WENN DIE MÄRTYRER SCHLAFEN GEHEN
Wenn die Märtyrer schlafen gehen, wache ich auf und bewache sie vor den Liebhabern der Klagelieder.
Ich sage zu ihnen: Gute Heimat aus Wolken und Bäumen, aus Luftspiegelungen und Wasser.
Ich beglückwünsche sie, dem Unfall des Unmöglichen, dem Mehrwert des Gemetzels entronnen zu sein.
Und ich stehle Zeit, damit sie mich der Zeit stehlen. Sind wir alle Märtyrer?
Und ich flüstere: Oh meine Freunde, laßt eine einzige Wand für die Wäscheleinen, laßt eine Nacht für das Singen.
Ich hänge eure Namen auf, wo immer ihr wollt, doch schlaft ein wenig, schlaft auf der Leiter der sauren Traube,
Damit ich eure Träume vor den Dolchen eurer Wächter und davor schütze, daß DAS BUCH sich gegen die Propheten kehrt.
Und seid die Hymne dessen, der keine Hymne hat, wenn ihr heut abend schlafen geht.
Ich sage zu euch: Gute Heimat, auf ein galoppierendes Pferd gesetzt,
Und ich flüstere: Oh meine Freunde, ihr werdet nicht sein wie wir… Strick eines rätselhaften Galgens!
Das arabische Feuilleton begann Mitte der 1960er Jahre Lyrik von Dichtern zu veröffentlichen, die man damals Dichter des palästinensischen Widerstandes nannte. Ein Großteil dieser Autoren lebte auf dem sogenannten Gebiet von 1948. Kennzeichnend für diese Lyrik war eine propagandistische Haltung, die unmittelbar mit den politischen Ereignissen im Nahen Osten zusammenhing, insbesondere mit dem Krieg vom 6. Juni 1967 und der Niederlage der arabischen Armeen. Die meisten Dichter gehörten der kommunistischen israelischen Partei Rakah an.
Die Gedichte von Mahmud Darwisch jedoch zeichneten sich dadurch aus, dass sie, im Gegensatz zur üblichen Lyrik des Widerstandes, der Poesie sehr nahe kamen. Damals bezeichnete die bekannte arabische Literaturzeitschrift Shi’r Mahmud Darwisch als bedeutenden Dichter, und der Lyriker Unsi al-Hadj, einer der Redakteure der Zeitschrift, lobte mehrmals sein dichterisches Werk. So wurde Mahmud Darwisch zu einer fast mythischen Gestalt, seine Popularität überstieg die seiner Dichterkollegen. Hunderttausendfach wurden seine Bücher verkauft.
Doch dies hatte seinen Preis. Ende der 60er Jahre erschien die erste kritische Abhandlung über Darwischs Werk, ein Buch mit dem Titel Mahmud Darwisch, verfasst vom ägyptischen Kritiker Raja’ al-Naqqash. Darwisch war damals 27 Jahre alt. Unzählige Bücher und Artikel folgten. Ein Großteil dieser Arbeiten waren keine Kritik im üblichen Sinne. Sie sind beim Studium seiner Lyrik keine Hilfe. Diese angeblich kritischen Arbeiten versäumen es, den Stellenwert des Dichters Mahmud Darwisch in der zeitgenössischen Landschaft der arabischen Lyrik zu skizzieren, den Einfluss des Dichters und seine Beeinflussung zu beleuchten. Kurz gesagt, alle diese Studien sind eine bloße Fortsetzung propangandistischer Schriften unter dem Mantel der Kritik. Ebenso verhielt es sich mit den Übersetzungen in andere Sprachen. Die meisten Übersetzer interessierten sich in erster Linie für die palästinensische Sache auf Kosten des dichterischen Werks.
Heute vermögen wir nicht über die unaufhörlichen Versuche des Dichters zu urteilen, sich aus dieser erstickenden Umklammerung zu befreien. Es waren für einen Dichter, der die Tragödie durchlebt hat, mutige Versuche. Ein Versuch, sich aus der Gefangenschaft zu befreien, äußerte sich in Darwischs Weigerung seine frühen Gedichte zu lesen, die keinerlei Bedeutung mehr für seine lyrische Gegenwart haben. Der Dichter Unsi al-Hadj kommentierte in scharfem Ton einen Vorfall in Beirut im Jahre 1972, bei dem Darwisch es ablehnte, eines dieser frühen Gedichte zu lesen, mit den Worten:
Arm dran ist der Dichter in der Geschichte, im Krieg und in der Politik! Die Zeit ist nicht die seine, wenn er nicht das Spiel mitmacht. Und wenn er ins Spiel eintritt, so als Dichter des Spiels und nicht als Dichter. (Unsi al-Hadj: Kalimat, Bd. 3, S. 851)
Diese Bemerkung trifft trotz ihrer Härte den Sachverhalt genau. Mahmud Darwisch hörte nie auf, seine Gedichte zu erneuern und weiterzuentwickeln. Er war sich dieser Problematik, die sein Schicksal bestimmte, immer bewusst da seine Stimme durch Zufall zu einer kollektiven Stimme wurde:
Denn allein der Zufall machte aus meiner persönlichen Geschichte eine kollektive. Und so erkennt die Gruppe ihre Stimme in meiner persönlichen Stimme wieder. Es wird Zeit, dass wir die Kritik beenden, die nicht über das Ich und die Gruppe hinausgeht. (Masharif, Nr. 3, 1995)
So ist er einer der bekanntesten arabischen Dichter, dessen lyrisches Werk bisher keiner kritischen Untersuchung unterzogen wurde. In diesem Zusammenhang sagt Darwisch in dem letzten wichtigen Interview, das er dem libanesischen Dichter Abbas Beidun gegeben hat:
Wenn ich eine Auswahl meiner Gedichte zusammenstellen oder meine Gedichte kritisieren wollte, so meine ich, dass ich nach meinem Verlassen Beiruts (1982) der Dichtung näher gerückt bin. Und im Gegensatz zu dem, was verbreitet wird, so betrachte ich die Beiruter Phase in meiner Dichtung als zweideutig. In erster Linie wegen des Drucks des Bürgerkriegs, dann wegen des Gefühls des Schmerzes, der Emotionalität, ich sage hier nicht aus Pflicht, deine Freunde, die in deinen Armen sterben, zu beklagen. Nicht die nationale Pflicht lässt einen dies tun, sondern die Aufregung. Und man ist ständig aufgeregt, in hohem Maße emotionalisiert.
