein. Wir waren vollauf mit politischen Aktionen beschäftigt, waren Träger eines revolutionären Projekts. Unsere dichterischen Alternativen waren diesen Imperativen untergeordnet. Aus diesem Grund blieb uns die Erfahrung der Zeitschrift Shir völlig unbekannt.

Beydoun: Sie wußten nicht einmal von der Existenz dieser Zeitschrift?

Darwisch: Nicht einmal das. Oder sagen wir, wir wußten nicht, worum es sich dabei handelte. Was aber nicht verhinderte, daß die Stimme eines der Teilnehmer dieses Abenteuers uns erreichte. Damit meine ich jetzt Muhammad al-Maghut. Aber ich erinnere mich nicht mehr, auf welchem Weg sein Werk zu uns kam.

Beydoun: Was stellte Maghut zu jener Zeit für Sie dar?

Darwisch: Wir bewunderten ihn. Das Vermögen seiner Sprache, die Wirklichkeit zu transformieren, erschien uns als etwas Neues. Wir waren regelrecht besessen von der Notwendigkeit, uns von den traditionellen poetischen Vorbildern zu befreien, und daher für alle neuen Erfahrungen empfänglich. Und die Stimme Maghuts hallte unter uns wider wie eine Stimme der Gegenwart.

Beydoun: Wann haben Sie Maghut entdeckt?

Darwisch: In den sechziger Jahren. Wir hielten uns außerdem über die Tendenzen in der Poesie überhaupt auf dem laufenden, die der Entwicklung unseres Bewußtseins und unserem Geschmack entsprachen: Nazim Hikmet, Louis Aragon, Pablo Neruda, genauer gesagt, ihre Poesie des Widerstands.

Beydoun: Haben Sie sich mit diesen Dichtern identifiziert?

Darwisch: In gewisser Weise. Gleichzeitig mochte ich von den ausländischen Schriftstellern zu einer bestimmten Zeit Aleksandr Blok am meisten.

Beydoun: War Ihnen Ihre Kenntnis des Hebräischen in diesem Bereich hilfreich?

Darwisch: Wir haben Hebräisch zur selben Zeit wie Arabisch gelernt, das heißt vier Jahre, bevor wir begannen, Englisch zu lernen. Es war also normal, daß wir Hebräisch konnten.

Beydoun: Ihre Freunde unter den Schriftstellern behaupten, Sie seien der Beste in Hebräisch gewesen.

Darwisch: Alle in meiner Generation sprechen Hebräisch. Die hebräische Sprache war für uns ein Fenster, das in zwei Welten hinausführte.
Zunächst einmal die der Bibel. Ein grundlegendes Buch, ungeachtet all dessen, was wir in seinem Namen erduldet haben. So habe ich die Psalmen gelesen, den Gesang der Gesänge, das Buch Exodus, das Buch Genesis. Diese Texte bilden ein unverzichtbares Gerüst für jeden, der sich mit Kultur befassen will.
Dann die Welt der übersetzten Literatur. Es gab damals eine sehr aktive Bewegung zur Übersetzung ins Hebräische. García Lorca habe ich zuerst auf hebräisch gelesen, ebenso Neruda. Und Sie werden erstaunt sein, wenn ich Ihnen sage, daß ich auch die griechischen Tragödien zuerst auf hebräisch gelesen habe. Ich kann nicht umhin, meine Schuld gegenüber dem Hebräischen anzuerkennen, was meine Entdeckung der ausländischen Literatur angeht.

Beydoun: Was hat die hebräische Poesie, die Poesie der hebräischen Sprache für Sie bedeutet?

Darwisch: Wir waren hin- und hergerissen zwischen den Dichtern, die auf unserem schulischen Lehrplan standen, und denen, die wir selbst als unsere Meister anzuerkennen beschlossen. Klassische Poeten wie Chaim Bialik standen auf dem Lehrplan, und wir mußten ihre Gedichte auswendig lernen. Parallel dazu interessierte ich mich für die moderne hebräische Dichtung, und Bialik verabscheute ich nicht. Ich mochte seine einfältige und ideologische Nostalgie nicht, aber das wurde durch meinen Wunsch nach Beherrschung der hebräischen Sprache ausgeglichen. Außerdem war ich mehr mit der Sprache als mit der Botschaft der Klassiker der hebräischen Dichtung befaßt. Bialik verfügt über kein ästhetisches Projekt, seine Poesie ist ideologisch. Er arbeitet ausschließlich an der Verwirklichung des zionistischen Traums. Aber die Nostalgie Bialiks zielt auf einen sehr präzisen Ort, eben jenes Land, wo ich heute lebe. Der Ort ist ein und derselbe, und seine Merkmale sind die gleichen. Genau diese Zweideutigkeit habe ich bei dem größten zeitgenössischen hebräischen Dichter, Yehuda Amichai, wiedergefunden. Seine Gedichte über diesen Ort könnten, wenn man die Identität des Autors nicht kennt, das Werk eines Juden oder das eines Arabers sein. Ganz ohne Unterschied.

Beydoun: Ist es lediglich der Ort, der ein und derselbe ist? Gibt es nicht auch ein imaginäres Gemeinsames des Exodus, ein Gemeinsames von Gefühlen, die mit Exil und der Entfremdung verbunden sind?

Darwisch: Die Nostalgie und das Exil sind in der gesamten klassischen Poesie präsent. Die moderne hebräische Dichtung befaßt sich mit diesen Themen nicht. Sie spricht vom Ort selbst, seinem Wesen und versucht, dem Glanz des Mythos zu entkommen, um sich dem alltäglichen Leben zu nähern. Das ist es, was mich bei Amichai anzieht. Er wendet sich entschieden vom Mythos ab. Er versucht, eine Ästhetik zu begründen, indem er von einfachen Elementen des Ortes, eines gewöhnlichen menschlichen Lebens ausgeht. Seine Erforschung des Bekannten und des Banalen verzaubert mich. Er schreibt außerhalb der klassischen Traditionen des Hebräischen. Indem er gegen den Reim, gegen das Skandieren rebelliert, schafft Amichai eine Poesie, die sich ständig erneuert.

Beydoun: Innerhalb des Themas Palästina gibt es drei große Angelpunkte: die Erde, das Meer, die Geschichte. Sie entfalten Palästina zwischen diesen drei Fixpunkten: der bäuerlichen Erde, dem Meer der Odyssee und schließlich der Geschichte.

Darwisch: Sie sind tatsächlich essentiell in der palästinensischen Poesie, in meiner jedenfalls. Die Erde, um die es sich hier handelt, ist nicht immer die Palästinas, ganz so, als hätten die Grenzen sich verwischt. Sämtliche Grenzen: die, welche die Länder voneinander trennen, die, welche die Menschen trennen, die zwischen den von den Besatzern beschlagnahmten Ländereien, die der Identitäten. Ich persönlich versuche, all diese Dimensionen miteinander zu vermischen, sie zu bestimmten Augenblicken in einer von mir beabsichtigten, gleichsam mystischen Einheit verschmelzen zu lassen. Einer Einheit des Geschaffenen, in der die Frau, die Mutter und die Geliebte eins sind, in der die Unterschiede zwischen dem Menschen und der Erde in einem Glanz der Heiligung und Verehrung verschwinden. Später kam auch noch der Augenblick des plötzlichen Aufbruchs, nicht nur aus dem Heimatland, sondern auch aus dem Land an der Grenze zum Meer, in die Heimatlosigkeit.

Beydoun: Spielen Sie damit auf den Weggang aus dem Libanon 1982 an?

Darwisch: Ja. Ich habe entdeckt, daß die Erde zerbrechlich ist und das Meer gewichtslos; ich habe verstanden, daß die Sprache und die Metapher nicht ausreichen, um dem Ort einen Ort zu geben. Der Anteil der Geographie an der Geschichte ist stärker als der Anteil der Geschichte an der Geographie. Nachdem ich meinen Platz auf der Erde nicht finden konnte, habe ich versucht, ihn in der Geschichte zu finden. Und die Geschichte läßt sich nicht auf eine Entschädigung für die verlorene Geographie reduzieren. Sie ist ebenso ein Ort, von dem aus man Schatten, Schatten des Selbst und des Anderen beobachten kann, die in einer viel komplexeren menschlichen Entwicklung begriffen sind. Die Geschichte hat in mir den Sinn für Ironie geweckt. Und das erleichtert die Bürde der Sorge um das Nationale. Man begibt sich so auf eine absurde Reise. Ist dies nur eine künstlerische List, handelt es sich bloß um etwas Geborgtes? Ist es im Gegenteil die Verzweiflung, die hier Gestalt annimmt? Die Antwort hierauf ist vollkommen unwichtig. Das Wesentliche ist, daß ich auf diese Weise eine größere lyrische Fähigkeit und einen Weg vom Relativen zum Absoluten gewonnen habe; einen Ausgangspunkt, um sprachlich das Nationale ins Universelle zu transformieren, damit Palästina sich nicht auf Palästina beschränkt, sondern seine ästhetische Legitimität in einem viel weiter gefaßten menschlichen Raum begründet.

Beydoun: Jeder, der Ihr Werk verfolgt, wird bemerken, daß Palästina darin mehr und mehr die Rolle eines Alibis spielt. Als ob das Thema Palästina zu immer etwas weniger Palästinensischem würde.

Darwisch: Ich glaube, daß Palästina in seiner Funktion als Alibi der Poesie nicht allein dasteht. Was uns zu der grundlegenden Frage führt: Wo lebt die Poesie? Im Sujet, das sie behandelt, oder in ihrer ästhetischen Unabhängigkeit in bezug auf ihr Sujet? Ich glaube, daß das Thema Palästina, das gleichzeitig Einforderung und Versprechen von Freiheit ist, Gefahr läuft, sich in einen poetischen Friedhof zu verwandeln, wenn es sich in seinem wörtlich genommenen Text, in die Grenzen, die vom Selbst und dem Anderen gebildet werden, in dem vom historischen Augenblick umrissenen Raum einsperrt. Anders gesagt, wenn das poetische Projekt nicht seine eigene Bestrebung, sein eigenes Ziel verhehlt, das letztlich in nichts anderem besteht als in der Erfüllung der Poesie. Daraus ergibt sich mein Postulat, daß jedes Sujet, selbst wenn es sich dabei um ein geheiligtes Palästina handelt, letztlich ein Alibi ist.
Aufgabe des Dichters ist es, seine persönliche Ästhetik hervorzubringen. Wenn diese offen genug ist, wird sie dem Heimatland einen Horizont geben; wenn sie dagegen beschränkt ist, findet sich die Heimat in einer Zwangsjacke wieder. Ein Heimatland läßt sich nicht auf das reduzieren, was es objektiv ist. Denn die Poesie öffnet das Heimatland auf die menschliche Unendlichkeit, vorausgesetzt, es gelingt dem Dichter, sie so weit zu entwickeln. Dazu muß der Poet seine eigenen Mythen entwickeln. Damit meine ich nicht den Mythos, der aus einem anderen, bereits bekannten Mythos entsteht, sondern den, der aus der Erschaffung des Gedichts, aus seiner Form und aus seinem Universum selbst geboren wird, den, der die konkrete Sprache in die dichterische Sprache transformiert.

Beydoun: Beziehen Sie sich hier auf das Gelobte Land der Israelis, während die palästinensische Poesie die Erde in einen Mythos, eine totalisierende historische Metapher, eine andalusische Metapher verwandelt?

Darwisch: Was das betrifft, müssen einige Nuancen genauer gefaßt werden. Es besteht ein Unterschied zwischen dem im Bewußtsein der Israelis bereits verankerten Mythos und jenem, der im Bewußtsein der Palästinenser erst noch Form annehmen muß. Mit dem Verschwinden unseres Landes fanden wir uns plötzlich in die Vor-Genesis zurückversetzt. Und unsere Dichter haben demzufolge, ausgehend von jener mythischen Genesis des Anderen, unsere eigene Genesis schreiben müssen. Denn man muß sich klar darüber sein, daß Palästina bereits geschrieben worden ist. Der Andere hat dies bereits auf seine Weise getan, auf dem Wege der Erzählung einer Geburt, die niemand auch nur im Traum bestreiten wird. Einer Erzählung der Schöpfungsgeschichte, die zu einer Art Quelle des Wissens der Menschheit geworden ist: der Bibel. Was konnten wir von diesem Ausgangspunkt aus tun, um eine weniger mythische Erzählung zu schreiben? Das Problem der palästinensischen Poesie ist, daß sie ihren Weg begonnen hat, ohne sich auf feste Anhaltspunkte stützen zu können, ohne Historiker, ohne Geographen, ohne Anthropologen; außerdem hat sie sich mit allem Gepäck ausrüsten müssen, das notwendig war, um ihr Existenzrecht zu verteidigen.
Das macht es für den Palästinenser unumgänglich, durch einen Mythos hindurchzugehen, um beim Bekannten anzukommen. Ich bin Dichter, und ich bin vor allem der Dichter der vertrauten menschlichen Details. Aber ich habe nicht aufgehört, mich mit der althergebrachten Version der Schöpfungsgeschichte auseinanderzusetzen. Eine Auseinandersetzung, die mich zu einem mythischen Schreiben über die Wirklichkeit, über die palästinensische Gegenwart gezwungen hat. Es handelt sich um einen Kreislauf, der vom Alltäglichen und Gewöhnlichen zum Mythischen reicht und nur durch eine Rückkehr zu seinen Ursprüngen vollendet werden kann. Selbst wenn ich mich direkt auf den Mythos beziehe, bleibt meine Obsession doch, das aufzuschreiben, was einfach, vertraut, banal ist. Ich möchte den palästinensischen Text vermenschlichen. Der Mythos steht dem Menschen nicht immer als Gegner gegenüber. Nicht immer. Er ist hier nur ein Aspekt der kulturellen Konfrontation, um über ein und denselben Ort schreiben zu können. Wir, die palästinensischen Schriftsteller, schreiben in der Nachbarschaft des Buches Genesis in Reichweite der Stimme eines vollendeten und althergebrachten Mythos. Wir werden vielleicht unseren Weg in der Ästhetik des Alltäglichen finden, in der allereinfachsten Erforschung menschlicher Angelegenheiten. Ich sehe hier keinerlei Widerspruch. Unsere dichterische Sprache kann sich im Raum des Mythos bewegen, wie zum Beispiel das Epos belegt. Wir befinden uns heute an einem zwiespältigen Ort, einem Punkt, der auf halbem Weg zwischen der Geschichte und dem Mythischen liegt. Denn unsere Situation, sogar unsere Existenz selbst, enthält das eine wie das andere.
In Ich sehe, was ich will und in Elf Sterne über dem Auszug aus Andalusien habe ich die Abwesenheit des Ortes durch den Rückgriff auf die Geschichte ausgefüllt. Ich habe mich auf die Flugbahn des Mythos begeben. Aber in meiner letzten Gedichtsammlung Warum hast du das Pferd seiner Einsamkeit überlassen? bin ich zu meinen Balladen zurückgekehrt. Nur daß diese Gesänge kraft ihrer Häufung und ihrer Kontinuität einen mythischen Klang haben. In gewisser Hinsicht, und wenn sie in einem Zug ohne Unterbrechung gelesen wird, stellt diese Gedichtsammlung einen langen und epischen Gesang dar, der vom Alltäglichen erzählt. Wir, die palästinensischen Dichter, sind bestürzt, weil wir in einem Augenblick der Geschichte leben, wo es scheint, als seien wir der Vergangenheit beraubt. Und einer der grundlegenden Antriebe des epischen Schreibens besteht darin, eine Vergangenheit zurückzugewinnen, die Gefahr läuft, für immer von ihren Weiterentwicklungen abgeschnitten zu werden.
Wir stehen demnach einer konventionellen Idee gegenüber, derzufolge wir keine Vergangenheit haben. Als ob unsere Vergangenheit gerade erst angefangen hätte. Als ob sie das ausschließliche Eigentum des Anderen wäre. Als ob unsere Geschichte, sobald wir vom Anderen einmal absehen, nur aus Trümmern bestünde, die wir nicht mehr zusammensetzen können. Man versichert uns, daß unsere Geschichte erst vor einem Jahr begonnen hat, und man verlangt von uns, unsere Existenz auf dieser Grundlage zu betrachten. Das ist der Grund, weshalb ich denke, daß die Verteidigung der Vergangenheit und die Verteidigung des Rechts der Gegenwart, ihren Weg zu gehen, miteinander verbunden sind. Das ist die notwendige Bedingung, um einen Schritt in Richtung Zukunft zu machen.

Beydoun: Von welcher Vergangenheit sprechen Sie?

Darwisch: Dieses Land gehört mir, zusammen mit seinen vielfältigen Kulturen: der kanaanitischen, hebräischen, griechischen, römischen, persischen, ägyptischen, arabischen, ottomanischen, englischen und französischen Kultur. Ich möchte all diese Kulturen leben. Ich habe das Recht, mich mit all diesen Stimmen, die über dieser Erde erklungen sind, zu identifizieren. Denn ich bin weder ein Eindringling noch ein zufällig Vorüberziehender.

Beydoun: Ihre Dichtung enthält drei große Themen: das Thema der ländlichen Dichtung, das der kulturellen Problematik, das der Tragödie. Themen, die einander gewiß durchdringen, aber es wird zunehmend klar, daß Sie sich in eine mutige Verzweiflung zurückziehen. In Ihrem Werk herrschen mehr und mehr die moralischen Werte vor, wobei die moralische Problematik an die Stelle des Kampfes tritt. Das Element der Verzweiflung wird in Ihrer Poesie immer sichtbarer.

Darwisch: Die Poesie hat das Recht, ihre Verzweiflung kundzutun, ohne deswegen dieses Geschrei auszulösen. Ich kenne keine große Dichtung, die die Frucht eines Sieges wäre. Nehmen Sie die griechischen Tragödien. Das Mitgefühl mit den Opfern bewegt uns weit mehr als die Lobreden auf die Sieger. Was im griechischen Erbe auf ganz schreckliche Weise fehlt, ist die Dichtung Trojas. Es heißt, sie sei auf Tafeln geschrieben worden, die heute verschwunden sind.

Beydoun: Betrachten Sie sich als einen Trojaner der heutigen Zeit?

Darwisch: Ich habe mich entschieden, ein trojanischer Dichter zu sein. Ich stehe entschlossen auf der Seite der Verlierer, die man des Rechts beraubt hat, auch nur eine Spur ihrer Niederlage zurückzulassen, des Rechts, ihre Niederlage zu verkünden. Es drängt mich, von dieser Niederlage zu erzählen, aber es handelt sich dabei nicht um eine Preisgabe.

Beydoun: Das geht noch über Verzweiflung hinaus.

Darwisch: Vielleicht. Aber für den Leser ist es weniger belastend. Als Dichter habe ich das Recht, die Niederlage zu verkünden, sie anzuerkennen und von dem Verlust zu erzählen. Ich ergreife die Partei Trojas, denn Troja ist das Opfer. Meine Erziehung, meine Wesensart, meine Erfahrung sind alle die eines Opfers. Und mein Konflikt mit dem Anderen kreist um eine einzige Frage: Wem von uns gebührt heute der Status des Opfers? Ich habe dem Anderen oft im Scherz gesagt: Vertauschen wir doch unsere Rollen. Ihr seid ein siegreiches Opfer, gespickt mit Nuklearsprengköpfen. Wir sind ein der Herrschaft unterworfenes Opfer, gespickt mit poetischen Köpfen. Ich weiß nicht, ob die poetische Überlegenheit uns eine nationale Legitimität verschafft. Aber die Poesie ist mein Beruf.

Beydoun: Sie leben in Ihrer Poesie…

Darwisch: Ich lebe in meiner Poesie, und ich entscheide mich, ein Trojaner zu sein, denn ich würde gerne Opfer werden. Ich habe mir sehr oft gewünscht, siegreich zu sein, um meinen Humanismus auf die Probe zu stellen, meine Fähigkeit, mit einem Opfer solidarisch zu sein, das in gewisser Weise sein eigenes Schicksal selbst herbeigeführt hat.
Ich habe mich entschieden, der Poet Trojas zu sein, weil Troja seine Geschichte nicht überliefert hat. Und auch wir haben bis heute unsere Geschichte nicht überliefert, ungeachtet der wachsenden Zahl unserer Werke. Das ist es, was ich sagen wollte, als ich geschrieben habe: „Wer seine Geschichte erzählt, erbt das Land der Erzählung“.

Beydoun: Dieses Gedicht befindet sich in dem Buch Warum hast du das Pferd seiner Einsamkeit überlassen?

Darwisch: Ja. Ich möchte meine Bande mit dem Land der Erzählung stärken. Ich empfinde keinerlei Scham, mich auf seiten der Verlierer anzusiedeln. Denn ich bin der Überzeugung, daß die Niederlage ein größeres poetisches Versprechen in sich trägt.

Beydoun: Es besteht ein unausgesprochenes Mißverständnis zwischen Ihnen und der Mehrzahl Ihrer Leser, die nicht in der Lage sind zu begreifen, daß Ihre Dichtung gleichermaßen Verzweiflung wie ehrenvolle und mutige Anerkennung des Schicksals enthält.

Darwisch: Das Paradoxe rührt daher, daß ich wie der Sieger erscheine. Damit meine ich, daß die Sprache der Verzweiflung in poetischer Hinsicht stärker als die der Hoffnung ist. Denn in der Hoffnungslosigkeit gibt es genügend Raum, das Schicksal des Menschen zu betrachten, um so etwas wie ein Fenster zum Horizont des Menschlichen zu öffnen, während dem Sieger diese Möglichkeit verschlossen ist. Die Verzweiflung bildet das poetische, psychologische und sprachliche Territorium, das den Dichter Gott, dem Wesen der Dinge, dem Ursprung der Poesie näherkommen läßt. Damit will ich sagen, daß die Verzweiflung den Dichter in eine quasi absolute Einsamkeit im Land des Exils versetzt. Als ob der Dichter zur Genesis des ersten Gedichts zurückgesandt würde. Und die Poesie, alle Poesie, ob modern oder klassisch, verliert an Vollständigkeit, wenn sie nicht von dem Echo der entferntesten Vergangenheit widerhallt. Die Dichtung, alle Dichtung, bedarf dieser ursprünglichen Melodie, die sie erst vollendet.

Beydoun: Die Rückkehr zum ersten Wort als dauerhafte Begründung der Poesie?

Darwisch: Die Rückkehr zur Frage der Verzweiflung. Die Kraft der Verzweiflung beruht auf der Tatsache, daß sie uns ein Gefühl für unsere Fähigkeit gibt, eine neue menschliche Gegenwart zu gestalten. Sie stellt sich mit der Kraft zur Schöpfung der Fähigkeit des Siegers zur Zerstörung entgegen. Die Verzweiflung kann die Schöpfung neu beginnen. Denn sie ist in der Lage, die dazu notwendigen Trümmerstücke, die Trümmer der ersten Dinge, der ersten Elemente der Schöpfung, zu finden. Und diese Kraft, dieses Ungestüm drehen die Rollen um, und der Verzweifelte findet sich in der Position der Stärke wieder.
Woran liegt es, daß wir von der Poesie nicht lassen können? Woher kommt die Unangreifbarkeit der Poesie? Ich liebe die Poesie, weil sie uns eine Kraft schenkt, selbst wenn diese nur fiktiv ist. Warum singt der Kerkermeister nicht? Der Gefangene singt, weil er mit sich allein ist, während der Kerkermeister nur mit dem zusammen existiert, den er bewacht. Er wacht so sehr über die Abgeschiedenheit des Gefangenen, daß er darüber seine eigene Einsamkeit vergißt.

Beydoun: Kommen wir auf das Bild des Feindes in Ihrer Poesie zurück. Es scheint auf zwiespältige Weise in einer Mannigfaltigkeit von Situationen durch. Beginnend mit Ihrem Gedicht „Ein Soldat, der von weißen Lilien träumt“, bis zu Ihrer letzten Gedichtsammlung Warum hast du das Pferd seiner Einsamkeit überlassen?, wo Sie den Feind die Verse von William Butler Yeats wiederaufnehmen lassen: „Ich liebe nicht die, die ich verteidige / Und ich hasse nicht die, gegen die ich kämpfe.“

Darwisch: Der Feind und ich haben von Anfang an erzwungenermaßen zusammengelebt. Und so sind seine Züge auch immer menschliche gewesen. Nicht im moralischen Sinne, sondern weil er ein menschliches Wesen ist und keine Figur oder abstrakte Idee. Der Feind ist nie einfach eine Idee gewesen, sondern ein Körper, Wesenszüge, eine Familie und eine Geschichte, gleich, ob diese wahr oder falsch ist. Er atmet dieselbe Luft, die wir atmen, und unser Gegensatz zu ihm entstammt keinem rassischen oder ethnischen Konflikt. Der Antagonismus ist politischer und ideologischer Natur.
Von daher glaube ich, daß der Frieden mich stärker machen wird, in dem Sinne, daß er an erster Stelle meine eigene Menschlichkeit befreien und mich von der Anklage der absoluten Verweigerung freisprechen wird. Er wird mir auf der menschlichen Ebene eine Überlegenheit über den Feind geben, dem es in Hinblick auf mich an Menschlichkeit mangelt. Und es ist nicht so, daß der Andere auf mich wartet. Er erwartet einen protokollarischen Frieden. Das ist vielleicht der tiefe Grund dafür, daß er meine Poesie ablehnt.
Solange sie sich nicht für eine wirkliche, auf gegenseitige Anerkennung gegründete Koexistenz entschieden haben, werden die Israelis, die nicht aufhören, von mir „diplomatischere“ Worte einzufordern, warten müssen. Denn im Austausch für meine Anerkennung des Menschlichen im Anderen ist es für mich unverzichtbar, daß auch er das Menschliche in mir anerkennt. Dann können wir, er und ich, uns wirklich versöhnen. Aber ich glaube, daß eine solche Versöhnung für den Anderen mühseliger ist, daß er sie im übrigen auch gar nicht will.
Der Feind will, daß ich das Bild ausfülle, das er für mich gewählt hat. Aber dazu wird er mich nicht bringen. Der Feind ist außerdem beweglich, er ruht nicht nur in sich selbst, sondern nähert sich unter zahlreichen Masken, in ständiger Bewegung zwischen dem Ich und dem Anderen, dem Anderen und dem Ich. Der Feind ist keine abstrakte Figur, wir durchdringen einander, und es kommt vor, daß wir unsere Rollen vertauschen. Wir leben in komplexen menschlichen Bedingungen, ohne daß eine Distanz, gleich welcher Form, zwischen uns besteht.

Beydoun: Da liegt das Problem. Der Feind ist in der Lage, sich in uns einzuschleichen, indem er aufgrund gewisser Schwächen unserer eigenen Menschlichkeit in uns eindringt.

Darwisch: Er kann es. Die mir vorschwebende Unverletzlichkeit basiert letztlich auf der Bewahrung meiner Menschlichkeit, sowohl in meinen Worten über den Feind als auch in dem Blick, den ich auf ihn richte. Ob ich ihn in mir wohnen, meine Vorstellungswelt gestalten, mir meine eigene Version der Ereignisse diktieren, zu meinem Gedächtnis werden lasse, ist eine ganz andere Frage. Es liegt auf der Hand, daß der Feind sich nicht mit einer Konfrontation mit mir aus der Ferne zufriedengibt. Er will ich sein und in meinem Namen sprechen. Er und ich, wir könnten sagen, daß unserer beider Träume in ein und demselben Bett schlafen. Ich könnte das tatsächlich sagen und auch denken, aber er möchte die Konturen meines Traumes zeichnen, ohne mir zu gestatten, das Gebiet des Traumes mit ihm zu teilen.
Auf jeden Fall ist das Problem, das Sie angesprochen haben, sein Problem und nicht meines.

Beydoun: Paraphrasieren Sie hier ein weiteres Mal Yeats?

Darwisch: Nicht nur. René Char hat darüber in Begriffen gesprochen, die vielleicht angemessener sind, als er sagte, sein Bestreben sei darauf gerichtet, die Feinde in Gegner zu verwandeln.

Beydoun: Der Feind möchte, daß ich seiner Version meiner Geschichte folge. Kann man in solchen Fällen zu irgendeiner Übereinkunft gelangen: daß er sich mit einem unvollständigen Mythos zufriedengibt und daß ich meinerseits einer verstümmelten Geschichte zustimme?

Darwisch: Wir können auf jedem Gebiet Zugeständnisse machen und uns verständigen, aber nicht auf dem der Geschichte. Wir können das Land, die Fenster der Träume, das Verschmelzen der Musik aus unterschiedlichen Flöten, die in diesem Land geborenen Mythen, alles, was Sie nur wollen, miteinander teilen.
Ich bin dem Feind in dieser Hinsicht überlegen. Ich erkenne an, daß die Bibel untrennbarer Bestandteil meines Erbes ist, während der Islam kein Teil des seinigen ist. Ich habe keinerlei Probleme damit, mich als das Produkt, als die Kreuzung all dessen zu betrachten, was in jenem Land Palästina gesagt worden ist, was von der ganzen Menschheit gesagt worden ist. Aber er lehnt es ab, das gleiche zu tun und verwehrt mir, mich seiner kulturellen und menschlichen Identität anzuschließen. Er selbst ist es, der seine eigene Identität beschneidet und sie zu etwas Selektivem macht. Wir können uns über alles verständigen, außer über die Geschichte, und es gibt, soweit ich weiß, keine internationale Resolution, die von uns verlangt, uns über die Geschichte zu verständigen.
In einem tiefgreifenden kulturellen Sinn liegt das Problem in der Unmöglichkeit genau dieses Kompromisses mit dem Feind. Wir können alles normalisieren. Und es könnte den Unterhändlern gelingen, sich über die Gegenwart und eine geteilte Zukunft zu einigen. Aber wir können keinen Kompromiß über die Vergangenheit aushandeln. Es ist bereits schwierig, sich über eine Geschichte zu verständigen, die unbestreitbar ist. Wie könnte es da bei einer Geschichte, die Gegenstand heftiger Kontroversen ist, anders sein? Lassen wir also die Geschichte beiseite, denn es ist schwer vorstellbar, daß sie Gegenstand einer Übereinkunft sein kann. Darüber hinaus läuft eine solche Forderung Gefahr, jegliches Friedensabkommen von vornherein zu vergiften.

Beydoun: In Ihrem Buch Warum hast du das Pferd seiner Einsamkeit überlassen? bekräftigen Sie erneut Ihre Zugehörigkeit: „Ich bin Araber.“ Ist diese Bekräftigung im Angesicht des Anderen immer notwendig? Stoßen wir ihn damit nicht unmittelbar in seinen Status als Fremder zurück?

Darwisch: Der Begriff „Fremder“ ist in meiner Poesie nichts Negatives. Absolut nicht.

Beydoun: Das habe ich damit nicht sagen wollen. Aber ist es nötig, den einzelnen auf seine überkommene Identität, was immer diese auch sei, zu beschränken, wie es die alten Araber machten, die sich mit ihren Ahnen und mit ihren Stämmen identifizierten?

Darwisch: Das Problem ist, daß wir uns verpflichtet fühlen, an unsere Wurzeln wiederanzuknüpfen, um unsere Verteidigungslinien zu befestigen. Es ist eher so, daß die Anderen uns dazu nötigen, als daß wir es aus eigenem Antrieb täten oder wollten. Ich glaube nicht, daß es auch nur ein einziges Volk auf der Welt gibt, von dem man auf dieselbe Weise verlangt hätte, täglich seine Identität zu beweisen, wie man es von den Arabern verlangt. Niemand hat zu den Griechen gesagt: Ihr seid keine Griechen; niemand zu den Franzosen: Ihr seid keine Franzosen. Aber der Araber muß ständig die Beweise seiner Identität vorlegen, weil man ihn dazu bringen will, an sich selbst zu zweifeln. Ich bin keineswegs von Stammbäumen und Ahnenreihen besessen. Im übrigen besteht die einzige Identität, die ich in dem Band, von dem Sie gesprochen haben, verkündet habe, in der Aussage: „Ich bin meine Sprache.“ Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und ich sage, daß man in dieser Sprache die Nachbarschaft der Römer, der Perser und vieler, vieler anderer Völker erkennen kann. Ich erkenne mich nur vermittels meiner Sprache und beschäftige mich in gar keiner Weise mit den „Unterschieden“ der Rassen und des Blutes. Ich glaube nicht an die Reinheit der Rassen, weder im Nahen Osten noch anderswo. Im Gegenteil, ich bin davon überzeugt, daß die Bastardisierung mich und meine Kultur bereichert. Es ist der Andere, der unablässig von mir verlangt, ein Araber zu sein, und das natürlich gemäß seiner eigenen Definition von Arabischsein.