Nichts ist gefährlicher für die Dichtung als zu wenige oder zu viele Emotionen. Dichten verlangt eine Temperatur, die zwanzig Grad nicht übersteigt. Die Kälte und das überschäumen töten die Dichtung. Und Beirut hat dermaßen gekocht, ein Kochen der Gefühle und eine ratlose Sichtweise. (Masharif)
Aus diesen Gründen fällt es schwer, über die Lyrik Mahmud Darwischs zu schreiben. Es ist unbedingt notwendig, ihn des Mythos zu entkleiden und ihn seines Ruhmes zu entheben, um nach dem kalten bewachten Wasser bei ihm zu forschen. Diesen Ausdruck habe ich dem ersten Gedichtband des Dichters Salah Stétié entlehnt, weil ich meine, dass er eine gute Beschreibung der Gedichte von Mahmud Darwisch bietet. Die Lyrik von Darwisch birgt Hinweise auf die Details der Natur, welcher der Dichter entstammt, und diese erzählt komplizierte und reichhaltige Geschichten, gleich einem Tongefäß, das kühles Wasser von sich gibt.
Mahmud Darwisch wurde 1941 in dem Dorf al-Barwa in Galiläa als zweiter Sohn einer bäuerlichen Familie geboren. Über sein Leben, seine Kindheit und sein Dorf berichtet Darwisch im ersten Interview, das eine israelische Zeitung (Zo Hadérekh, 19.11.1969, zitiert nach der arabischen Übersetzung in al-Adab, Nr. 4, 1970) mit ihm führte:
Ich erinnere mich an mich als sechsjährigen. Damals wohnte ich in einem ruhigen kleinen Dorf, al-Barwa, auf einem grünen Hügel gelegen, vor ihm erstreckte sich die Ebene von Akko. Ich war der Sohn einer Familie mittleren Einkommens, die von der Landwirtschaft lebte. Mit sieben Jahren hörten die Kinderspiele plötzlich auf. Und ich erinnere mich genau, wie das passierte, ich erinnere mich genau: In einer der Sommernächte, die die Dörfler gewöhnlich auf den Dächern ihrer Häuser verbringen, weckte mich plötzlich meine Mutter und ich fand mich inmitten Hunderter Dorfbewohner in den Wald rennend. Gewehrkugeln flogen über unsere Köpfe, und ich verstand nichts von dem, was passierte. Nach einer Nacht des Umherstreifens und Fliehens fand ich mich mit einem meiner Verwandten, die sich in alle Richtungen verloren hatten, und mit anderen Kindern, in einem merkwürdigen Dorf wieder. Ich fragte naiv: Wo bin ich? Und zum ersten Mal hörte ich das Wort Libanon.
Diese Erfahrung beendete die Kindheit Darwischs abrupt. Denn „seit diesen Tagen, und ohne vorherige Vorbereitung, stand ich regelmäßig in einer langen Schlange, um das Essen zu bekommen, das die Hilfsorganisation verteilte. Die Hauptmahlzeit bestand aus gelbem Käse…“
Aber jene schwierigen Tage blieben im Gedächtnis des kleinen Mahmud verhaftet. Als er im Libanon zum ersten Mal einen Wasserfall sah:
… wusste ich nicht, was ein Wasserfall ist. Ich sah Äpfel an Bäumen hängen, und ich dachte, sie wachsen in Kisten.
Aber die persönliche und kollektive Tragödie schien ohne Ende zu sein. Sogar die Rückkehr in die Heimat war keine Rückkehr im üblichen Sinne:
Nach mehr als einem Jahr, in dessen Verlauf ich das Leben eines Flüchtlings lebte, sagten sie mir eines Nachts, dass wir am nächsten Tag nach Hause zurückkehren würden. Ich kann mich gut erinnern, dass ich in jener Nacht nicht geschlafen habe, ich schlief nicht vor Freude. Denn die Heimkehr bedeutete für mich das Ende des gelben Käses und das Ende der Belästigungen durch die libanesischen Kinder, die mich mit dem demütigenden Wort Flüchtling zu ärgern pflegten… Und ich begab mich hinaus auf die Reise der Rückkehr. Dunkelheit umgab alles. Wir waren zu dritt: ich, mein Onkel und der Führer, der die geheimen Wege in den Tälern und Bergen kannte. Ich erinnere mich, dass wir auf unseren Bäuchen krochen, damit uns niemand sah. Nach einer anstrengenden Reise fand ich mich in einem Dorf wieder. Wie groß war meine Enttäuschung: wir kamen in dem Dorf Dir al-Asad an und es war nicht mein Dorf. Weder mein Haus war dort noch meine Gassen. Ich fragte: Wann kehren wir in unser Dorf zurück, in unser Haus? Aber die Antworten waren nicht überzeugend, und ich verstand nichts. Ich verstand nicht, was es bedeutete, dass das Dorf zerstört sei! Ich verstand nicht, was es bedeutete, dass meine persönliche Welt unumkehrbar beendet war. Ich verstand nicht, warum sie diese Welt zerstörten und wer jene waren, die sie zerstörten! Nach und nach gewöhnte ich mich an das Leben der Erwachsenen und an ihre Probleme. Mir wurde klar – mit großer Enttäuschung –, dass ich nicht zur Quelle der Träume und zu den Gassen der Kindheit zurückkehrte. Alles was geschah war, dass der Flüchtling seine Adresse durch eine neue ausgetauscht hatte. Ich war ein Flüchtling im Libanon, jetzt war ich ein Flüchtling im eigenen Land.
Nach dieser Rückkehr bekam das Leben eine andere Dimension und veränderte sich grundlegend. Die Träume der Kindheit und ihre Illusionen erwiesen sich früh als nichtig.
Als ich nach Dir al-Asad zurückkehrte, besuchte ich die zweite Klasse. Jedesmal, wenn der Inspekteur des Bildungsministeriums die Schule besuchte, rief mich der Direktor zu sich und versteckte mich in einer Kammer. Denn für die Behörden galt ich als heimlicher Eindringling, und die Lehrer wollten mich in Schutz nehmen. Dieser Vorfall fügte meinem persönlichen Lexikon, dem Lexikon des Lebens, ein weiteres Wort hinzu: das Wort heimlicher Eindringling. Jedesmal, wenn die Polizei ins Dorf kam, versteckten sie mich in einem Schrank oder in irgendeiner Ecke, weil es mir verboten war, hier zu leben, in meinem Land. Sie verboten es, mir zu gestehen: Ich war im Libanon. Und sie brachten mir bei zu sagen, dass ich bei irgendeinem Beduinenstamm im Norden gewesen sei. Das tat ich, um einen israelischen Personalausweis zu bekommen.