Beydoun: Es handelt sich um eine politische Ideologie.

Darwisch: Vielleicht. Aber der Fremde erscheint in meinen Gedichten als Besucher. Er ist der Besucher, nicht ich. Da dieses Land im gesamten Verlauf der Geschichte von Fremden durchzogen wurde und ich zu einem gewissen Zeitpunkt selbst ein „Fremder“ sein konnte, kann ich auch anerkennen, daß wir alle beide Fremde sind. Aber er verlangt von mir, der alleinige Fremde, der alleinige Eindringling zu sein. Und er besteht darauf, der einzige zu sein, der „Authentizität“ besitzt.

Beydoun: Wenn wir uns jetzt ein wenig von der Poesie entfernen, führen Ihre Worte uns in den Bereich der Geopolitik: Es ist das Land, nicht das Blut, das die Menschen zusammenführt. Das Land vereinigt Gemeinschaften, die sich nach Rasse und Blut unterscheiden. Ist diese Vision auch in Ihrer poetischen Vorstellungswelt enthalten?

Darwisch: Wenn ich nicht durch die Evakuierung meines Ortes beraubt worden wäre, wäre dieses Thema nicht von großer Bedeutung. Ich erinnere mich an ein Gespräch zwischen Jean Genet und Juan Goytisolo. Genet, der den Gedanken des Vaterlandes verachtete, sagte zu Goytisolo: „Das Vaterland ist die albernste Idee, die es gibt, außer für die, denen man es weggenommen hat, wie den Palästinensern.“ „Was wird geschehen, wenn die Palästinenser ihr Vaterland wiedergefunden haben?“, fragte Goytisolo. „Dann werden sie das Recht haben, es zum Fenster hinauszuwerfen“, war Genets Antwort.
Der Kampf um den Ort, der Raub meines Ortes, des ersten Nährbodens, den ich hatte, haben aus diesem Ort einen wesentlichen Bestandteil meiner Identität gemacht. Aber meine Identität umfaßt in Wirklichkeit viel mehr: Ich bin meine Sprache, wie ich eben schon gesagt habe. Ich bin meine Sprache, und diese Identität belastet mich so gut wie gar nicht, ebenso wie ich aus ihr keinerlei Dünkel ziehe.
Ich bin Araber, weil ich Arabisch spreche. Was meine Zugehörigkeit zur arabischen Nation angeht, die Gewißheit über ihr Recht, ihre Einheit anzustreben, ist eine ganz andere Frage. Ich bin Araber, und meine Sprache hat ihre größte Blütezeit erlebt, als sie gegenüber den anderen, gegenüber der gesamten Menschheit offen war. Unter den Elementen ihrer Entwicklung findet sich auch der Pluralismus. So jedenfalls sehe ich das goldene Zeitalter der arabischen Kultur. Zu keiner Zeit der Geschichte haben wir uns vollkommen auf uns selbst zurückgezogen, wie es heutzutage einige von uns behaupten. Meine Identität hat nichts von einem Ghetto an sich. Mein Problem beruht auf dem, was der Andere in meiner Identität sehen will. Ich jedoch sage ihm: Dies ist meine Identität, teile sie mit mir, sie ist weit genug, um dich aufzunehmen; und wir, die Araber, haben immer nur dann eine echte Zivilisation gehabt, wenn wir unsere Zelte verlassen und uns der Vielfalt und dem Andersartigen geöffnet haben. Ich gehöre weder zu denen, die unter einer Identitätskrise leiden, noch zu denen, die sich unaufhörlich fragen: Wer ist ein Araber? Was ist die arabische Nation? Ich bin Araber, weil das Arabische meine Sprache ist, und in der gegenwärtigen Debatte verteidige ich leidenschaftlich die arabische Sprache, nicht um meine Identität zu schützen, sondern zur Verteidigung meiner Existenz, meiner Dichtung, meines Rechts zu singen.

Beydoun: Sie besitzen einen derartigen poetischen Instinkt, daß Sie fähig sind, ein Telefonbuch in ein Gedicht zu verwandeln! Es gelingt Ihnen, jedes politische Moment, jedes noch so unmittelbare Ereignis mit Poesie aufzuladen. Sie haben großen Mut bewiesen, als Sie sich bei einigen Ihrer Gedichte dafür entschuldigten, daß Sie sie geschrieben haben. Sie bewerten sie als „politisches Verseschmieden“ oder „gereimte und rhythmische Stellungnahme“. Das haben Sie zum Beispiel in bezug auf „Über die Beschreibung unserer Lage“ oder „Passanten inmitten vorbeiziehender Worte“ getan. Warum haben Sie dann Gedichte wie „Die Wahrheit hat zwei Gesichter, und der Schnee ist schwarz“ oder „Gedicht für einen irakischen Dichter“ von diesem Urteil ausgenommen, obwohl sie sich doch genauso direkt auf die aktuelle Wirklichkeit beziehen? Indem ich diese Frage stelle, möchte ich mich nicht gegen diese beiden Gedichte aussprechen. Wie Sie wissen, habe ich in einem Artikel über Ihr Gedicht „Die Wahrheit hat zwei Gesichter, und der Schnee ist schwarz“ geschrieben, daß der Poesie eine Politik innewohnt, die sie von der Politik im eigentlichen Sinne unterscheidet.

Darwisch: Ihre Frage stört mich nicht, aber ich möchte erst einmal den Begriff „poetischer Instinkt“ klären. Ich gehöre zu denen, die der Ansicht sind, daß das Denken, das Bewußtsein und die Kultur sich nur dadurch in Poesie verwandeln können, daß sie die Sinne durchlaufen. Der Dichter muß die Quellen seines Wissens verbergen und so vorgehen, als käme alles aus seinem Instinkt. Die poetische Landschaft der arabischen Welt ist heute der Schauplatz einer Debatte zwischen zwei Strömungen: der der Anhänger der „mentalen“ Poesie und der der Anhänger der „lyrischen“ Poesie.

Beydoun: Ich setze das Mentale dem Sinnlichen nicht entgegen!

Darwisch: Ich weiß. Aber am Ende ist die Frage, so wie Sie es auch gesagt haben, die nach der poetischen „Gabe“. Sich in der Dichtkunst auszukennen, macht noch keinen Dichter. Es erlaubt, eine mustergültige Doktorarbeit über Poesie zu verfassen, mehr nicht. Meine Wahrnehmung der Poesie hat sich im Rahmen der Erfahrung und des bewußten Entwerfens der Poesie selbst entfaltet. Aber da ich nur ein gewöhnlicher Sterblicher bin, habe ich der Poesie in den Augenblicken, in denen sie in direkten Kontakt mit der Realität kam, nicht immer ihre Größe und Heiligkeit bewahren können. Es ist vorgekommen, daß ich beim Schreiben eine gewaltige Wut hatte, obwohl ich ganz genau wußte, daß das Ergebnis bestimmt keine Poesie sein kann. Und so habe ich einige Gedichte geschrieben, die lediglich schlagfertige Antworten sind.
Ich habe „Passanten inmitten vorbeiziehender Worte“ geschrieben, nachdem ich im Fernsehen gesehen hatte, wie israelische Soldaten palästinensischen Kindern die Knochen brachen. Ich habe dieses Gedicht in einem Zug heruntergeschrieben. Und niemand soll in solchen Augenblicken ankommen und von mir verlangen, Eleganz in der Sprache und im Schreiben an den Tag zu legen oder zur Koexistenz aufzurufen! Ich habe auf barbarische Handlungen mit heftigen Worten geantwortet. Aber was ist letzten Endes schlimmer? Die Wut oder die Barbarei? Ich habe dieses Gedicht nicht in meine Sammlungen aufgenommen, aber ich habe daraus einen Stein in der Hand eines Kindes gemacht, den es auf einen israelischen Soldaten werfen kann. Ich wollte selbst einen Stein auf die Invasoren werfen, und ich habe es getan.
Wie gesagt, habe ich dieses Gedicht in keine Sammlung aufgenommen, denn es liegt mir immer am Herzen, die Poesie von dem freizuhalten, was nicht Poesie ist; sie von den sozialen Aufgaben zu unterscheiden, die man ihr zuweist, sie aus der unmittelbaren Politik herauszuhalten, selbst wenn man meine Poesie nicht lesen kann, ohne auf den politischen Hintergrund zurückzukommen. Diesen Anspruch erhebe ich auch, und ich entschuldige mich nicht dafür. Ich sage ohne jede Verlegenheit: Niemand kann vorgeben, er habe mit Politik gar nichts zu tun.
Die Politik ist eine Art, die Realität wahrzunehmen. Wer kann behaupten, wir hätten keine Beziehung zu ihr? Die politische Dimension ist in meiner Poesie gegenwärtig, aber diskret, implizit, nicht laut herausgesagt. Und wenn sie offen ans Licht tritt, geschieht dies im Rahmen der Vision, welche die Konstruktion des Gedichts in ihrer Ganzheit bestimmt. Jedes Gedicht birgt Elemente und Bestandteile in sich, deren wechselseitige Beziehungen man dann meistern muß. Und es kommt vor, daß ein Gedicht, das aus mehreren Ebenen aufgebaut ist, eine unmittelbar politische Passage gestattet. Das ist in Elf Sterne über dem Auszug aus Andalusien der Fall. Und so hat die Diskussion, die im Palast der Alhambra zwischen den Anhängern der Übergabe und denen eines Kampfes bis zum letzten geführt wurde, ihren Platz in meinem Gedicht gefunden. Wenn ich dort schreibe „Die Wahrheit hat zwei Gesichter“, sage ich dem letzten König Andalusiens nicht, welches dieser beiden Gesichter er wählen soll. Es genügt mir, daß der Leser seine Aufmerksamkeit auf die Tatsache richtet, daß „die Wahrheit zwei Gesichter hat“. Das Gedicht wiederholt Wort für Wort, was in der Alhambra am Vorabend des Falls von Granada gesagt worden ist. Inspiriert von einem historischen Augenblick, läßt es auch Hinweise auf gegenwärtige Analogien erkennen – das kann niemandem verborgen bleiben. Aber wenn ich ungeachtet möglicher Einwände so vorgehe, dann deshalb, weil ich überzeugt bin, daß die Struktur meines Gedichts in der Lage ist, das mitzutragen.
Wenn ich sage, daß es gilt, die Poesie von allem freizuhalten, was nicht Poesie ist, meine ich damit natürlich nicht, daß man sich vom Realen, den Ereignissen, dem Konkreten absondern soll, sondern ich möchte damit lediglich die politischen, patriotischen und sozialen Funktionen, die man der Poesie zuweist, einschränken. Es ist nicht die Aufgabe des Dichters, seinen Leser mit einem politischen Programm zu versorgen. Es ist diese Unterscheidung, die es mir heute erlaubt, auf manche meiner Gedichte wieder zurückzukommen, ebenso wie sie mich dazu gebracht hat, ganze Gedichte zu zerreißen.

Beydoun: Man findet bei Ihnen immer mehr Bezugnahmen auf historische und mythische Personen und Orte: Cäsar, Sophokles, Granada… Tun Sie dies aufgrund der Klangfarbe oder um den Leser aus dem Gewohnten herauszulocken? Oder geben Sie im Gegenteil diesen Namen einen fest umrissenen Sinn?

Darwisch: Es handelt sich nicht nur um eine Dimension des Klanglichen und des Ungewohnten. Die Verwendung dieser Bezüge zielt ebenso darauf, die Gegenwart aus ihrer Verankerung zu lösen und sie in den Rahmen einer Ikone oder eines dramatischen historischen Augenblicks zu stellen. Auf diese Weise fungiert der Text zugleich in der Vergangenheit, in der Geschichte, und wird auf zwei unterschiedlichen Zeitebenen gleichzeitig wirksam.
Die größte Schwierigkeit der modernen Poesie liegt in ihrer Beziehung zur Gegenwart und zum aktuellen Lauf der Dinge. Die Gegenwart wiegt mit ihrem ganzen Gewicht so schwer, daß man sich nicht von ihr befreien kann, wenn man sich gleichzeitig an sie klammert. Sie ist derart erdrückend, daß sie dürftig und fade wird. Es ist wichtig, daß die Poesie sich der Anziehungskraft einer Gegenwart entzieht, die sich in raschem Tempo auflöst. Die historischen Verweise und Personen versetzen den Text in eine andere Zeit, die es ihm erspart, allzu unmittelbar zu sein. Das Paradoxe ist, daß man sich vor der Aktualität schützt, indem man sich in die Vergangenheit flüchtet, diese aber in die Zukunft weist.

Beydoun: Ist Poesie eher möglich, wenn sie sich die Stimme der Vergangenheit leiht?

Darwisch: Ja, denn die Vergangenheit ist die abgeschlossenste aller Zeiten. Selbst jetzt im Augenblick sind wir dabei, Vergangenheit zu erzeugen. Alle Vergangenheit verwandelt sich sofort in kollektives Wissen. Der historische Bezug vermeidet, daß der Text in die Unmittelbarkeit abgleitet, in der er sich verlieren könnte. Ebenso bereichert er die Bedeutungen des Textes. Bestimmte Namen bergen eine mächtige Spannung, die sie in Bilder und in Metaphern verwandelt, wodurch Erklärungen und Theorien überflüssig werden, um so mehr, als diese Bedeutungen und diese Bezüge nichts Erstarrtes sind, da ein und derselbe Name vielfältige und selbst widersprüchliche Bedeutungen haben kann.

Beydoun: Aber es gibt Namen, die uns anziehen, ohne daß wir den Grund dafür verstehen könnten. Liegt es an ihrem Klang? Manchmal macht nur er ihre Anziehungskraft aus, sonst nichts.

Darwisch: Das bedeutet, daß diese Namen den Text um unendliche Entfernungen bereichern, die für die Poesie von entscheidender Bedeutung sind.

Beydoun: Ihre Poesie ist klar bis zu einem Punkt, wo sie hermetisch und manchmal sogar undurchdringlich wird. Es ist überraschend zu erleben, wie ein Dichter wie Sie, dem wir uns so nah fühlen, uns in manchen Gedichten vollkommen unvorbereitet ins allertiefste Dunkel stürzt. Zum Beispiel, wenn Sie sagen: „Ich weiß, was dein vom Pfau durchbohrtes Herz zerfrißt.“

Darwisch: In einem Gedicht muß die Beziehung zwischen dem Bild, dem Rhythmus und den anderen Bestandteilen vollkommen ausgearbeitet sein. Es gibt kein Rezept, das im vorhinein bestimmt, was man an Salz, an Mond oder an Himmel braucht, um ein Gedicht zu schreiben. Hier kommt der Instinkt ins Spiel. So gefallen mir zum Beispiel surrealistische Bilder, wenn der Text sie tragen kann. Was ist schlimm daran, ausgetretene Pfade zu verlassen, um eine Rose oder eine Pflanze oder eine Gitarre in die Nähe des Gedichts zu rücken? Diese Bilder kommen von der Straße, aus dem Zimmer der Nachbarn. „Das vom Pfau durchbohrte Herz“ ist für mich ein Bild von absoluter Klarheit, und dennoch kann ich es nicht erklären. Wir wissen, daß der Pfau eitel sein farbenprächtiges Rad schlägt. Durchbohrt das irgendein Herz? Wie ist das möglich? Ich habe keine Ahnung. Aber dieses Bild hat mir gefallen.

Beydoun: Ich verstehe. Man kann zu einem Bild ein Gegenstück finden, das dabei hilft, es sich vorzustellen. Aber die hermetische Abgeschlossenheit entsteht hier aus der Tatsache, daß es kein solches Gegenstück gibt.

Darwisch: Ein Bild ist keine rationale Gleichung. Ich bin vielleicht auf dieses Bild gestoßen, nachdem ich einen Pfau gesehen habe, dessen Rad mich mit seiner Farbenpracht durchbohrt hat. Lorca hat uns gelehrt, daß die Funktion der Poesie die Verwandlung der Wahrnehmung der Sinne ist. Ich schrieb ein Gedicht, und in einem bestimmten Augenblick trat ein Pfau ins Bild. Das ist alles. Ich glaube nicht, daß das meinem Gedicht geschadet hat. Übrigens gibt es in demselben Gedicht weitere Bilder ähnlicher Art: „Und für den Färberbaum hast du den Hahnenkamm gekocht.“ Ich kann diese Bilder nicht mit wissenschaftlichen Argumenten verteidigen!

Beydoun: Das verlange ich durchaus nicht. Bei Ihnen gibt es drei Arten von Gedichten. Drei dichterische Zustände, die sowohl von Ihrem Leser als auch von Ihnen selbst verschiedene Rollen verlangen: das Gedicht mit verwobener Struktur, das sehr unterschiedliche Stimmen, Epochen, Gebiete und Register miteinander verbindet; das lineare Gedicht, das auf unabwendbare Weise voranschreitet; und schließlich das auf Klang basierende Gedicht. Der Leser erkennt es schon an den ersten Versen und errät, daß es weder eine verwobene Struktur noch implizite Bedeutungen, sehr wohl aber Reim und Klang enthält. Dieser Gedichttypus ist reiner Gesang, eine Lyrik in reinem Zustand. Ich habe das Gefühl, daß es sich bei diesen Gedichten um Pausen, Augenblicke des Innehaltens, der Erholung handelt.

Darwisch: Was Sie Gedichte mit verwobener Struktur nennen, nenne ich epische Lyrik. Und es ist eine Form, die ich schon seit Jahren verwende. Darüber hinaus spüre ich einen Drang, mich journalistisch, auf dem Gebiet des Films und der Kritik auszudrücken, und ich habe eine Überfülle von Gesang in mir. Manchmal muß ich das zum Ausdruck bringen. Ist es, wenn man Symphonien komponiert, verboten, von Zeit zu Zeit ein Tanzlied zu trällern?

Beydoun: Kann man sagen, daß diese drei Arten von Gedichten nichts anderes sind als drei musikalische Abschnitte im Rahmen eines einzigen Gedichts?

Darwisch: Absolut. Es handelt sich tatsächlich um drei musikalische Momente desselben Gedichts, und sie sind alle drei an der epischen Form beteiligt. Ich gestehe, daß ich den Rhythmus liebe, und ich weiß, daß die moderne Poesie sich mit einem Rhythmus wie dem, den ich in meinem Gedicht „Der Zug ist vorbeigefahren“ verwendet habe, nicht verträgt. Ich meine, daß ein solcher Rhythmus in dem, was Sie die „Gedichte mit verwobener Struktur“ genannt haben, nicht angebracht ist. Aber jemand, der eine Symphonie komponiert, darf sich dennoch erlauben, ein kleines Lied, einen leichten Gesang zu schreiben, ohne sich allzusehr um Vorhaltungen zu sorgen, er habe sich gegen die Modernität versündigt. Ich leide unter meiner Liebe zum Gesang und meiner Neigung zum Singen und darunter, mich hier zurückhalten zu müssen. Meine letzte Sammlung sollte fünfzig Gedichte enthalten; ich habe fünfzehn davon herausgenommen, weil sie zu musikalisch waren.

Beydoun: Diese Couplets sind also nicht nur Pausen zwischen den wesentlicheren Gedichten, sondern Befriedigung eines tiefgehenden Wunsches.

Darwisch: Sie können sie als musikalische Pausen bezeichnen. Sie erscheinen mir nützlich, weil sie dem Leser Sicherheit geben, ihm vermitteln, daß der Dichter ihm noch Gesellschaft leistet, daß er immer noch sein Freund ist. Dabei geht es aber nicht um eine Art Bestechung, sondern eher um einen Kompromiß, eine durch den Rhythmus gebildete Erholung.

Beydoun: Sie haben aber gerade noch versichert, daß Sie sich Ihrem Lyrismus widersetzen?

Darwisch: Dem Gesang, nicht dem Lyrismus. Ich widerstehe der Versuchung des penetranten Gesangs. Das habe ich beim Hören der klassischen Musik gelernt. Oft hört man ein Thema und möchte dann gern, daß es sich ununterbrochen bis in den nächsten Tag hinein wiederholt. Aber der Komponist bricht das Thema plötzlich ab. Diese Kunst der Unterbrechung ist eine wertvolle Lektion für jeden, der sich der Wiederholung widersetzen will. Was mich betrifft, unterdrücke ich meine Neigung durch bestimmte Verfahren des poetischen Aufbaus. Das erfordert Übung, denn es handelt sich um das Zurückdrängen einer Begierde.

Beydoun: Wir könnten diesen Riß zwischen der Liebe zur Musikalität und der Notwendigkeit, sie zu unterdrücken, als eine schmerzliche Beziehung zum Reim betrachten. Das sieht man gut in Elf Sterne über dem Auszug aus Andalusien. Der Reim ist da, aber Sie bleiben nicht dabei stehen. Sie erkennen ihn nicht an. Er ist vorhanden, ohne es wirklich zu sein.

Darwisch: Manchmal verstecke ich ihn und verschiebe ihn vom Ende des Verses in die Mitte des folgenden Verses. Der Reim ist für mich wie ein Gefährte. Ich muß feststellen, daß meine Sprache immer rhythmisch und wie ein Reim ist, selbst in meinen Artikeln für die Presse… Aber wenn ich einen Artikel schreibe, macht mir das keine Sorge. Umgekehrt nehme ich aus meinen Gedichten oft bewußt unnütze Reime heraus, die mir spontan in den Sinn kommen. Das ist der poetische Instinkt, von dem Sie vorhin gesprochen haben. Der Reim ist ein Element des Rhythmus, aber der Rhythmus ist schöner, wenn es ihm gelingt, ohne Reim auszukommen. In Elf Sterne über dem Auszug aus Andalusien gibt es viele reimlose Gedichte.

Beydoun: Viele Dichter sind im Gegensatz zu Ihnen der Ansicht, das Metrum sei eine Fessel.

Darwisch: Was die Rechtfertigung für den freien Vers ist, der sich anschickt, die genormten Rhythmen zu zerschlagen, um andere zu schaffen. Dadurch befördert er eine neue Sensibilität, einen neuen Geschmack. Er läßt uns deutlich spüren, wie sehr die klassischen Metren standardisiert und ohne Originalität sein können. Aus diesem Grund unterhalte ich mit dem Gedicht in freien Versen einen Dialog, aber dieser Dialog ist mit inbegriffen.
So bleibt mir nur übrig, eine Lösung für dieses Problem im Rahmen der klassischen Metrik selbst zu suchen und zu finden. Denn ein und dasselbe Metrum kann mehrere Formen annehmen. In Wirklichkeit gibt es in jedem Gedicht ein persönliches Metrum und mehrere Rhythmen im Rahmen desselben Metrums.
Nehmen wir die Muallaqa von Imru al-Kais: „Halten wir inne! Weinen wir im Gedenken an eine Freundin und ein Verweilen…“ Sie ist nach Art des Tawil genannten Metrums aufgebaut. Ist der Rhythmus dieses ersten Verses der Muallaqa der gleiche wie der des folgenden Verses: „Er greift an, weicht zurück, er stürmt und stürzt ins Getümmel wie ein vom Sturm losgerissener Felsblock“? Und was ist mit jenem anderen Vers desselben Gedichts: „Oh Fatima, bitte weniger Koketterie…“?
Das Metrum ist ein Mittel, das dazu dient, den inneren Rhythmus zu meistern. Es ist kein unveränderliches Prinzip und hat keine endgültige Form. Die Stimme des Dichters und sein persönlicher Rhythmus verleihen dem Metrum seine Musik. Nehmen Sie eine beliebige Partitur: Sie werden festgelegte Noten darin finden, aber keine zwei Interpreten, die diese Noten im selben Tempo spielen. Ich habe keinerlei starre Haltung, was die Metren betrifft. Meine Rhythmen ändern sich mit jedem meiner Gedichte. Selbst in einem Gedicht mit einheitlichem Metrum ändert sich die metrische Einheit je nach dem Ort, den ich ihr zuweise, nach ihren Beziehungen zum Sinn, zur Tonart, ob diese nun erzählerisch oder lyrisch ist … Nichts beschränkt meine Freiheit bei der Suche nach meinen eigenen Rhythmen im Rahmen des Metrums. Dieses ist letztlich nichts anderes als ein Meßinstrument für die Elemente des Rhythmus, und die Metrik macht noch nicht die Musik. Der qualitativ mittelmäßige Teil unseres arabischen poetischen Erbes beachtete sehr wohl die Regeln der Verskonstruktion, aber die Musik war daraus verschwunden. Ich glaube, daß es leichter ist, nach den Regeln der Metrik zu schreiben als im freien Vers. Letzterer muß sich unablässig rechtfertigen, muß das ausdrücken, was das Metrum nicht sagt. Ich schreibe nicht in freien Versen, aber ich fürchte mich nicht davor. Ich könnte es also tun, wenn ich die Notwendigkeit dazu verspürte.

Beydoun: Haben Sie schon einmal, und sei es nur: ein einziges Mal, in freien Versen geschrieben?

Darwisch: Ich habe Psalmen geschrieben. Und der größte Teil meiner Prosa ähnelt einem Prosagedicht.

Beydoun: Das stimmt, aber ich meine jetzt ein Gedicht in freien Versen, ein Gedicht im eigentlichen Sinne.

Darwisch: Der Gedanke reizt mich. Ich suche nach einem neuen Rhythmus, und das Gedicht in freien Versen könnte das geeignete Terrain für eine derartige Erfahrung sein; aber ich habe es bis jetzt nicht getan.

Beydoun: Handelt es sich dabei um eine Verlockung oder um eine Notwendigkeit?

Darwisch: Nein, es ist nur eine Verlockung. Eine kulturelle Herausforderung. Keine direkte Notwendigkeit. Abgesehen von seinem schöpferischen Aspekt ist der freie Vers ein kulturelles Projekt. Er stellt Fragen an den Dichter, die nicht nur technischer, sondern gleichermaßen kultureller Art sind.

Beydoun: In dem Buch Warum hast du das Pferd seiner Einsamkeit überlassen? sind Sie zur Autobiographie zurückgekehrt. Sie zeigen Ihren Wunsch, die Tatsachen festzuhalten. Als ob Sie nicht nur auf der Suche nach der Poesie wären. Es gibt darin zahlreiche Verse, die nicht anders gerechtfertigt werden können als durch das Bedürfnis, Zeugnis abzulegen. Und Ihr Werk ist bis dahin auf den Ausdruck einer kollektiven Stimme, einer kollektiven Geschichte orientiert gewesen.

Darwisch: Vielleicht habe ich Angst, zusehen zu müssen, wie die Vergangenheit beschlagnahmt wird. Heute nimmt eine neue historische Epoche Gestalt an, die diese Gefahr in sich birgt. Sie ist von einer derartigen Tragweite, daß man ihr nicht durch Schweigen begegnen kann. In der Poesie antwortet man jedoch auf eine dröhnende Stimme von außen nicht mit einer Stimme von gleicher Lautstärke, sondern vertraulich mitteilend und flüsternd. Und dann ist da unsere Angst, die Vergangenheit zu verlieren oder sie uns entgleiten zu lassen. Von daher rührt mein Bestreben, das Register der Abwesenheit aufzuschlagen. Dem Dichter, der die römischen, assyrischen, persischen imperialen Armeen aufeinanderfolgen sieht, bleibt nur die Möglichkeit, bis zu dem Kind zurückzugehen, das die Szenerie durch das Schlüsselloch beobachtet. Der Dichter kann diesen Armeen nicht den Weg versperren, um sie zu befragen. Er kann nichts tun, als die Geschichte zu beobachten, um über ihren Verlauf zu meditieren.
Das sind die objektiven Gründe für meine Haltung. Persönlich entspricht diese Haltung einem neuen Abschnitt meiner Suche nach der Poesie. Wo hat im Verhältnis zu all diesen Ereignissen die Poesie ihren Standort? Sie befindet sich in den ersten Dingen, in der Rückkehr zur ursprünglichen Erzählung, zu den ersten Orten, den ersten Tieren, den ersten Vögeln. Das ist es, was sich in dieser Gedichtsammlung zeigt; als ob sie eine Rückkehr zum ersten Augenblick der Genesis wäre. Ich denke dabei an das Projekt eines „Buches Genesis“, das ein „Buch Exodus“ oder ein „Buch der Könige“ sein könnte. Ich habe die Poesie gesucht, und ich habe sie nicht in der lärmenden Öffentlichkeit gefunden, sondern in den Zeichen und unscheinbaren Befindlichkeiten tief in meinem Innern. Ich kann sie gewiß nicht aus ihrem Umfeld herauslösen, denn die ersten Elemente haben, ob man will oder nicht, auch eine mythische oder psychologische Tragweite, die an eine bedeutendere, umfassendere Erzählung anknüpft. Meine Haltung ist also eine Flucht ins poetische Ich hin zum Schutz, den die Nußschale der Poesie bietet.

Beydoun: Entstammen die Gedichte Ihrer letzten Sammlung derselben Quelle wie die kurzen Gedichte, die Sie nach Ihrer schweren Krankheit geschrieben haben?

Darwisch: Ich habe einen kurzen Moment des Todes durchlebt, der meine persönliche Einstellung zutiefst verändert hat. Selbst meine poetische Einstellung. Ich war früher eher nervös, impulsiv, in meinem Umgang mit anderen nicht auf Etikette bedacht. Ich trug das Herz auf der Zunge. Während jenes Zwischenfalls habe ich den Tod gespürt, und der Tod war sehr schön. Wie ein Schlaf auf weißer Watte, ein Flug über den Wolken. Später habe ich in Frankreich eine Fernsehsendung gesehen, in der die Gäste von vergleichbaren Erfahrungen berichteten. Der größte Teil von ihnen hatte das gleiche intensive Weiß gesehen und den Augenblick der Wiederkehr ins Leben wie einen intensiven Schmerz erlebt.
Mit Hilfe von Elektroschocks und Faustschlägen auf meine Brust ist es den Ärzten gelungen, mein Herz wieder zum Schlagen zu bringen. Meine erste Empfindung bei der Rückkehr ins Leben war ein Gefühl des Schmerzes. Das ist es, was ich in den kurzen Gedichten, die ich danach geschrieben habe, zu sagen versucht habe.
Es gibt vielleicht einen objektiven Tod, der nicht nur ein Volk oder eine Geschichte bedroht, sondern ein ganzes Universum. Das instinktive Gefühl des Überlebens hat mir die Unschuld eines Tieres verliehen. Es ist nicht der Instinkt, der geschrieben hat, aber er war es, der mich zu den Abhängen, den kleinen Tälern, den Feldern geführt hat, die ich erforschen mußte. Dann hat das Bewußtsein das Kommando übernommen und sich ans Schreiben gemacht.
Diese Verteidigung einer Welt, einer Periode, die im Sterben begriffen ist, ist verwandt mit der Reaktion kleiner Lebewesen, wenn sie vom Sturm bedroht sind. Sie verbergen sich zwischen zwei Steinen, in Erdspalten, in Löchern, in der Rinde eines Baumes. Die Poesie ist nichts anderes als genau das. Sie ist jenes kleine Lebewesen, das nicht die Stärke besitzt, die man in ihm vermutet. Ihre Stärke besteht in ihrer extremen Zerbrechlichkeit.
Poesie kann von einer sehr ungewöhnlichen Wirksamkeit sein, aber ihre Kraft entstammt der Erkenntnis der menschlichen Zerbrechlichkeit. Ich für mein Teil habe meine eigene Zerbrechlichkeit zur Waffe gemacht, um den Stürmen der Geschichte die Stirn zu bieten. Ohne ein anderes Ziel als das der Rechtfertigung meiner Existenz.