Heute (1969) würde es vielleicht Missbilligung hervorrufen, wenn ich zum ersten Mal das Geheimnis lüftete, dass ich damals Talent fürs Malen hatte. Mein Vater hatte nicht das nötige Geld, mir die erforderlichen Utensilien zu beschaffen. Er schaffte es gerade, mir Schreibhefte zu besorgen. Das schmerzte mich sehr. Ich weinte und hörte auf zu zeichnen. Da versuchte ich, das Malen durch das Schreiben von Gedichten zu ersetzen. Dichten kostet kein Geld.
Als die libanesische Zeitschrift Sh’ir in ihrer 35. Nummer im Sommer 1967 einige seiner Gedichte veröffentlichte, stellte sie ihn als einen jungen palästinensischen Dichter vor, der zwischen seinem Zuhause und dem Gefängnis wohne. Zum ersten Mal ins Gefängnis musste Mahmud Darwisch im Alter von sechzehn Jahren. In jener Zeit wurde sogar die einfache Sprache, die unschuldigen Ausdrücke, die die Kindheit hervorbringt, zu einem Druckmittel. Seitdem haben äußere Faktoren, die außerhalb seiner Macht lagen, sein Leben bestimmt. Über jene Jahre erzählte er später:
Von Anfang an hat mich meine Dichtung in Schwierigkeiten gebracht und zur Konfrontation mit der Militärregierung getrieben. Ich nenne dir ein Beispiel: Ich war Schüler der achten Klasse, als sie den Jahrestag der Gründung des Staates Israel feierten. Sie organisierten große Veranstaltungen in den Dörfern mit Beteiligung der Schüler. Der Direktor unserer Schule bat mich, an der Veranstaltung teilzunehmen, die in Dir al-Asad stattfand. Da stand ich mit meinen kurzen Hosen zum ersten Mal im Leben vor dem Mikrophon und las das Gedicht „Der Ruf eines arabischen Kindes an ein jüdisches Kind“ vor. Am nächsten Tag wurde ich in dem Dorf Majd al-Karrum ins Büro des Militärgouverneurs gerufen. Er drohte mir und beleidigte mich. Ich war ratlos und wusste nicht, wie ich ihm antworten sollte. Als ich sein Büro verließ, weinte ich bitterlich, weil er seine Drohung mit den Worten beschloss: „Wenn du weiter solche Gedichte schreibst, dann erlauben wir deinem Vater nicht mehr, im Steinbruch zu arbeiten!“
Heute schmerzt es mich, mich an die Drohungen jenes Militärgouverneurs zu erinnern. Damals hatten sie eine negative Wirkung auf mich. Und in der Logik eines Jungen sagte ich zu mir: Ich bekomme die Strafe und werde nicht weiter schreiben. Und aus der gleichen Logik vermochte ich nicht zu verstehen, aus welchem Grund so ein Gedicht einen Militärgouverneur in Aufruhr versetzen konnte! Heute notiere ich, dass der Militärgouverneur der erste Jude war, den ich traf und mit dem ich sprach! Sein Verhalten störte mich: Wenn die Sache so war, wieso sollte ich zum jüdischen Kind sprechen? Der Militärgouverneur wurde zum Symbol des Bösen, das den Beziehungen zwischen den beiden Völkern schadet. Und es ist klar, dass ich auf die Fragen, die mich damals störten, erst heute eine Antwort finde.
Zum Glück erschien in meinem Leben ein anderes Bild, das dem des Militärgouverneurs entgegengesetzt war. Ich traf eine jüdische Persönlichkeit, die grundlegend anders war, die Lehrerin Shoshana. Nie wird mir es langweilig, von ihr zu erzählen. Sie war keine Lehrerin, sondern eine Mutter. Sie rettete mich vor der Hölle des Hasses. Sie war für mich das Symbol des aufopfernden Dienstes, den ein guter Jude seinem Volk leistet. Shoshana lehrte mich, die Thora als ein literarisches Werk zu verstehen. Und sie lehrte mich, Chajjim Nachman Bialik (1873–1934) zu studieren, weit jenseits seines Enthusiasmus und seiner politischen Zugehörigkeit, sondern allein seiner dichterischen Wärme wegen.
Vielleicht liegt die Bedeutung dieser Phase im Leben von Darwisch darin, dass es ihm gelang aus seiner Tragödie Nutzen zu ziehen. Denn wiederholt erzählt er Einzelheiten aus dieser Periode, so in einem Interview, das die Zeitschrift Masharif mit ihm geführt hat. Er spricht von seiner ersten arabischen Lektüre und weist in diesem Zusammenhang auf seine Kenntnisse der hebräischen Sprache hin:
Meine ganze Generation beherrscht das Hebräische. Die hebräische Sprache war für uns ein Fenster, das auf zwei Seiten hinausging. Die erste Seite war die Thora. Sie ist ein wichtiges Buch. Ich las die Psalmen, das Hohelied, das Buch Exodus und die Genesis. Dies ist ein Material, auf das kein Intellektueller verzichten kann. Die zweite Seite war die übersetzte Literatur. Es gab damals eine rege Übersetzungstätigkeit ins Hebräische. Die Übertragung ausländischer Literatur ins Hebräische war in vollem Gang. Das erste, was ich auf hebräisch las, war Lorca. Auch Neruda habe ich auf hebräisch gelesen. Vielleicht überrascht es dich zu erfahren, dass ich die griechischen Tragödien zum ersten Mal auf hebräisch las. Ich kann nur sagen, dass ich für das Kennenlernen der ausländischen Literatur in der Schuld des Hebräischen stehe. Wenn du die Gedichte von Yehuda Amichai über den Ort liest und den Namen ihres Verfasser nicht kennst, wüsstest du nicht, ob du sie einem hebräischen oder arabischen Dichter zuordnen sollst.
Die zweite Quelle, aus der Darwisch schöpft, ist die Mutter. In unzähligen Gedichten spricht er von ihr in einer einfachen, durchsichtigen Sprache. Gedichte, die heute zu den bekanntesten Liedern gehören und im Zuge einer Initiative der französischen Verkehrsbetriebe in der Pariser Metro zu lesen sind:
Meine Mutter hasste Hochzeiten und ging nicht hin. Aber sie besuchte jede Beerdigung. Einmal traf ich sie wehklagend bei einem solchen Begräbnis. Alles, was ich von ihr hörte, war Dichtung. Wenn man nach dem Ursprung meiner dichterischen Veranlagung forscht, so liegt sie in der stillen Sprache meiner Mutter.