Beydoun: Sie haben vom „objektiven Tod“, dem „Verschwinden einer Welt“ gesprochen. Nehmen Sie seitdem eine neue Haltung zur Welt, zu den Sujets, zur Sprache ein? Gehen Sie die Probleme, mit denen Sie schon bisher konfrontiert waren, von anderen Gesichtspunkten her an?

Darwisch: Ich möchte gern glauben, daß mein Weg von jetzt an für lange Zeit vorgezeichnet ist. Meine letzten zehn Gedichte haben mich in ein Hin und Her zwischen dem Mythischen und dem Vertrauten versetzt, und dort liegt ein Königsweg, der sich verbreitern wird. Das beruhigt mich, und ich fühle mich in keiner Weise von dichterischer Arbeitslosigkeit bedroht! Etwas in mir sagte mir, daß es für mich nach dem Gedichtband Elf Sterne über dem Auszug aus Andalusien Zeit war, mich an eine Arbeit epischen Stils zu machen. Und ich habe mit den Vorbereitungen dazu begonnen. Ich habe mich in eine Lektüre gestürzt, die mehrere Jahre in Anspruch nehmen wird. Es wird sich um das Jahrhundert Dschingis Khans und seiner Nachkommen handeln, um das Jahrhundert der Mongolen also, in dessen Verlauf sie plötzlich in die Geschichte der Araber und der Welt eingebrochen sind. Sie haben ein riesiges Imperium gegründet, vielleicht das größte der Geschichte. Ein Reich, das sie auf dem Rücken ihrer Pferde mit sich getragen haben. Diese heroische Geschichte betrifft uns in mehr als einer Hinsicht, aber die arabische Literatur hat sich unglücklicherweise nie damit befaßt.

Beydoun: Führen Sie uns damit schon ein Stück weit in Ihr neues Werk ein?

Darwisch: Nach dem Gedichtband Elf Sterne über dem Auszug aus Andalusien habe ich, statt einen steilen Weg zu wählen, einen kleinen Querweg genommen. Vielleicht mußte ich erst einmal Atem schöpfen und die Bruchstücke meiner Inspiration sammeln. Die Schwierigkeit liegt nicht im poetischen Vermögen, sondern in der Fähigkeit, es in einem Gedicht zu konkretisieren. Und es ist nicht immer notwendig, einen aufsteigenden Weg zu wählen. Wenn man einen Gipfel erreicht hat, ist es besser, wenn der Weg danach nicht mehr steil, sondern eben ist, damit man über einen Bewegungsspielraum verfügt. Meine Perspektive ist gänzlich offen, ohne a priori, und das wird für die, die meinen poetischen Werdegang kennen, nichts Überraschendes sein. Aber ich muß in Zukunft ökonomischer sein und meine Verpflichtung gegenüber den Gebieten, die meiner Inspiration am ehesten entsprechen, wahrnehmen.
Ein Gedicht kann alles ausdrücken. Nichtsdestoweniger müssen wir es von allem fernhalten, was störend auf es wirkt: von dem Kurzlebigen, dem Konjunkturbedingten, der Unmittelbarkeit, der Unbeständigkeit innerhalb des Realen. Ich spreche mit Absicht von der Unbeständigkeit des Realen, nicht von seinem Gewicht.

Beydoun: Zieht die palästinensische Literatur heute auf der Suche nach neuen Wegen Inspiration aus dem Tod einer Welt?

Darwisch: Die palästinensische Literatur ist sich seit etwas mehr als einem Jahrzehnt darüber bewußt geworden, daß sie ihre Themen vermenschlichen und vom Objekt, Palästina, zum Subjekt, dem Palästinenser, übergehen muß. Mittlerweile haben zahlreiche Schriftsteller, ausgehend von ihren persönlichen Erfahrungen, die Berechtigung dieser Wahl demonstriert. Es handelt sich keineswegs um einen Rückzug auf sich selbst, um eine Taubheit gegenüber der äußeren Realität, sondern um die Entscheidung, sich an den Grenzbezirk zwischen dem Drinnen und dem Draußen zu halten. Es ist das Bestreben jedes Schriftstellers, die Schwelle zwischen seiner äußeren Existenz und seinem Innern zu überschreiten. Wir hätten nicht all der vielen Niederlagen bedurft, um zu wissen, was Poesie ist. Heute unterliegt unsere Literatur Bewertungskriterien, die unabhängig sind von nichtliterarischen Gesichtspunkten. Sie mißt sich an ihren eigenen Wertmaßstäben. Es war notwendig, daß die Schriftsteller dies angesichts einer Zeit des allumfassenden Geschwätzes begreifen – einer Epoche, wo alle Welt es sich in der Vorherrschaft des Geschwätzes bequem macht.

Beydoun: Des Geschwätzes oder der Rhetorik?

Darwisch: Des Geschwätzes. Das Leben ist reich an Wegweisern und eine Niederlage beweiskräftiger als illusorische Siege. Die Stimme der Gruppe, die sich sämtlicher Dinge bemächtigt, erstickt die Eigentümlichkeiten der Individuen. Es ist Zeit, daß die gebrochene, ambivalente, schmerzliche Stimme des palästinensischen Individuums erklingt. Seine Erfahrungen bilden ein außerordentlich reiches Material, vorausgesetzt, man nimmt sich die Zeit zur poetischen Kontemplation. Und diese Zeit steht heute in höherem Maße zur Verfügung als in der Vergangenheit. Damit meine ich, daß unsere poetische Sprache nicht mehr so hastig und atemlos ist. Der Palästinenser hält heute seinen Traum in Händen und kann den Grad seiner Wahrhaftigkeit ermessen, kann ermessen, ob dieser Traum derselbe geblieben ist wie früher und seinem ursprünglichen Bild noch entspricht. Ist das Vaterland schön, ist es bedrohlich, oder gibt es Geborgenheit? Die Palästinenser haben ihre Tragödie noch nicht erzählt, und jetzt können sie es endlich tun, weil der Schlachtenlärm sich ein wenig gelegt hat. Die Literatur kann sich in einer solchen Zeitspanne selbst besser hören und in Frage stellen. Ich habe eine Reihe meiner Gedichte, die durch nichts anderes als dadurch gerechtfertigt waren, daß sie sich mit dem Thema Palästina beschäftigten, ad acta gelegt. Ich habe das in der Überzeugung getan, daß der palästinensische Dichter sein Ich wiedergewinnen muß und daß dann die palästinensische Tragödie ihren differenziertesten Ausdruck finden wird.

Beydoun: Innerhalb derselben Konstellation von Kräften, die im Exil vorherrschte und jetzt ins Land zurückgekehrt ist?

Darwisch: Unsere Realität wandert mit uns. Sie hat sich niemals an einen Ort gebunden. Die Palästinenser tragen ihre Realität auf ihren Schultern, in der Sprache, den Wahrnehmungen oder dem Bewußtsein. Wir alle leben gleichzeitig im Zentrum der Ereignisse und außerhalb von ihnen. Jetzt haben wir endlich die Möglichkeit, uns auf uns selbst zu stützen und das Bild, das wir von der Realität haben, einer Prüfung zu unterziehen. Das ist für uns eine zusätzliche Möglichkeit, uns selbst zu betrachten, über unser Bild von uns selbst in Vergangenheit und Gegenwart nachzudenken. Was waren wir vor vierzig Jahren? Was waren wir in Beirut, in Tunis und auf der Weite der Meere? Was waren wir innerhalb der Bilderwelt der Poesie? In der arabischen Sprache? Es gibt noch zahlreiche gelebte Erfahrungen, die es nun ans Licht zu bringen gilt.

Beydoun: Einschließlich des Bildes, das der Andere sich von uns macht?

Darwisch: Auch die Beziehung zum Anderen. Oder besser gesagt, unseren Zusammenstoß mit dem Anderen und das stereotype Bild, das wir von ihm haben. Wird das, entsprechend der Befürchtung, die Sie vorhin geäußert haben, dazu führen, daß der Andere uns infiltriert? Werden wir uns dann bei ihm für jenes gewaltige Mißverständnis entschuldigen? Wird es im Gegenteil zu einer anderen Konzeption der Natur des Konflikts, zu einer anderen Konzeption unserer Identität führen? Wird diese Identität ihrer arabischen Komponente einen größeren Platz einräumen? Oder wird sie diese im Gegenteil verringern? Wird es uns gelingen, zwischen nationaler und ästhetischer Identität einen neuen Horizont zu finden? Wir befinden uns heute am Beginn eines Zeitabschnitts, in dem alle Möglichkeiten offenstehen. Und unabhängig davon, wie alles ausgeht, ist nunmehr unbestritten, daß unsere Literatur in Zukunft ausschließlich aufgrund ihres eigenen Wertes beurteilt werden wird. Von jetzt an werden uns keinerlei mildernde Umstände mehr zugebilligt werden, und die Märtyrer, wie viele es auch sein mögen, werden nun kein einziges mißglücktes Gedicht mehr rechtfertigen können!

Beydoun: Sie haben gerade gesagt, daß Sie ein episches Gedicht vorbereiten. Was heißt in diesem Zusammenhang „vorbereiten“?

Darwisch: Wenn ich ein Gedicht schreibe, das in einer ganz bestimmten Zeit angesiedelt ist, überprüfe ich peinlich genau meine Quellen. Bevor ich Elf Sterne über dem Auszug aus Andalusien schrieb – und das ist kein besonders langes Gedicht –, habe ich ungefähr fünfzig Werke über das muslimische Spanien gelesen. Ebenso habe ich vor dem Gedicht „Rede des roten Mannes“ ungefähr zwanzig Bücher über die Geschichte der Indianer und ihre Literatur gelesen. Ich habe ihre Texte, die Reden ihrer Häuptlinge in mich aufgesogen. Ich weiß, daß diese Herangehensweise im allgemeinen wenig akzeptiert wird, aber für mich sind diese Materialien eine absolute Notwendigkeit. Ich muß die Kleidung kennen, die Namen der Örtlichkeiten, die Pflanzenwelt, die Lebensweisen, die äußere Umgebung, die Werkzeuge, die Waffen, die Transportmittel… Sie werden demnach verstehen, daß ich, nachdem ich einmal beschlossen habe, die arabischen Episoden des mongolischen Epos zu behandeln, die Dokumente über jene Epoche studieren muß.

Beydoun: Gehört zu diesen „vorbereitenden Maßnahmen“ auch die Lektüre von Poesie?

Darwisch: Nein. Ich lese im übrigen sehr wenig Poesie. Denn ich weiß, daß ich das Risiko eines Übermaßes an Emotionen, eines Überdrusses eingehe, wenn ich es damit übertreibe. Ich würde den jungen Dichtern, wenn ich mir das erlauben darf, raten, nicht zuviel an Poesie zu lesen. Ihre Poesie wird sonst Gefahr laufen, dem, was sie lesen, zu ähneln. Wir sind beständig von der Versuchung unbewußter Nachahmung bedroht.

Beydoun: Was ist Ihre bevorzugte Lektüre?

Darwisch: Ich lese sehr viel. Geschichte, Philosophie und natürlich Romane.

Beydoun: Sie sprechen von einer Art Recherche, die dem Gedicht vorausgeht, von der sorgfältigen vorbereitenden Arbeit der Eingrenzung des Raumes des Gedichts, seines Rahmens, seiner Orte, seiner Einzelheiten. Wie kann ein Gedicht unter solchen Umständen ein Sprung ins Unbekannte, ein Augenblick der Inspiration oder der Offenbarung sein?

Darwisch: Eine berechtigte Frage. Aber ich spreche von dem, was dem eigentlichen Schreiben vorausgeht. Es dauert außerdem einige Zeit, bevor auch nur der erste Funke des Gedichts entsteht. Sobald meine vorbereitende Lektüre mir eine Konzeption, einen Rahmen verschafft hat, tritt sie gegenüber dem Schreiben stark in den Hintergrund. Letzteres gehorcht eigenen Bedingungen, manchmal sind Jahre dazu notwendig. Und man darf nicht vergessen, daß man zwei oder drei Jahre damit zubringen kann, über ein bestimmtes Thema zu lesen, ohne zum gewünschten Ergebnis zu kommen.

Beydoun: Was bildet den Ausgangspunkt eines Gedichts? Eine Idee, ein Wort, ein Klang?

Darwisch: Jedes Gedicht muß der Träger einer Situation, eines Empfindungsbereichs sein. Aber es benötigt außerdem einen innerlichen Katalysator. Jeder Dichter weiß, auf welche Weise der Augenblick der Poesie in ihm entsteht. Auch ich habe meine persönlichen Vorzeichen, die mir mit der Zeit schon vertraut geworden sind. Der Ausgangspunkt des Gedichts kann eine Idee sein, eine Situation, ein Ereignis, eine metaphysische Untersuchung oder ein beliebiger Tatbestand. Das Gedicht ähnelt Wolken, deren Formen man in Bilder verwandeln muß, und die Bilder kommen hinzu, sobald sie ihren Rhythmus gefunden haben. Ich beginne ausnahmslos mit einem Tempo. Sobald die Idee, das Bild oder das Ereignis ihren Rhythmus gefunden haben, weiß ich, daß ich mich an die Arbeit machen kann.

Beydoun: Wollen Sie damit sagen, daß das Gedicht, sobald es seinen Rhythmus gefunden hat, seine Worte findet?

Darwisch: Nein. Die Musik des Gedichts erfordert eigene Anstrengungen. Ich bin dann imstande, mir mein Gedicht visuell vorzustellen, seinen Körper, seine Silhouette zu sehen. Dieser äußere Umriß benötigt eine Umrahmung, die ihn, sobald sie einmal gefunden ist, verändert. Wenn die Umrahmung zart ist, muß die Silhouette es ebenfalls sein. Sie müssen miteinander in Einklang stehen. Es besteht ein wechselseitiger Einfluß zwischen den Bestandteilen eines Gedichts. Aber es geschieht nichts, bevor nicht die richtige Klangfarbe hervorkommt.

Beydoun: Es muß auch ein Gefühl da sein…

Darwisch: Natürlich. Das ist die Bedingung für die Verwandlung von Ideen in Bilder.

Beydoun: Aber was ist zuerst da, die Idee oder das Gefühl?

Darwisch: In jedem Fall ist das Gedicht Teil eines Rhythmus. Was die Frage betrifft, ob die Idee vor dem Gefühl kommt oder umgekehrt, glaube ich nicht, daß es da eine Regel gibt. Es ist notwendig, daß von der Idee selbst ein Impuls ausgeht. Ja, die Idee muß einen Impuls in sich tragen.

Beydoun: Aber die Idee eines Gedichts ist eine recht dunkle Angelegenheit. Sie ist auf gewisse Art schon im Rhythmus vorhanden und auf vom Verstand nicht nachvollziehbare Weise auch in der Klangfarbe selbst.

Darwisch: Die Form bestimmt nicht das Metrum, und das Metrum bestimmt nicht das Thema. Sämtliche Bestandteile des Gedichts wirken zusammen, und ihre wechselseitige Wirkung bestimmt dann die endgültige Form. Es handelt sich um einen komplexen Arbeitsprozeß.

Beydoun: Besteht die Idee sowohl aus dem Rhythmus als auch aus Bildern?

Darwisch: Wir können endlos darüber sprechen, aber das wird nichts an der Tatsache ändern, daß die Erfahrung jedes Dichters einzigartig ist. Sie können sämtliche Dichter der Erde befragen, und sie werden keine zwei finden, die auf die gleiche Art beschreiben, wie ein Gedicht entsteht. Die Poesie widersetzt sich – und das immer stärker – der Literaturkritik und jedem logisch begründeten Verständnis.

Beydoun: Sprechen wir von Ihren schriftstellerischen Gewohnheiten. Welche Papiersorte benutzen Sie? Welche Art von Stift? Wann schreiben Sie?

Darwisch: Ich habe meine Gewohnheiten. Sie bilden fast ein Ritual. Ich vermeide es, nachts zu schreiben. Ich weiß nicht warum, aber ich habe Angst, daß die Zeit nachts ohne Resultat verstreicht. Ich schreibe lieber am Morgen.

Beydoun: Gleich nach dem Aufstehen?