Mahmud Darwisch musste aufgrund der kulturellen und politischen Ereignisse einen anderen Weg gehen, seinen Weg.
Als ich aus dem Libanon zurückkehrte, warnte mich meine Familie vor der Gefahr, die in meinem Vorhaben lag, den Ort zu besuchen, wo ich geboren war und meine Kindheit verbracht hatte. Wenn ich dort verhaftet worden wäre, hätte man mich in den Libanon abgeschoben. So besuchte ich den Ort erst 1963. Mein Besuch war geheim, weil es verboten war, dieses Gebiet zu betreten. Von dem ganzen Dorf fand ich nur die Kirche wieder, die in einen Stall verwandelt worden war.
Ich betrachte mich nicht als einen reifen Dichter. Ich fühle keine künstlerische Genugtuung. Und ich gehöre zu jenen, die glauben, dass der Künstler, der zur Selbstzufriedenheit gelangt, den Grund für sein Weiterschaffen verliert.
Die Verhaftungen und die Hausarreste, die mir die Bewegungsfreiheit in meinem Land einschränkten, wurden zu einem Teil meines Alltags. Aber ich strafe diese Bestimmungen, die an Bösartigkeit grenzen, mit Verachtung. Ich bin weder beunruhigt noch überrascht. Ich sitze jeden Abend in meinem Zimmer, und es entzückt mich, mit der Sonne verbunden zu sein, weil es mir verboten ist, das Haus nach Sonnenuntergang zu verlassen. Sie erwiesen mir eine große Ehre, als sie meine Schritte mit der Sonne verbanden. Ich sitze im Zimmer, lese, höre Musik und warte auf die Polizei. Und jeden Tag um vier Uhr stelle ich im Polizeirevier meine Anwesenheit mit einem echten Lächeln unter Beweis, das nie hinterhältig ist. Sie sind nachts ständig auf Achse. Jeder von uns weiß, dass der Tag schöner ist als die Nacht. Das Licht der Sonne ist schöner als die Dunkelheit. Wer hat nun gewonnen, ich oder die Polizei?
Darwischs Leben blieb aber, ob er es wollte oder nicht, kollektiv eingebunden. Diese Einbindung bestimmte seinen Weg. So nutzte er die Gelegenheit eines Besuchs in Moskau, wohin er 1970 mit einer Delegation der kommunistischen Partei Israels reiste, um sich nach Kairo abzusetzen. Dort verfasste er seinen berühmten Artikel „Rettet uns vor dieser harten Liebe“. Danach kehrte er erneut in den Libanon zurück, wo er weiter seine Gedichte und Prosa veröffentlichte und von 1980 bis 1993 die Zeitschrift Karmel herausgab. 1987 wurde er Mitglied des Palästinensischen Exilparlaments, aus dem er sich 1993 zurückzog. Nach dem Krieg um Beirut (1982) pendelte er zwischen Paris und Tunis, seit 1996 lebte er in Amman und Ramallah.
Im Jahr 2000 löste der Künstler in Israel fast eine Regierungskrise aus, als der damalige Bildungsminister Yossi Sarid einige seiner Gedichte in den israelischen Lehrplan aufnehmen wollte. Rechtsorientierte Parteien drohten daraufhin mit ihrem Rückzug aus der Regierungskoalition. Darwisch, der dies bedauerte, glaubte aber weiterhin an den Sieg der Vernunft und Frieden zwischen Israel und den Palästinensern.
Ich bin geduldig und warte auf eine tiefgreifende Revolution im Bewusstsein der Israelis.
Zusammen mit dem israelischen Psychologie-Professor Dan Bar-On wurde Darwisch 2003 mit dem Remarque-Friedenspreis der Stadt Osnabrück ausgezeichnet. Im Juli 2007 trat Darwisch zum ersten Mal wieder in Haifa auf.
Nach seiner dritten Herzoperation verstarb Mahmud Darwisch am 9. August 2008 in Houston/Texas. Daraufhin ordnete Präsident Mahmud Abbas eine dreitägige Staatstrauer an. Sein Leichnam wurde nach Ramallah überführt, wo er am 12. August 2008 ein Staatsbegräbnis erhielt und auf einem Hügel nicht weit vom Kulturpalast begraben wurde, welcher in Darwisch-Kulturpalast umbenannt wurde.
Khalid Al-Maaly, Nachwort
Weniger Rosen verklingen die kämpferischen, das Märtyrertum und den bewaffneten Widerstand feiernden Töne seiner frühen Dichtung. Die politische und kritische Dimension seiner Lyrik bleibt jedoch bestehen.
Darwisch findet wieder mehr zu seiner seit der Beiruter Belagerung unterbrochenen Suche nach ästhetischen Formen zurück, insbesondere der Umsetzung musikalischer Kompositionen in dichterische Strukturen.
Er verbindet verschiedene Genres und Formen des lyrischen, dramatischen und epischen Schreibens miteinander. Seine Gedichte werden heute wie Volkslieder gesungen und viele seiner Verse sind Sprichwörter geworden.
Verlag Hans Schiler, Klappentext, 2016
– Die Identitätskonzepte der frühen Gedichte. –
Die liebende Identifikation mit der Heimat
Wie im Kapitel über die Geschichte und Identität der Palästinenser nach 1948 gezeigt, erschien in den Jahren unmittelbar nach der Nakba palästinensische Identität als äußerst bedroht. Besonders die in Israel lebenden Palästinenser, zu denen Darwisch bis zu seiner Emigration im Jahr 1970 gehörte, wurden als Minderheit in einem ihnen feindlich gesinnten Staat unterdrückt und mussten ihre spezifisch palästinensische Identität gegen Angriffe von israelischer und arabischer Seite permanent verteidigen. Es stellte sich die Frage, ob es die Palästinenser als Volk überhaupt weiterhin geben würde oder ob sie ihre nationale Identität verlieren würden.
Das Gedicht „Ein Liebender aus Palästina“ („‘Āšiq min filasṭīn“) von 1966 könnte als Antwort auf die ständig der Nichtexistenz bezichtigten Palästinenser gelesen werden.1 Während manche arabische und israelische Politiker das Wort „Palästinenser“ gar nicht in den Mund nahmen,2 lässt Darwisch den im Gedicht Sprechenden das Wort „Palästinensisch“ auf fast manische Weise wiederholen:
Palästinensisch ihre Augen und Tätowierung, / palästinensisch ihr Name, / palästinensisch ihre Träume und Sorgen. / Palästinensisch ihr Tuch, / ihr Gang und ihr Körper. / Palästinensisch ihre Worte und ihr Schweigen, / palästinensisch ihre Stimme, / palästinensisch von Geburt bis zum Tod.3
Alles an der beschriebenen weiblichen Person erhält als Ausdruck der Selbstbehauptung das Attribut „palästinensisch“,4 um die nationale Identität unmissverständlich zu betonen. Durch das Sprechen und Dichten bekommt die soziale Gruppe erst einmal einen Namen, sie wird öffentlich gemacht. Dieser Akt symbolischer Macht manifestiert sich als „Macht, Dinge mit Wörtern zu schaffen“,5 und auf diese Weise dem Kollektiv zur politischen Existenz zu verhelfen.
Das Gedicht orientiert sich der Form nach an der altarabischen Quaṣīda,62, Band. IV, S. 713–716 wodurch sich Darwisch bewusst in die lange Tradition arabischer Poesie stellt und schon dadurch seine kulturelle Identität untermauert. Unter der Maske des berühmten Dichterritters ‘Anṭarā’,7 der durch seinen Einsatz für Arme und Schwache und die Verteidigung des Islams in der arabischen Welt große Berühmtheit erlangte, spricht ein Palästinenser von seiner Liebe zu einer Frau / Palästina, für die er bereit ist, den Märtyrertod8 zu sterben. Darwisch stilisiert dadurch auf eine ihm eigene Weise den „Schmerz und die Trennung (…) von ihr [der Heimat; Anm. d. Verf.] (…) als Berufungserlebnis.“9 Gleich zu Beginn wird die Heimat als Geliebte angesprochen, deren „Augen (…) Dornen im Herzen (sind) / sie verletzen, und doch bete ich sie an.“10
Diese Liebe zur Heimat ist ambivalent, weil sie einerseits schmerzhaft ist, Leid und ein miserables Leben aufbürdet, andererseits jedoch als das Einzige beschrieben wird, das dem Palästinenser eine Zukunft ermöglichen kann:
Ihre Wunden bringen Lampen zum Leuchten
und geben meiner Gegenwart Zukunft,
sind mir teurer als die Seele.11
Der Zwiespalt des Palästinensers wird in den unterschiedlichen Darstellungen der Beziehung zur Heimat noch deutlicher. Wie komplex und auch widersprüchlich diese in Darwischs Poesie sind, wird beispielsweise in seinem Bedauern deutlich, die Heimat vergessen zu haben („Aber ich vergaß, vergaß, / ihr Name ist unbekannt.“)12, um anschließend bekannt zu geben:
Sie war eine Palästinenserin
und wird es immer bleiben.13
Das Schicksal des palästinensischen Volkes wird „unter den verschiedensten Gesichtspunkten reflektiert“, denn nur eine auf den ersten Blick widersprüchlich scheinende Dichtung kann auch die widersprüchliche Lebenswirklichkeit der palästinensischen Exilsituation adäquat widerspiegeln.
Dem exilierten Palästinenser, der an Häfen, im „Gefängnis“, „in den dornigen Bergen“, „in Nachtlokalen“ oder „inmitten von Trümmern“ alleine umherirrt und schon dadurch dem altarabischen Dichtertypus14 ähnelt, erscheinen dennoch die Augen der Heimat an allen Orten, so dass die Geliebte Palästina dem Dichter allgegenwärtig begegnet:
Gestern habe ich dich am Hafen gesehen, / abreisen ohne Ver-
wandte, ohne Proviant. (…) /
Ich habe dich in den dornigen Bergen gesehen, / eine Schäferin
ohne Schafe15
Die Augen erfüllen die Funktion eines Spiegels, weil sie das fragmentierte „Ich“ vor dem Auseinanderbrechen zu bewahren:
Unsere Spiegel sind zerbrochen,
und tausendfach wurde unsere Traurigkeit. Wir sammelten die verstreuten Töne (…).16
Zwar konnten die Figuren der Gedichte eine palästinensische Identität aufbauen, die in der Erde verankert ist und eine zuweilen stark nationalistisch gefärbte Komponente enthält. Die noch junge und deshalb aber auch fragile Identität des Palästinensers bleibt dennoch durch das Exil vom Vergessen bedroht. Die Trennung von Mensch und Land spaltet das „Ich“ entzwei: Die abwesende Heimat muss ebenso wie das von der Heimat abwesende „Ich“ ständig vergegenwärtigt werden, um die alte Identität – die einzig in der Vorstellung des Dichters weiterleben kann – zu bewahren, um nicht mit den Scherben des Spiegels, der jetzt die Augen der Heimat ersetzt, ohne jedes „Gesicht“ und damit identitätslos dazustehen. Der Palästinenser steht vor der Entscheidung, ob er an der Liebe festhält und die „Liebesqualen“ erträgt oder den Sprung in die Leere, in eine noch nicht geborene Existenz wagt. Doch in dieser Frühphase der Dichtung wählen sämtliche poetischen „Ichs“ die Liebe zur Heimat:
Nimm [an die Heimat; Anm. d. Verf.] mich mit, wo immer du bist.17
Wie ein Glaubensbekenntnis spricht das lyrische „Ich“ seine Liebe zu den Apfelsinen als Sinnbild der Heimat aus und verneint im gleichen Atemzug das aufgezwungene Exil:
Ich liebe die Apfelsinen und hasse den Hafen.18
Die Formel „in deinem Namen“ (bismiki), die der Sprecher des Gedichts unter der Maske des altarabischen Dichterritters verwendet, setzt die Heimatliebe zudem analog zur Gottesliebe des Mystikers. Mit der Warnung
Ich zerschmettere die Götzen, / ich sähe an der syrischen Grenze / Gedichte, aus denen der Adler aufsteigt, / in deinem Namen schreie ich dem Feind entgegen (…)19
stellt sich der Dichter in den Dienst seiner neuen „Gottheit“ Palästina. Damit sind wir auf ein Motiv gestoßen, welches aus zahlreichen Gedichten Darwischs spricht: die Heimat bzw. die Liebe zur Heimat ist wie eine neue Religion für den palästinensischen Dichter, der wie ein Märtyrer bereit ist, für eine übergeordnete Instanz zu sterben und dessen Gesetz, ihre Rückeroberung, ihm Befehl ist.20