Darwisch: Zwischen dem Aufstehen und dem Moment, wo es mir gelingt, ein „Guten Tag“ herauszubringen, vergehen gut anderthalb Stunden. Die Morgenstunden sind für mich eine triste Zeit.

Beydoun: Und eine gemächliche?

Darwisch: Eine sehr gemächliche. Aber ich schreibe jeden Tag, wenn ich an einem Werk arbeite. Diese strenge Disziplin habe ich mir auferlegt. Ich verbringe jeden Tag drei bis vier Stunden in der Zeit von 10 bis 14 Uhr mit dem Warten auf jene seltsame Angelegenheit, die man Inspiration nennt. Sie kann kommen, während ich gar nicht daran denke, und es kann sein, daß ich stundenlang auf sie warte, ohne daß sie kommt.

Beydoun: Nehmen Sie Änderungen vor?

Darwisch: Sollte dies der Fall sein, schreibe ich das ganze Gedicht noch einmal neu. Viele von meinen Freunden unter den Kritikern wollen gerne die verschiedenen Stadien meiner Manuskripte sehen. Ich sage ihnen, daß sie sich die Mühe sparen können, denn ich lasse keine Entwürfe zurück. Ich schreibe immer alles neu.

Beydoun: Und das Papier?

Darwisch: Weiße, lose Blätter im gängigen Format.

Beydoun: Wie fühlt es sich an?

Darwisch: Es ist recht dick. Und ich schreibe mit Füller.

Beydoun: Mit welcher Farbe?

Darwisch: Schwarz. Ich besitze so gut wie gar nichts, mit Ausnahme von Federhaltern. Davon habe ich eine ganze Menge. Einigen von ihnen haftet für mich ein schlechtes Omen an. Ich spüre manchmal, daß dieser oder jener Federhalter für das Schreiben von Poesie nicht taugt.

Beydoun: Hören Sie Musik beim Schreiben?

Darwisch: Ich höre Musik, entlocke ihr bestimmte Dinge und stehle mir von ihr irgendeinen Sinn. Ich habe außerdem viele Gedichte über Musik geschrieben, so zum Beispiel „Erste Übungen auf einer spanischen Gitarre“ oder „Die Geigen“. Ich höre Instrumentalmusik und ertappe mich plötzlich dabei, wie ich die Worte dazu schreibe.

Beydoun: Sie meinen, daß Sie schreiben, noch während Sie Musik hören?

Darwisch: Ja.

Beydoun: Schreiben Sie in einem geschlossenen Zimmer, oder ist es Ihnen gleich, wo Sie schreiben?

Darwisch: Ich schreibe am liebsten in einem geschlossenen, ziemlich kleinen Zimmer.

Beydoun: Einem Zimmer mit geöffnetem Fenster und Ausblick?

Darwisch: Mit offenem Fenster und Ausblick, vorzugsweise auf einen Baum.

Beydoun: Kommt es vor, daß Sie mitten in der Arbeit aufhören und am nächsten Tag weiterschreiben?

Darwisch: Wenn ich mit meiner Arbeit gewisse Ergebnisse erreicht habe, werde ich manchmal matt im Kopf. Dann höre ich auf. Aber am folgenden Morgen stehe ich sehr früh auf, als ob ein seltsamer Ruf in meinem Innern ertönt, und mache mich, noch bevor ich meinen Kaffee getrunken habe, an die Fortführung der am Vortag unterbrochenen Arbeit. Ich empfinde dann Augenblicke des absoluten Glücks und weiß, was ich am betreffenden Tag zu tun habe. Zu anderen Zeiten wache ich völlig ausgebrannt auf. Und dann bekomme ich eine abscheuliche Laune. Wie Sie, da Sie ja selbst Dichter sind, wissen, wächst das poetische Schreiben auf einem Hintergrund aus Furcht und Entmutigung. Aber manchmal geschieht es, daß man etwas schreibt und dann vor Verzückung ein Allah! ausstößt, als ob ein anderer das geschrieben hätte.

Beydoun: Ist das Ihre Definition der größten Schönheit in der Poesie?

Darwisch: Es ist außerdem der Maßstab, nach dem ich meine Gedichte beurteile. Ich schreibe ein Gedicht; dann lege ich es in eine Schublade. Dort bleibt es für einige Monate, bevor ich es wieder hervorhole. Wenn ich dann den Eindruck habe, es stammt von mir, habe ich den Verdacht, daß ich nicht viel zustande gebracht habe. Wenn ich das Gefühl habe, daß jemand anderes es geschrieben hat, wenn es mir wie eine andere Poesie vorkommt, sage ich mir, daß mir hier etwas gelungen ist. Manchmal, wenn ich von der Musikalität einer Strophe, die ich geschrieben habe, begeistert bin, ertappe ich mich, wie ich im Zimmer hin- und hergehe, fröhlich und zufrieden mit mir selbst diese Strophe skandiere und mir innerlich sage: „Großartig, großartig!“ An solchen Tagen, nach solchen Augenblicken intensiven Glücks belohne ich mich mit einem Essen in einem guten Restaurant; ich lade Freunde ein und veranstalte eine kleine Feier.

Beydoun: Sie haben gerade von Ihren Arbeiten während der letzten zehn Jahre gesprochen. Glauben Sie, daß Sie in dieser Zeit den Vollbesitz Ihrer Möglichkeiten erreicht haben?

Darwisch: Wenn ich eine Anthologie meiner Gedichte zusammenzustellen hätte, wenn man mich bitten würde, mein eigener Kritiker zu sein, würde ich behaupten, daß ich mich nach meinem Weggang aus Beirut dem eigentlichen Bereich der Poesie angenähert habe. Im Gegensatz zu dem, was gemeinhin angenommen wird, glaube ich, daß meine Beiruter Zeit zwiespältig war. Hauptsächlich aufgrund des Drucks durch den Bürgerkrieg und aufgrund des Schmerzes, der auf der Haut brennenden Gefühle und nicht zuletzt der Pflicht, Totenklagen zur Erinnerung an Freunde zu verfassen, die buchstäblich in meinen Armen gestorben sind. Mit diesen Klageliedern tat ich nicht nur der nationalen Pflicht Genüge, sondern auch meinen eigenen Gefühlen, und in Beirut herrschte eine enorme Erregbarkeit. Es gibt nichts Gefährlicheres für die Poesie als die brutalen Schwankungen der Gefühle. Das poetische Schreiben erfordert eine stabile Temperatur um die zwanzig Grad herum! Frostwetter und Hundstage töten die Poesie, und Beirut war ein Hexenkessel, ein Brodeln von Gefühlen und Visionen. Beirut war ein Territorium der Ratlosigkeit.

Beydoun: Gibt nicht auch Ihre Gedichtsammlung Versuch Nr. 7 diese Ratlosigkeit wieder?

Darwisch: Ganz gewiß. Eine Ratlosigkeit angesichts des einzuschlagenden literarischen Weges. Diese Sammlung bildete einen Wendepunkt, die Schwelle zwischen zwei Perioden meiner Poesie – der mittleren Phase, während der ich sortiert und meine Wahl getroffen habe, und der späteren Phase. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich bin der Ansicht, daß die letzten zwölf Jahre meine besten gewesen sind.

Beydoun: Die Gedichtsammlung So ist sein Bild, und so ist der Selbstmord des Liebenden nimmt in Ihrem Werk sowohl durch ihren künstlerischen Stellenwert als auch durch ihre Struktur einen äußerst bedeutenden Raum ein. Aber unglücklicherweise hat es von seiten der Kritik nicht die Aufmerksamkeit erhalten, die es verdient, und Sie haben Ihrerseits die Erfahrung nicht weiterverfolgt, die das Neue an dieser Sammlung darstellte.

Darwisch: Der zweite Teil Ihrer Frage geht mich mehr an als der erste. Unser Leben in Beirut hat diesem poetischen Projekt nicht erlaubt, sich zu entfalten. Dieses Werk zählt tatsächlich zu meinen wichtigsten und zeigt eine neue Herangehensweise. Aber dann kam der Bürgerkrieg mit seinen Erschütterungen…

Beydoun: Erschütterungen des Bewußtseins?

Darwisch: Nein. Das Bewußtsein ist kohärenter geworden. Aber die Erschütterungen, die Zersplitterung unseres Lebens haben mir den Blick geraubt; außerdem habe ich nicht erkannt, daß dieses Werk neue Wege eröffnete. Die Kritiker haben dieser Sammlung keine Aufmerksamkeit geschenkt. Die Literaturkritik in Beirut schenkt überhaupt keiner Sache Aufmerksamkeit – wirklich gar keiner. Ich sage Ihnen ganz offen: Beirut ist ein hervorragender literarischer Klub, ein offener Klub von Dichtern. Aber das ist kaum ausreichend für das Bestehen einer qualitativ hochwertigen Kritik. Und ich sage es noch einmal: Beirut schenkt niemandem Aufmerksamkeit. Weder mir noch anderen. Nicht einmal sich selbst.

Beydoun: Das gilt auch für Sie selbst; auch Sie haben Beirut keine Aufmerksamkeit geschenkt.

Darwisch: Immerhin glaube ich, daß ich der erste war, der Beirut in der Poesie ausdrücklich benannt hat – noch vor den Libanesen selbst. Niemand vor mir hat ein Gedicht über Beirut geschrieben, als ob Beirut ein für jedes Schreiben unzugängliches Thema sei. Ich habe die Unverfrorenheit besessen, über Beirut zu schreiben, noch bevor seine eigenen Kinder es getan haben. Davon abgesehen bin ich schon immer respektlos gewesen, wenn es darum ging, eine Stadt zum Sujet zu machen. Als ich über Kairo und den Nil schrieb, hat mich der ägyptische Dichter Amal Danqal gewarnt: „Wenn du über Themen wie dieses schreibst, solltest du dich sehr in acht nehmen. Wie kannst du behaupten, daß der Nil ein kurzes Gedächtnis hat? Kein Ägypter wird das akzeptieren.“
Die Tatsache, daß man in einer Stadt lebt, gibt einem das Recht, unverblümt über sie zu sprechen, ohne auf die Regeln der Gastfreundschaft Rücksicht zu nehmen und ohne danach Schuldbekenntnisse abzulegen. Aber sobald wir einmal in der Falle des Chauvinismus, des lokalen Sektierertums und unsinniger Frontstellungen gefangen sind, bin ich auf einmal verpflichtet, mich dafür zu entschuldigen, daß ich über Beirut, Kairo oder Damaskus geschrieben habe. Die Beiruter schrien einstimmig im Chor: „Mit welchem Recht schreiben Sie über Beirut?“ Das ist barer Unfug. Wenn man über Paris schreibt, wird kein Franzose kommen und von einem Rechenschaft verlangen. Wenn Sie New York beleidigen, regt kein Amerikaner sich darüber auf. Sämtliche Dichter, angefangen bei Lorca, haben New York beleidigt, und niemand ist darüber in Wut geraten.

Beydoun: Das stimmt, das haben selbst amerikanische Dichter, wie zum Beispiel Allen Ginsberg, getan.

Darwisch: Lorca schrieb einen ganzen Band gegen New York und gegen sich selbst. Ich finde, nebenbei bemerkt, daß diese Sammlung, die Lorca vor allem gegen sich selbst geschrieben hat, nicht zu seinen besten Werken gehört. Was nun aber So ist sein Bild, und so ist der Selbstmord des Liebenden betrifft, so haben objektive Gründe die Weiterführung dieser Gedichtsammlung verhindert.

Beydoun: Dies einmal zugegeben, muß man dennoch sagen, daß Sie selbst nicht mehr darauf zurückgekommen sind.

Darwisch: Ach, wenn das die einzige verpaßte Gelegenheit wäre… Ich hätte mich von zahlreichen „Verpflichtungen“ freimachen können. Aber jene „Verpflichtungen“ haben auch eine positive Seite gehabt: Sie haben das Vertrauen zwischen mir und meinen Lesern aufrechterhalten. Und so sind sie mir später gefolgt, als ich mich gegen meine eigenen Formen aufgelehnt habe; und so wie ich ihnen Kredit gegeben hatte, haben sie mir Kredit gegeben. Bevor ich mich ins Experimentieren gestürzt habe, waren meine Schulden gegenüber meinen Lesern bereits vollständig bezahlt. Und das hat mir die Dinge sehr erleichtert.

Beydoun: Ich möchte noch einmal auf Ihr Buch „ Warum hast du das Pferd seiner Einsamkeit überlassen?“ zurückkommen. Wir haben von autobiographischen Aspekten gesprochen; handelt es sich dabei nicht auch um eine poetische Autobiographie?

Darwisch: Absolut. Es ist eine poetische Autobiographie. Einige Leute haben das nicht erkannt. Ich habe jedoch absichtlich die „Erklärung Bertolt Brechts vor einem Militärtribunal“ in diese Sammlung aufgenommen; das Gedicht habe ich in den sechziger Jahren geschrieben; außerdem die „Auszüge aus den Byzantinern des Abu Firas al-Hamdani“, in dem der Reim eine fundamentale Rolle spielt, oder „Erste Übungen auf einer spanischen Gitarre“, die von meiner ersten Begegnung mit der Poesie Lorcas erzählen. Es stimmt, daß diese Sammlung gleichzeitig persönliche und politische Autobiographie ist.

Beydoun: Sie beharren oft auf bestimmten Worten. Das gilt zum Beispiel für das Wort „Name“, das in Ihren Gedichten allgegenwärtig ist. Warum?

Darwisch: Das Menschsein des Menschen hat mit der Aneignung von Namen angefangen. Der Gebrauch, den ich von ihnen mache, ist nichts als ein Zurückgehen auf den ersten Augenblick der Erkenntnis, auf die erstmalige Entdeckung des Menschen durch sich selbst. Es gibt außerdem noch einen mehr autobiographischen Grund persönlicher wie kollektiver Art in diesem Erinnern an die Namen meines Landes, jenes Ortes, seiner Geschichte und seiner Kultur. In bezug auf diese Namen habe ich das Gefühl, daß ich verpflichtet bin, für ihre Verteidigung zu sorgen.

Beydoun: Sie haben in einem Ihrer Gedichte gesagt: „Noch vor Imru al-Kais werden wir Sophokles wählen.“ Diese Feststellung erweckt unsere Neugier. Was wollen Sie damit andeuten?

Darwisch: Das Gedicht, von dem Sie sprechen, beginnt in der Atmosphäre Kanaans. Dann geht es über zu der Idee der Mischung mit dem Anderen auf unserer Erde. Es versucht, eine harmonische Beziehung zwischen dem Ich und dem Anderen zu formulieren, die kulturelle, einschließlich der poetischen Identität zu etwas zu erweitern, das mehr umfaßt als mein Arabischsein.
Sophokles ist Imru al-Kais ganz einfach vorausgegangen. Und ich gehöre zu denen, die sich zu dem Gedanken hingezogen fühlen, daß die gesamte Poesie der Menschheit in Wirklichkeit nur ein einziger Gesang ist, in dem die Dichter einander abwechseln. Sophokles hat die griechische Tragödie in dem Sinne verändert, daß er die Intervention der Götter ins menschliche Schicksal abschwächt. Die Poesie ist für mich ein Ganzes, das keine andere Nationalität der Sprache als die der Poesie kennt. Das ist der Grund, weshalb ich nicht zögere, Sophokles zu wählen, ganz unabhängig von meinem moralischen Urteil über Imru al-Kais, der, wie ich in anderen Gedichten gesagt habe, die Seite des Kaisers von Byzanz gewählt hat.

Beydoun: Ich habe diesen Vers anders verstanden. Ich habe darin zweierlei Gleichsetzungen gesehen: die eine zwischen Imru al-Kais und den Klagen über die Ruinen des Lagers der Geliebten oder, anders gesagt, dem nostalgischen Gesang und die andere zwischen Sophokles und der Tragödie. Indem Sie Sophokles vorziehen, akzeptieren Sie das tragische Schicksal.

Darwisch: Vielleicht habe ich das ja ebenfalls sagen wollen. Vielleicht habe ich es unbewußt gesagt. Sie wissen, daß wir nicht von allem Kenntnis haben, was aus unserem Unbewußten kommt. Aber Ihre Lesart gefällt mir, und wenn ich eher darauf gekommen wäre, hätte ich sie zweifellos übernommen.