Wie in „Ich war noch ein Kind“ findet sich das Motiv des Schwurs oder Eides: „Und ich schwöre, / ich werde ein Tuch21 aus meinen Wimpern weben, / um darauf Gedichte zu schreiben für deine Augen.“22 Aus was dieser Schwur besteht, wird in den darauf folgenden Versen präzisiert. Der Sprecher erklärt, das er bereit ist, als „Spielzeug“ oder „als Stein vom Haus“ zu dienen, „damit kommende Generationen / den Weg zurück nach Haus finden!“23 Das Lebensglück des Einzelnen ist damit dem kommender Generationen von Palästinensern untergeordnet. Die kommende Generation wird nur ein Glück verheißendes Leben erwarten, wenn die jetzigen Palästinenser bereit sind, sich aufzuopfern.24
Damit steht die persönliche Identität ganz im Schatten der Identifikation mit dem eigenen Volk, so dass der Dichter programmatisch ausrufen kann:
Ein Drittel von mir sitzt im Gefängnis
und zwei Drittel im Gras des Gartens.25
Palästinensisch sein heißt im Gefängnis sein oder tot sein. Die palästinensische und deshalb schon kollektive Identität wird nur überleben, wenn sich die Palästinenser nicht mit Kompromiss- oder Ersatzlösungen zufrieden geben:
An dem Tag,
An dem wir uns mit Abbildern begnügen,
Statt mit Bäumen,
An dem man die Flügel der Nachtigallen
Auf den Märkten verhökert,
Wirst du [die palästinensische Nation; Anm. d. Verf.] sterben.26
Die verschiedenen Gesichter palästinensischer Identität
Die den frühen Gedichten zugrunde liegenden Konzepte palästinensischer Identität zeichnen sich darin aus, dass die Sprecher der Gedichte meist männlich sind, das angesprochene „Du“ dagegen häufig weiblich. Das „Du“ kann zuweilen die palästinensische Schwester, aber auch das Land Palästina selbst sein, welche auch grammatikalisch weiblich bestimmt ist. Die Frau bleibt in dieser Rollenverteilung ganz auf ein passives, sprachloses Verhalten beschränkt, während der männliche Palästinenser mutig und kämpferisch die Ehre der Heimat im Kampf oder in der Dichtung verteidigt.27 Palästinensische Identität ist des Weiteren maßgeblich durch drei Elemente geprägt: Zum Einen fühlt sich der Palästinenser als Fremder in seinem eigenen Land. Die Heimat ist dabei in ihrer Heimat ebenso fremd geworden wie der Mensch, so dass beide sich „umarmen“ müssen, „um sich vor den kalten Winden der Fremde zu schützen.“28 Zudem ist das lyrische Ich – und dies trifft für die meisten Gedichte Darwischs zu – ein Exilierter, ein Marginalisierter, später dann ein Odysseus,29 der sich in den Krieg aufmacht, und dem die Rückkehr in seine Heimat verwehrt wird. Die in den Gedichten dargestellte Identität, das spezifisch palästinensische Kiyān (Seinweise, Wesenheit), wie man es auch bezeichnen könnte, ist aber auch durch die kämpferische Leidens- und Opferbereitschaft des palästinensischen Fidā’ī 302, Band II, S. 902 bestimmt, welcher sich aus Liebe zur Heimat und ihren Menschen aufopfert. So wird der Fidā’ī bis Mitte der 1980er Jahre von palästinensischen Politikern als die palästinensische Persönlichkeit (šaḫṣīya filasṭīnīya) schlechthin propagiert. Die Flüchtlinge sollen sich nicht einfach ihrem Schicksal ergeben, sondern für ihr Recht auf Rückkehr kämpfen:
Wer mich zu einem Flüchtling gemacht hat, machte mich auch zu einer Bombe.31
Darüber hinaus lässt Darwisch die Sprecher seiner Gedichte einige Male unter der Persona32 des aus Palästina stammenden Messias sprechen, indem er die Analogie zwischen Jesu Einsatz für Gerechtigkeit und Nächstenliebe und seiner Bereitschaft, aus Liebe für die Menschen am Kreuz zu sterben, hervorhebt.
In Ein Liebender aus Palästina wiederholt sich das schon im Gedicht „Ein Fremder in einer fernen Stadt“ angedeutete Identitätskonzept, welches Identität als konstantes, unveränderliches, ererbtes „Palästinensischsein“ versteht, dass mit den Worten „einmal Palästinenser, immer Palästinenser“ salopp paraphrasiert werden könnte. Dieses primordiale Verständnis von Identität drückt sich in dem von palästinensischer Seite häufig im politischen Diskurs der 1970er Jahre verwendeten Wort Kiyān aus.33 Prägnanter als in Versen wie „Sie war eine Palästinenserin und sie wird es immer bleiben“ ist der Sachverhalt wohl nicht auszudrücken, und der heutige Leser wird sich zurecht fragen, ob diese plakative Formulierung noch eine dichterische Qualität besitzt. Jedenfalls werden sowohl die Gedichte als auch die Definition palästinensischer Identität, wie sie in der Palästinensischen Nationalcharta von 1968 festgeschrieben ist, durch der Idee der Vererbbarkeit und Primordialität palästinensischer Identität bestimmt. Hier der entsprechende Ausschnitt aus der Nationalcharta:
The Palestinian identity is a genuine, essential, and inherent characteristic; it is transmitted from parents to children. The Zionist occupation and the dispersal of the Palestinian Arab people, through the disasters which befell them, do not make them lose their Palestinian identity and their membership in the Palestinian community, nor do they negate them.34
Wie in der Nationalcharta, in der die politische Elite ihre Version palästinensischer Identität definiert, grenzt sich auch das palästinensische „Ich“ in den Gedichten von einem äußeren Feind ab. Dieses Identitätskonzept könnte man mit Dan Bar-Ons35 Worten als monolithisch bezeichnen, weil es sich von dem nur chimärenhaft auftauchenden Feind klar abgrenzt, indem es den feindlichen Anderen bekämpft, interessanterweise aber nicht seinen Namen ausspricht oder den Feind näher charakterisiert.36
In dem Gedicht „Ein Fremder in einer fernen Stadt“ fügt sich noch ein zusätzlicher Aspekt palästinensischer Identität bei. In der Mitte des kurzen Poems stellt eine anonyme Person dem lyrischen „Ich“ die Frage: „Hast du dich sehr verändert?“, worauf das lyrische „Ich“ entgegnet:
Ich habe mich nicht verändert.37
Identität wird hier nicht nur als unveränderlich und in der Zeit konstant verstanden. Sie ist auch die Identität der Kindheit, welche, wenn auch verdeckt, auf dem Körper eingeschrieben ist:
Wenn wir wie der Wind
In unser Haus zurückkehren,
Starre auf meine Stirn!
Du erkennst die Rosen als Dattelpalme
Und die Quellen als Schweiß.
Du findest mich, wie ich war,
Jung und hübsch!38
Palästinensische Identität, wie der Dichter sie versteht, ist demnach immer auch die Identität der Kindheit:
In meiner Situation gibt es keinen wesentlichen Unterschied zwischen der Geschichte meiner Kindheit und jener der heimatlichen Erde.39
Diese Kindheit ist aber nicht nur in der Heimat verankert, sondern darüber hinaus auch eine unentbehrliche dichterische Kraft. So gilt es, diese zwar vergangene, aber in der Erinnerung noch weiter bestehende Kindheit wie einen Schatz zu hüten, denn „das Kind, das in mir ist, ist eine der Bedingungen für meine Poesie. Wenn ich ohne das ungestüme Kind, das in mir lebt, herangewachsen wäre, hätte ich nicht Dichter werden können.“40
Stephan Milich, aus Stephan Milich: Fremd meinem Namen und fremd meiner Zeit. Identität und Exil in der Dichtung von Mahmud Darwisch, Verlag Hans Schiler, 2005
Liana Badr, Zakariya Muhammad und Mundher Jaber: Wie leben Sie mit der Tatsache, daß Sie zur lebenden Legende geworden sind?
Darwisch: Ich bin darüber weder glücklich noch ärgerlich, sondern eher erstaunt. Ich bin jedenfalls nicht verantwortlich dafür, daß dem Dichter Standbilder errichtet werden. Es scheint allerdings, daß diese Tradition unserer literarischen Geschichte immer noch lebendig ist.
Ich selbst habe keinerlei Verlangen, ein Symbol oder eine Legende zu sein. Aber ich habe keinen Einfluß auf diese Dinge und kein Mittel, die Auffassung der Menschen darüber, wen sie als ihre Stimme betrachten, zu verändern. Und ich erkenne an, daß meine persönliche Stimme auch kollektive Dimensionen hat, ganz gleich, was ich auch tue, um ihr den nötigen Freiraum zu verschaffen. Und selbst wenn es mir gelingt, mich in meiner Welt zu verschanzen, behalten sich die Leute das Recht vor, aus diesem autobiographischen Teil meines Werkes eine öffentliche Botschaft herauszulesen. Diese Situation mißfällt mir, weil sie mich der Möglichkeit berauben könnte, meine innere Welt so zu erforschen, wie ich es gerne möchte.
Früher habe ich mich darüber beklagt. Ich stellte die Art, wie meine Poesie gelesen wird, in Frage. Ich forderte unablässig eine unvoreingenommene Lektüre meiner Gedichte. Aber es scheint, daß dieser Anspruch illusorisch ist. Gibt es überhaupt eine neutrale Lektüre von welchem Text auch immer? Gewiß nicht. In Wirklichkeit habe ich lediglich eine weniger politische Lektüre meiner Gedichte verlangt.
Mit alldem will ich sagen, daß meine Bemühungen fehlgeschlagen sind und daß ich mich mit einem erschöpften Bild, mit einer schweren Verantwortung befrachtet wiederfinde, nicht nur, was meine eigene Arbeit, sondern auch, was mein persönliches Verhalten und meine Ansichten betrifft. Ich sehe, wie man symbolische Züge auf mich projiziert, die ich in dieser Form weder akzeptieren noch ablehnen kann. Dazu kommt, daß ich mich der Rolle und der Verantwortung, die man mir zugewiesen hat, gewachsen zeigen muß. Ich habe nicht das Recht, die Menschen zu enttäuschen.
Badr, Muhammad und Jaber: Nichtsdestoweniger waren Sie zu bestimmten Zeiten Ihres Lebens fast soweit, den Mythos zu verinnerlichen. Aber Sie haben sich ihm jedesmal entzogen. So zum Beispiel, als Sie sich 1970 entschieden haben, aus Palästina wegzugehen; als Sie 1982 Beirut verlassen mußten; als Sie aus dem Exekutivkomitee der PLO ausgetreten sind; als Sie beschlossen haben, in Paris zu leben. Es ist, als ob Sie davor zurückschreckten, die Schwelle zu überschreiten. Haben Sie auf persönlicher und literarischer Ebene Nutzen daraus gezogen, daß sie immer im Rampenlicht gestanden haben?
Darwisch: Es stimmt, daß ich wiederholt versucht habe, den Mythos zu zerstören. Denn einen Mythos zu bewohnen, heißt, ein Gefängnis zu bewohnen, sich jeder spontanen Entfaltung, jeder intellektuellen Bereicherung zu berauben. Daher mein Weggang aus Palästina 1970 und danach mein Bestehen darauf, einen Abstand zwischen meiner Praxis der Poesie und der nationalen Frage im weiteren Sinne aufrechtzuerhalten. Ich war mir vollkommen bewußt, daß ich meinen Mythos in Frage stellte und daß ich es tat, weil er mir lästig war. Und eine Zeitlang habe ich geglaubt, es sei mir gelungen, ihn loszuwerden und durchzusetzen, daß man aufhört, von mir Antworten auf sämtliche Fragen der öffentlichen Politik zu verlangen. Aber daraus ist nichts geworden.
Ich habe fast dreißig Jahre nicht in Palästina gelebt, aber weit davon entfernt, den Mythos abzuschwächen, hat meine Ferne von der Heimat ihn noch intensiviert. Der Grund dafür ist, daß die Menschen hier weiterhin davon überzeugt sind, daß ich sie nie im Stich gelassen habe und daß meine Stimme, auch wenn ich weggegangen bin, an allen Orten die ihrige bleibt. Also haben sie sich darangemacht, meiner Stimme von einem Land ins andere zu folgen, als ob mein Umherirren ihre Stimme überall über die Erde ausgießen würde. Sie haben mir also den „Fehler“ meines Weggangs verziehen, und ich frage mich, ob sie mein Verlassen Palästinas überhaupt je so gesehen haben. Der Empfang, der mir bei meiner Rückkehr bereitet wurde, zeigt mir, daß die Menschen den „Prophezeiungen“ der Hohenpriester der literarischen Medien nie geglaubt haben, die nach meinem Weggang meinen Tod verkündet hatten. Noch bevor ich an meinem neuen Aufenthaltsort auch nur einen einzigen Vers geschrieben hatte, hatten diese Propheten schon entschieden, ich sei kein Dichter mehr, denn in ihren Augen hing meine poetische Ader von meiner physischen Zugehörigkeit zu einem Ort ab. Sie hatten mich zum Tode verurteilt, bevor sie auch nur gesehen hatten, was das Exil und die Entfernung hervorbringen würden. Die Treue des Dichters zu seinen Lesern konkretisiert sich nicht in seinem direkten politischen Handeln, sondern in der Ernsthaftigkeit seines Werkes. Ich bin sehr stolz auf die Tatsache, daß meine Leser mein Recht auf Experimente anerkennen. Meine Poesie hat sich zu wiederholten Malen gegen das aufgelehnt, was sie war. Ich habe unablässig versucht, sie zu erneuern und bin dabei jedesmal das Risiko eines Bruchs mit den Lesern eingegangen. Aber das Vertrauen, daß die Leser in meine innere Welt setzten, hat sie dazu gebracht, alle Innovationen zu akzeptieren. So habe ich mich in keiner Weise verpflichtet gesehen, dem Bild zu entsprechen, das meine ersten Gedichte dem Bewußtsein der Leser eingeprägt hatten.