Beydoun: Sie sind ein sehr populärer Schriftsteller, aber es ist Ihnen dennoch gelungen, sich nicht von Ihrem Publikum auffressen und in tödliche Kompromisse verstricken zu lassen. Sind Sie von dieser Popularität nicht dennoch beunruhigt?

Darwisch: Mein Problem ist, daß viele meiner Leser von mir verlangen, an einer bestimmten Stelle zu verharren und dabei die Sprache zu benutzen, die ihrer Ansicht nach ihre Situation am besten widerspiegelt. Ich habe dennoch meinen gewohnten Text verlassen und bin das Risiko eingegangen, diese Leser zu verlieren. Aber ich konnte nur das tun, was meinen ästhetischen Vorstellungen entsprach. Und ich glaube, daß ich richtig gehandelt habe und daß meine Leser meine Wahl respektiert haben.
Man darf nicht herablassend vom „Publikum“ sprechen. Selbst wenn es zunächst einmal kulturell und sozial gesehen ganz unterschiedlich ist, weiß dieses „Publikum“, wenn es sich zu einer Lesung versammelt oder wenn es einen Gedichtband in Händen hält und ein Gedicht liest, ganz genau, was es tut. Die Evolution der Sprache des Dichters entwickelt sich zusammen mit einer Evolution des poetischen Geschmacks. Es ist Zeit, in aller Bescheidenheit anzuerkennen, daß das Publikum einen Geschmack und eine Kenntnis in bezug auf die Poesie hat, wie wir sie selbst nicht besitzen. Wer ist denn das Publikum? Das sind wir selbst und andere als wir. Man spricht von „Popularität“, aber ich sehe nichts anderes als eine Gruppe von Menschen, die mir überall, wo ich hingehe, zuhört, und ich weiß, daß uns Vertrautheit, Gewohnheiten, wechselseitige Erwartungen miteinander verbinden. Sie waren kürzlich bei meiner Lesung in Amman dabei, und Sie haben gewiß keinerlei Verständigungsprobleme, keinerlei Täuschung, keinerlei Fehlen von Harmonie zwischen meinen Zuhörern und mir festgestellt. Alles ist wunderbar vonstatten gegangen. Ich habe die Gefahr eines Bruchs mit denen, die gekommen sind, um mich zu hören, umgangen, und ich habe das ohne große Einbußen getan. Ich sehe im Gegenteil in der Vielzahl meiner Lesungen eine Ermutigung, bis an die Grenzen meines Abenteuers zu gehen. Die Basis all dessen ist das Vertrauen. Ein Vertrauen im Hinblick auf Moral und Poesie. Das ist für mich persönlich unentbehrlich, es dient außerdem der gegenwärtigen arabischen Literatur. Mit anderen Worten: diese Haltung ist für die anderen Schriftsteller von Nutzen. Ich breche das Eis nicht nur zugunsten meines eigenen Bootes, sondern auch für das große Schiff der zeitgenössischen arabischen Poesie. Ich fordere die Dichter, die das Publikum beleidigen, auf, sich einmal darüber klar zu werden, daß es unter anderem das Publikum ist, das ihnen dabei hilft, ihre Abenteuer weiterzuverfolgen. Selbst wenn ein mittelmäßiger Schriftsteller bei gewissen Schichten der Gesellschaft Erfolg hat, bedeutet das auch, daß er Menschen in das Territorium der Dichtung mitgenommen hat.
Während meiner langen Erfahrung habe ich wiederholt von vorne angefangen. Nach der Veröffentlichung meines ersten Gedichtbandes, Blätter des Olivenbaums, habe ich einen gewissen Erfolg gehabt. Anläßlich des zweiten, Ein Liebender aus Palästina, hat die sich auf den Marxismus berufende Kritik von mir verlangt, ich solle zu meiner Vergangenheit zurückkehren. Zu welcher Vergangenheit? Ich, der ich noch nicht mehr veröffentlicht hatte als einen einzigen Gedichtband!
Nach jedem meiner Gedichtbände stoße ich wieder auf Kritiker, die von mir verlangen, ich solle zu einem früheren Werk zurückkehren. Da meine zweite Gedichtsammlung thematisch vom Land zur Stadt übergeht, haben manche die Forderung an mich gestellt, mich wieder mit der Landwirtschaft zu befassen!
Aber die Poesie ist bei alledem ihren Weg gegangen, und während meiner dreißigjährigen Erfahrung habe ich die Liebe und den Respekt der Menschen nicht verloren. Die Fähigkeit der Leserschaft, ihren Geschmack zu entwickeln, ist unbegrenzt; nur die Dichter sind verantwortlich, wenn das Publikum in Altes zurückfällt. Wenn ich von der Mittelmäßigkeit des Geschmacks der Leserschaft reden höre, suche ich den Grund dafür im poetischen Text selbst. Das Niveau des allgemeinen poetischen Bewußtseins ist ausschließlich das Werk des Dichters.
Es sind die Dichter, die der Poesie Leben geben, und sie sind es auch, die sie töten. Und die Beziehung zwischen den Dichtern und ihrer Leserschaft hängt von der verantwortlichen Haltung der Schriftsteller ab. Und wenn man mir Vorhaltungen macht, daß der Dichter nicht die Rolle einer Tageszeitung oder eines Schullehrers spielt, antworte ich, daß das Publikum der Poesie immer elitär ist, daß die Poesie weder mit dem Chanson konkurrieren noch sich in tägliches Brot verwandeln kann. Das zu erhoffen ist vielleicht ein legitimer Traum. Aber es ist nur ein Traum.

 

 

 

Der Dichter als Gewissen seines Volkes

Das Schicksal hat es gewollt, daß meine individuelle Stimme in einer kollektiven aufging und daß mein Volk sich in meiner Stimme wiedererkennt.
Mahmoud Darwisch

Die nun schon seit einem halben Jahrhundert andauernde palästinensische Tragödie hat in Mahmoud Darwisch ihren größten Dichter hervorgebracht. Seine Poesie ist tief in der Erde Palästinas verwurzelt.

Jede Faser meines Körpers und meines Seins ist geprägt von jeder Krume meiner Heimaterde. Sie und ich – jeder von uns beiden ist ein Teil des anderen.

Poesie und Palästina sind bei Mahmoud Darwisch eins. Er ist – wie es im Titel eines seiner Gedichte heißt – der „Geliebte Palästinas“. Als jemand, der aus seinem Land verbannt wurde, hat er nie aufgehört, seine verlorene Heimat zu besingen. Tief verbunden mit der Geschichte und Kultur seines Landes, gibt seine Stimme dem Aufschrei seines Volkes gegen das Unrecht Ausdruck, das die Palästinenser bis auf den heutigen Tag erleiden müssen vor den Augen einer Welt, die gegenüber ihrem Schicksal zumeist gleichgültig geblieben ist. „Angesichts der Barbarei“, schreibt Mahmoud Darwisch, „kann die Poesie nur überleben, indem sie Partei für die Schwachen ergreift – wie ein Grashalm, der aus einer Mauerritze hervorsprießt, während die Armeen vorüberziehen.“
Seitdem er in den sechziger Jahren zum ersten Mal seine Stimme erhob, wird Mahmoud Darwisch nicht nur von seinen Landsleuten, sondern in der ganzen arabischen Welt bewundert und verehrt. In Beirut und Damaskus, in Bagdad, Kairo und in Casablanca strömen die Menschen in Massen zusammen, um seine Lesungen zu hören. Überall in der arabischen Welt – an den Universitäten, in den literarischen und politischen Clubs und selbst in den Gefängnissen – werden seine Gedichte rezitiert. In den besetzten Gebieten kann jedes Kind seine Verse auswendig, und die Alten sagen sie mit Tränen in den Augen auf. Im Gazastreifen forderten die jungen Steinewerfer der Intifada die israelischen Besatzungssoldaten heraus, indem sie ihnen Mahmoud Darwischs Gedichte entgegenschleuderten. Selbst die Beurs der französischen Vorstädte haben eine seiner bekannten Parolen aus den siebziger Jahren übernommen, um mit den Worten „daß ihr es wißt, ich bin Araber!“ die Polizei zu provozieren. Darwisch wurde damit zum Symbol und zur moralischen und politischen Instanz seines gequälten Volkes, welches unter israelischer Besatzung oder verstreut in aller Welt lebt.
Mahmoud Darwisch wurde 1942 in Barwa, einem kleinen Dorf in Galiläa, als Sohn eines armen Bauern geboren. Als 1948 der erste Krieg zwischen Israel und den arabischen Nachbarländern ausbrach, war er gerade fünf Jahre alt. Seine Familie war – wie Tausende anderer Familien – gezwungen zu fliehen und lebte einige Jahre im Libanon. Dort hörte der junge Mahmoud zum ersten Mal das Wort „Flüchtling“, das von nun an zur „Identität“ eines ganzen Volkes werden sollte. Als die Familie 1952 in ihre Heimat zurückkehrte, war aus dem palästinensischen Dorf Barwa ein israelischer Kibbuz geworden, in dem nun russische und jemenitische Juden lebten. Verletzt und in tiefster Seele getroffen, flüchtete sich der Zehnjährige in die Welt der Bücher, „und die Heimaterde wurde Sprache“, wie es in einem seiner schönsten Gedichte heißt.
Angeregt von seinem Großvater, mit dem er lange Spaziergänge durch die Felder unternahm, las der angehende Dichter den Koran und die Werke der großen arabischen Klassiker. Es war jedoch vor allem seine Mutter – eine schöne, aber strenge Frau –, in der er später die Quelle seines poetischen Talents zu erkennen glaubte; bei Begräbnissen hörte er sie weinend Worte reinster Poesie vor sich hinsprechen.
In Erinnerung an diese Erlebnisse sagte er einmal:

Wenn man glaubt, daß die poetische Begabung ,erblich‘ ist, so würde ich sagen, daß die Worte – und selbst das Schweigen – meiner Mutter der Ursprung meiner Poesie sind.

Als Vierzehnjähriger schrieb Mahmoud Darwisch sein erstes Gedicht, das er bei einer Schulfeier vortrug. Noch am selben Tag wurde er verhaftet. Er ließ sich jedoch durch die brutalen Verhöre und Drohungen der Besatzer nicht einschüchtern. Sie forderten ihn im Gegenteil heraus, noch flammendere, noch leidenschaftlichere Gedichte zu schreiben. Er „ergriff“ das Wort, die Sprache der Poesie, wie andere zu den Waffen greifen. In der Schule hatte Mahmoud Darwisch Hebräisch gelernt. Hebräisch war auch die Sprache, in der er die griechischen Tragödien und die Dichter las, die später einen großen Einfluß auf ihn hatten: Pablo Neruda, García Lorca, Louis Aragon, Paul Eluard und andere. Zu seinen Vorbildern gehörten vor allem auch die zeitgenössischen arabischen Dichter, die nach dem Zweiten Weltkrieg die arabische Lyrik modernisiert und von den starren Formen des klassischen Versmaßes befreit hatten. Es waren unter anderem der syrische Dichter Nizar Kabbani sowie die Iraker Badr Schakir al-Sayab und Abd al-Wahab al-Bayati, die ihn für die moderne Poesie begeisterten. Unter ihrem Einfluß fing er an, mit seinen Gedichten das palästinensische Volk aufzurütteln, sich gegen diejenigen aufzulehnen, die seine Heimat „gestohlen“ haben.
Als Darwisch jedoch erkannte, daß Worte und Demonstrationen als Widerstandsformen nicht ausreichten, trat er der Kommunistischen Partei Israels (Rakach) bei und beteiligte sich an politischen Aktionen. Immer wieder kam er wegen seines politischen Engagements und wegen seiner Gedichte ins Gefängnis; mehrmals wurde er unter Hausarrest gestellt. Die tägliche Konfrontation mit der israelischen Militärmacht und die damit verbundenen Demütigungen und Mißhandlungen hinderten den jungen Dichter nicht daran, eine Liebesbeziehung zu einem jüdischen Mädchen polnisch-russischer Herkunft einzugehen und freundschaftliche Kontakte zu jungen Israelis zu knüpfen, vor allem zu einem jungen Mann aus der Nachbarschaft, der ihm und dem palästinensischen Volk immer wieder seine Sympathie und Solidarität versicherte. Doch der Krieg setzte dieser Freundschaft bald ein Ende. Der junge Nachbar verließ das Land, weil er die Politik Israels nicht mehr akzeptieren konnte. Mahmoud Darwisch widmete ihm sein Gedicht „Ein Soldat, der von weißen Lilien träumt“. Auch die Liebe konnte den Spannungen nicht standhalten, die sich aus der politischen Situation ergaben:

Ich habe immer große Anstrengungen unternommen, um die menschlichen und politischen Aspekte einer Beziehung miteinander zu versöhnen. Doch ich bin immer in eine Sackgasse geraten. Es war unmöglich, sich einer glücklichen Liebe hinzugeben. Die Realität provozierte ständigen Streit, und die feindliche Atmosphäre drang selbst in die intimsten Beziehungen ein. Mann und Frau umarmten sich, doch der Feind kauerte unter ihrem Bett.

Inzwischen gilt Mahmoud Darwisch in der ganzen arabischen Welt als einer ihrer größten Dichter. Seine Gedichte haben längst die Barrieren durchbrochen, die dem palästinensischen Volk unter israelischer Besatzung auferlegt wurden, und erreichten die palästinensischen Flüchtlingslager in Damaskus, im Libanon, in Jordanien und anderswo. Nachdem er Mahmoud Darwischs Gedichte und die seines Freundes Samih al-Kassims gelesen hatte, sprach der ägyptische Literaturkritiker Rajah al-Nakasch „von einem neuen Atem in der palästinensischen und arabischen Poesie“.
Die Befürchtung, seine Poesie könnte angesichts eines von Angst und Schrecken dominierten täglichen Lebens austrocknen und ihm zum „Provinzdichter“ machen, führte Mahmoud Darwisch 1970 zu dem Entschluß, ins Exil zu gehen. Wenn der Dichter seine Heimat verliert, dann werden Sprache und Worte zu dieser verlorenen Heimat. Wo immer ihn sein Exil auch hinführte – nach Beirut oder Kairo, nach Tunis oder Paris –, das verlorene Palästina, „das die Väter nicht zu verteidigen wußten“, wurde nun zu einem unendlichen, ergreifenden Gesang, einer Hymne an die Erde, das hellenische Meer und an die Geschichte: „Diese drei Elemente“, so erklärt er, „sind tatsächlich essentiell in der palästinensischen Poesie, in meiner jedenfalls. Die Erde, um die es sich hier handelt, ist nicht immer die Palästinas, ganz so, als hätten die Grenzen sich verwischt. Sämtliche Grenzen: die, welche die Länder voneinander trennen, die, welche die Menschen trennen, die zwischen den von den Besatzern beschlagnahmten Ländereien und die der Identitäten. Ich persönlich versuche, all diese Dimensionen miteinander zu vermischen, sie zu bestimmten Augenblicken in einer von mir beabsichtigten, gleichsam mystischen Einheit verschmelzen zu lassen. Einer Einheit des Geschaffenen, in der die Frau, die Mutter und die Geliebte eins sind, in der die Unterschiede zwischen dem Menschen und der Erde in einem Glanz der Heiligung und Verehrung verschwinden. Später kam auch noch der Augenblick des plötzlichen Aufbruchs, nicht nur aus dem Heimatland, sondern auch aus dem Land an der Grenze zum Meer in die Heimatlosigkeit.“
Nach den blutigen Ereignissen des „Schwarzen September“ von 1970, als König Hussein von Jordanien die Militärbasen der palästinensischen Widerstandsorganisationen sowie auch einige Flüchtlingslager mit schweren Waffen angriff, ließ sich Yassir Arafats PLO in Beirut nieder, wo Mahmoud Darwisch die nächsten Jahre seines Exils verbrachte. Dann brach der libanesische Bürgerkrieg aus, und die Palästinenser erlebten eine weitere Tragödie. 1976 intervenierte die syrische Armee im Libanon, bombardierte das Lager von Tel al-Zaatar, wobei Hunderte von Frauen, Kinder und alte Menschen ums Leben kamen.
Als die israelische Armee im Sommer 1982 in Beirut einmarschierte, war Mahmoud Darwisch in der belagerten Stadt. Ein Jahr später veröffentlichte er einen Prosatext mit dem Titel „Eine Erinnerung für das Vergessen“, der heute von arabischen und europäischen Kritikern als der beste Augenzeugenbericht über die Belagerung der libanesischen Hauptstadt angesehen wird. Dieser Text ist in einer Sprache geschrieben, die dem Eisen der Granaten und Geschosse wie ein Panzer trotzt. Den Titel kommentierte Mahmoud Darwisch folgendermaßen:

Das Vergessen ist eine Gnade. Der Mensch kann nicht ohne diese Dialektik zwischen Gedächtnis und Vergessen leben. Das Gedächtnis ist selektiv: Wir müssen lernen, es zu entrümpeln, um es mit neuen Inhalten zu füllen. Ein ganz finsteres Gedächtnis hindert uns daran, das Licht des kommenden Tages zu sehen. Was mich betrifft, so kann ich nicht sagen, ich werde niemals vergessen. Denn dies ist eine Haltung, die jeden Frieden mit der übrigen Welt und den Anderen unmöglich macht [Darwisch bezeichnet mit dem Begriff der „Andere“ den Fremden, das Gegenüber, den Israeli; A.d.Ü.]. Ich erinnere mich an Beirut, um es vergessen zu können. Das Gedächtnis muß fähig sein, zu vergessen, um nicht ein Hindernis auf dem Weg zum Fortschritt und zur Toleranz zu werden.

Trotz dieser Bereitschaft zu vergessen, fanden die tragischen Ereignisse während des libanesischen Bürgerkriegs, deren Opfer nicht zuletzt die dorthin geflüchteten Palästinenser wurden (erinnert sei an das Massaker von Sabra und Shatila), ihr Echo in den Gedichten Mahmoud Darwischs, der immer sensibler für die Leiden seines vertriebenen Volkes wurde und der einmal sagte:

Die Poesie hat das Recht, die Hoffnungslosigkeit auszudrücken… Ich kenne keine große Dichtung, die das Ergebnis großer Siege wäre – angefangen bei den griechischen Tragödien. Das Mitgefühl mit den Opfern bewegt uns viel mehr als die Ruhmestaten der Sieger. Ich habe das Recht als Dichter, die Niederlage zu bekennen und zu beschreiben. Ich nehme Partei für Troja, weil Troja das Opfer ist. Meine Erziehung, meine Daseinsform und meine Erfahrungen sind die eines Opfers. Und mein Konflikt mit dem Anderen kreist nur um die Frage, wer von uns beiden es verdient, als Opfer bezeichnet zu werden. Ich habe dem Anderen oft im Scherz gesagt: „Vertauschen wir doch unsere Rollen. Ihr seid ein siegreiches Opfer, gespickt mit Nuklearsprengköpfen. Wir sind ein der Herrschaft unterworfenes Opfer, gespickt mit poetischen Köpfen. Ich weiß nicht, ob die poetische Überlegenheit uns eine nationale Legitimität verschafft. Aber die Poesie ist mein Beruf.“

1982 wurde Mahmoud Darwisch in das Exekutivkomitee der PLO gewählt. Zusammen mit Arafats Kämpfern hatte er 1982 Beirut verlassen und lebte seither zwischen Paris und Tunis. In dieser Zeit schrieb er viele bedeutende Reden Yassir Arafats. Der schwierige Balanceakt zwischen dem politischen Aktivisten und dem Dichter hat ihn jedoch nie dazu verführt die Politik über die Poesie zu stellen. Für ihn gibt es ein viel schmerzlicheres, viel gefährlicheres Exil als das geographische – nämlich die Gefahr, daß seine Dichtung von den politischen Aktivitäten „annektiert“ werden könnte.
Im August 1993, kurz vor der Unterzeichnung des Oslo-Abkommens in Washington, trat Mahmoud Darwisch aus dem Exekutivkomitee der PLO aus. Die Wege von Arafat, dem Pragmatiker, und dem schwärmerischen Dichter trennten sich. Darwisch glaubte nicht, daß die Friedensvereinbarung von Oslo zu einem wirklichen Frieden führen würde. Er vertrat diese Position, obwohl er schon seit langer Zeit ein Mann des Friedens war.
Im selben Jahr veröffentlichte Mahmoud Darwisch einen Gedichtband mit dem Titel Elf Sterne über dem Auszug aus Andalusien. Mit Gefühl und Zorn erweist er sich hier als Visionär, als jemand, der erschöpft ist von der Bürde, die Wunden und Tragödien seines Volkes in Worte zu fassen. Er fühlt, daß seine Stimme nicht mehr authentisch ist. Er ist nach seinen eigenen Worten „eingeschlossen in einem Schrei, verfolgt von vielen Schatten – den Schatten der Herkunft, den Schatten der Menschen, die seit einem halben Jahrhundert im Exil leben, und den Schatten eines zur Heimatlosigkeit und zum Kampf verdammten Volkes-, ausgeliefert dem ständigen Verrat der Brüder und dem ewigen Verlangen, nach Hause zurückzukehren. Ich bin derjenige, der in seinen Wunden die Geschichte der Völkerwanderungen erblickt, von den Tagen der Höhlenbewohner bis in die Neuzeit.“
Nach langen und schwierigen Verhandlungen mit den israelischen Behörden durfte Mahmoud Darwisch im Oktober 1996 – nach 25jährigem Exil- seine Heimat besuchen. Dieser Besuch war eine wichtige Zäsur, die ihn zu der Erkenntnis brachte, daß der Palästinenser als Mensch an der Schwelle einer Revolte gegen sein eigenes Bild steht. Ein Bild, nach dem er zu leiden, zu sterben oder den heroischen Kämpfer zu spielen hatte. „Heute stehen wir am Beginn einer Periode“, sagte er nach seiner Rückkehr, „in der wir den Palästinenser als Menschen wahrnehmen. Wir beurteilen seine Musik, seine Literatur, ohne an das Mitleid, an die Solidarität zu appellieren. Wir werden unsere Geschichte neu lesen müssen – unsere Geschichte in den Zelten, in den Flüchtlingslagern, im Exil, in den Militärbasen unserer Kämpfer. Wir werden uns die Frage stellen: Sind wir die, die wir einmal waren, oder wer sind wir? Wurden wir betrogen? Unser Kampf war sehr lange. Endlos. Da er so lange dauerte, sind innerhalb des palästinensischen Volkes mehrere Gesellschaften entstanden. Voraussetzung des Friedensprozesses ist, daß sie auf demokratische Weise integriert werden. Andernfalls droht ein Bürgerkrieg.“
Seit dem Machtantritt Benyamin Netanyahus in Israel ist Mahmoud Darwisch, der seit 1996 in Amman lebt, dem Friedensprozess gegenüber noch skeptischer geworden. Und er begründet dies so:

Trotz aller Unzulänglichkeiten und Fallen der Verträge von Oslo hatte sich doch langsam so etwas wie eine „Kultur des Friedens“ entwickelt. Es gab Begegnungen, gemeinsame Symposien und Konferenzen. Benyamin Netanyahu hat uns auf eine „Kultur des Krieges“ zurückgeworfen. Es handelt sich nicht um eine Scheidung; wir leben vielmehr in einer Zwangsehe mit den Israelis, die von der Geschichte diktiert wird. Doch es kann keine normale Beziehung zwischen Besatzern und Besetzten geben. Solange der Andere meine Existenz und mein Recht auf diese Erde, auf der ich geboren bin, nicht anerkennt, kann man sich nicht auf die Reise in eine gemeinsame Zukunft begeben. Mein Traum ist es, zusammen eine gemeinsame Geschichte auf derselben Erde aufzubauen. Vorbedingung dafür ist, daß Israel das Unrecht und die Leiden, die dem palästinensischen Volk zugefügt worden sind, eingesteht und unser Recht auf einen unabhängigen Staat anerkennt.

Mahmoud Darwisch appelliert mit seinem Friedenswillen nicht nur an seine Landsleute, sondern auch an das jüdische Volk, in der Hoffnung, daß es der Poesie eines Tages gelingen wird, „das Massaker zu beenden“.

Hassouna Mosbahi, Vorwort
Aus dem Französischen von Erdmute Heller

Der träumende Revolutionär

Politisch bedingte Vertreibung oder Ausschließung sind nicht dasselbe wie ein persönlich motiviertes Exil. James Joyce, der ein topographisch getreues Dublin literarisch neu schöpfte, und Mahmoud Darwisch, der „die Geographie seiner Kindheit verloren hat“, haben wenig miteinander gemein. Für Darwisch, der mit seinen eigenen Worten „als Exilierter geboren“ wurde, hat der Begriff „Exil“ eine viel weitreichendere Bedeutung angenommen als die der physischen Entfernung von einem bestimmten Ort. Er steht bei Darwisch für eine Art zweites Heimatland, das den einzigen Schutz gegen das quälende Gefühl eines unersetzlichen Verlusts bietet und zugleich einen unvermeidlichen Teil seiner Biographie, die Bildung seines lebenslangen Bildungsromans und das Hauptthema seines dichterischen Werkes darstellt. „Ich entdecke das Exil in jedem Wort, das ich in meinem Wörterbuch nachschlage“, stellt er in einem seiner bestechenden Interviews fest. Denn für ihn ist jedes Wort, das geäußert wird, ein Wort, das aus seiner natürlichen Umgebung gerissen wird und dabei zugleich den heroischen Versuch bezeugt, aus den Trümmern einer entwurzelten und fragmentierten Existenz ein persönliches Wörterbuch zu schaffen.
All das hat aus Mahmoud Darwisch, dem größten Dichter Palästinas, einen der gründlichsten Erforscher des Exils im zwanzigsten Jahrhundert gemacht, und zwar in seinen Prosaschriften, Briefen und Interviews nicht weniger als in seiner Poesie.
Während der Erforscher des Exils an Jahren und Enttäuschungen reicher wird, gewinnt sein „Wörterbuch“ statt an Frustration und Bitterkeit an Reife, Tiefe und Sinn für die allen gemeinsame Menschlichkeit. Der Lyriker, der die frühen deklamatorischen, von Patriotismus durchtränkten Oden schrieb, weicht dem reifen, kritischen Dichter, der aus seiner Welterfahrung gelernt hat, daß „für die Poesie die jetzige [vorstaatliche] Situation vorzuziehen ist. Wenn die Palästinenser einen Staat haben werden, wird die literarische Herausforderung noch größer sein. Viele palästinensische Schriftsteller berufen sich darauf, daß wir keinen Staat haben. Aber ein Staat ist kein literarisches Thema. Dasselbe gilt für ein Heimatland. Wenn man ein Heimatland hat und dann mit patriotischer Begeisterung davon spricht, ist das nur lächerlich. Aus diesem Grund wird ein großer Teil der palästinensischen Literatur in eine Sackgasse oder in die Krise geraten, wenn sich die Träume erst einmal realisieren.“
Nach allem, was ich weiß, gibt es heute in der gesamten arabischen Welt keinen einzigen Schriftsteller, der ähnliche Auffassungen zu äußern wagen würde. Und hierbei muß man sich daran erinnern, daß der Mann, der solche grausamen, aber realistischen Zweifel ausspricht, kein unbedeutender Außenseiter ist, sondern bis vor kurzem der für die Palästinensische Nationalbehörde von Yassir Arafat vorgesehene Kulturminister war, ein Posten, den er aus freien Stücken ausgeschlagen hat. Das unterstreicht ein weiteres Mal, wie außerordentlich töricht und verbohrt es von den israelischen Behörden ist, diesem Poeten der ganzen Welt das Betreten seines Geburtslandes zu verwehren.
Es gibt also letzten Endes, wie wir erfahren, ein „großzügiges Exil“ – zumindest für den Dichter, wenn schon nicht für den Menschen. Die Dichtung hält ihre Belohnungen bereit.

Ich habe mir mein eigenes Heimatland aufgebaut. Ich habe mir sogar einen Staat geschaffen, nämlich in Form meiner Sprache.

Darwischs Verteidigung des Exils mag zu schön klingen, um wahr zu sein. Aber um sie richtig einschätzen zu können, muß man den stetig wachsenden Argwohn des Dichters gegenüber dem rein Politischen sowie seine entschiedene Weigerung berücksichtigen, dem Politischen Einlaß in den Bereich der Künste zu gestatten. „Es gibt keine Nationalität in der Literatur“, verkündet der Skeptiker, der sich nur zu gut der glorreichen Zeit, die der Islam einst darstellte, erinnert.
So kommt es, daß dieser „romantische Revolutionär“, als den ihn ein ägyptischer Kritiker einmal bezeichnete, statt mit der Stimme des Politikers oder Journalisten zu sprechen, die Sprache des utopischen Visionärs verwendet, um von einer Zeit zu sprechen, in der „der Jude sich der arabischen Komponente, die er in sich trägt, nicht mehr schämt, und der Araber sich nicht schämen wird zu bekennen, daß auch in ihm jüdische Elemente vorhanden sind.“ Denn, so fragt Darwisch noch einmal, „was ist ein echtes Heimatland anderes als ein Ort, der den Menschen erlaubt, sich zu entfalten?“
Paradoxerweise ist es gerade dieser universale, namenlose Ort, der Mahmoud Darwisch zu dem großen Dichter und Sprecher seines Volkes, der er ist, gemacht hat.

Nathan Zach, Tel Aviv, März 1998, Nachwort

 

Inhalt

– Vorwort
Hassouna Mosbahi: Der Dichter als Gewissen seines Volkes

– Wer seine Geschichte erzählt, erbt das Land der Erzählung
Gespräch mit dem libanesischen Dichter Abbas Beydoun

Es gibt keine Zukunft für die Poesie außerhalb eines poetischen Kanons
Gespräch mit dem syrischen Literaturkritiker Subhi Hadidi

Unsere Gegenwart will weder beginnen noch enden
Gespräch mit den palästinensischen Schriftstellern Liana Badr, Zakariya Muhammad und Mundher Jaber

Ich bin nicht bereit, mein Leben einer Fahne zu weihen
Gespräch mit der israelischen Schriftstellerin Helit Yeshurun

Das Haus ist schöner als der Weg dorthin
Gespräch mit dem syrischen Dichter Nuri Jarrah

– Nachwort
Nathan Zach: Der träumende Revolutionär

Ausgewählte Gedichte

Angaben zu den Gesprächen

Glossar

Register

 

 

Mahmoud Darwisch

gilt auch nach seinem Tod als der bedeutendste palästinensische Schriftsteller. In fünf Gesprächen mit arabischen und israelischen Schriftstellern verfolgt Darwisch in diesem Buch seinen Lebensweg zwischen Literatur und Politik: seine Kindheit, die Vertreibung 1948, die Jahre des „inneren Exils“ in Israel, die literarischen Anfänge und Einflüsse, das Exil in Kairo, Beirut, Tunis und Paris, seine Zeit in der PLO und schließlich seine Rückkehr nach Palästina.
In einer einfühlsamen poetischen Sprache vermittelt das Buch ein aktuelles Zeugnis von den vielfältigen Facetten palästinensischer Identität. Gleichzeitig liefert es informative Einblicke in die Hintergründe des israelisch-palästinensischen Konflikts und zeigt Möglichkeiten einer Friedenslösung auf. Zusätzlich zu den Gesprächen enthält das Buch eine Auswahl von Darwischs Gedichten. Der tunesische Schriftsteller Hassouna Mosbahi schrieb das Vorwort. Nathan Zach, Träger des israelischen Staatspreises für Literatur, verfasste ein Nachwort.

Palmyra Verlag, Klappentext, 1998

 

 

Ibrahim M. Abu-Hashhash: Tod und Trauer in der Poesie des Palästinensers Maḥmud Darwīš

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Keystone-SDA
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Nachrufe auf Mahmud Darwisch: Quantara ✝ FAZ ✝ Der Spiegel ✝
die taz ✝ The Economist

 

Mahmoud Darwish – Algerie 1983 (Eloge de l’ombre).

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