Badr, Muhammad und Jaber: Glauben Sie, daß der „Mythos“, von dem wir sprachen, Ihr Gefühl des Exiliertseins verschärft hat?
Darwisch: Selbst wenn ich morgen an den Ort zurückkehrte, an dem ich zuerst gelebt habe, müßte ich meine Zurückgezogenheit beibehalten. Es handelt sich hier um eine innere Einsamkeit, in dem Sinne, daß ich meine innere Welt betrachten und in der Lage sein muß, die Freiheit meines Schreibens zu bewahren. Der Leser darf nicht direkter Zeuge des Schreibens sein. Er muß sogar davon ferngehalten werden. Ich weiß, daß er dennoch immer anwesend ist. Aber diese Anwesenheit ist verhüllt, indirekt. Andernfalls verwandelt sich der Leser in einen Polizisten. Ich sollte hinzufügen, daß das Exil nicht zwangsläufig Entfernung von der Heimat bedeutet. Vor meinem ersten freiwilligen Weggang aus Palästina war ich ein Fremder in meiner Heimat, ein Exilierter in meiner Heimat, ein Gefangener in meiner Heimat, und das hat nicht für einen Augenblick das Band, das uns vereinte, berührt. Ich habe mir irgendwie die Erfahrungen des Lebens, der Kultur, der Seelenzustände zu eigen gemacht, die die dialektische Beziehung zwischen Exil und Heimatland erzwingt. Und ich bin überzeugt, daß das Exil zutiefst in mir verankert ist, und zwar bis zu einem Punkt, wo ich ohne es nicht schreiben kann, und daß ich es mit mir tragen werde, wohin ich auch gehe, und es mit zurück zum Haus meines Ursprungs nehmen werde.
Badr, Muhammad und Jaber: Mahmoud Darwisch hat seinen Blick auf das Hohelied und die Bibel gerichtet, und er möchte sie neu schreiben. Stimmt diese Behauptung?
Darwisch: Darauf werde ich nicht mit einem Ja oder Nein antworten. Ist das denn im übrigen überhaupt notwendig? Die Beschäftigung mit Literatur ist eine Tätigkeit, die nie ein Ende kennt. Sie ist eine offene Erfahrung, durch die man die Reife erlangen möchte. Der Schriftsteller läßt von ihr nur ab, um sich in einer neuen Erfahrung zu engagieren, und so geht es immer weiter. Es gibt keine endgültigen Antworten, weder auf der Ebene der Theorie noch auf der der Schöpfung. Literatur ist nichts anderes als eine unterbrochene Folge von Infragestellungen, von Antworten auf Fragen, die selbst wieder neue Fragen hervorbringen.
Das Hohelied gilt, wenn man von seinem Kontext einmal absieht, allgemein als einer der größten Liebesgesänge der Menschheit. Manche meinen, es sei von den Gesängen des pharaonischen Ägypten inspiriert, andere sehen sumerische Ursprünge darin. Es ist ganz einfach ein fundamentaler Text der Liebesdichtung. Alle Dichter der Welt haben darüber nachgedacht und von ihm gelernt.
Davon abgesehen bin ich als Palästinenser das Produkt dieser Erde, und in dieser Eigenschaft betrachte ich mich als den Treuhänder sämtlicher Kulturen, sämtlicher Werke, die hier das Licht der Welt erblickt haben. Und dazu gehört auch die Bibel.
Und in jedem Dichter lebt der Wunsch, den Anfang der Dinge, die ersten Manifestationen des Menschen, die ersten Beziehungen zwischen dem ersten Menschen und der ursprünglichen Erde zu beschreiben… Jeder Dichter mit einem poetischen Projekt wünscht sich glühend, sein eigenes Buch Genesis zu schreiben. Das Schreiben ist ein Prozeß ständigen Wachstums, der nie aus dem Nichts kommt. Es gibt in der Literatur keinen Grad Null, und hinter jedem Schreiben in der Literatur steht ein anderes.
Wenn man das in Betracht zieht, wenn man die Frage unter dem Gesichtspunkt der Beziehung zu dieser Erde angeht, liegen die Dinge noch klarer. Und mein Anspruch, mein eigenes Buch Genesis zu schreiben, nimmt eine ganz andere Dimension an. Es handelt sich tatsächlich um einen Dialog mit all den Kulturen, die auf der Erde Palästinas aufeinandergefolgt sind. Das ist einer der Aspekte der intellektuellen Debatte, die unsere Gegenwart und diejenige des Anderen betrifft. Auf jeden Fall sind die heiligen Texte das Eigentum der gesamten Menschheit. Ich habe daher keinerlei Scheu, sie zu diskutieren, ihnen zu widersprechen oder sie zur Grundlage meiner eigenen Texte zu machen.
Badr, Muhammad und Jaber: Glauben Sie nicht dennoch auch, daß das Loblied für das Mittelmeer, das „den“ großen Bezugspunkt jenes Teils der Welt bildet, spezifisch ist?
Darwisch: Das östliche Mittelmeer ist die Wiege großer Zivilisationen der Menschheit, und Palästina bildet einen Teil davon. Drei große „ursprüngliche“ Zivilisationen erlebten dort ihre Blüte: die ägyptische, die sumerische und die kanaanitische, auch wenn letztere lange Zeit aus Gründen, die Sie wohl erraten können, in Dunkelheit gehüllt wurde. Das östliche Mittelmeer ist in gewisser Weise der Garten der Kindheit der Welt.
Man kann über unsere gegenwärtige Identität Diskussionen führen, soviel man will, und vorgeben, die mittelmeerische Identität könne sich nicht mit unserer arabischen Identität vertragen, aber nichts kann uns an der kulturellen Zugehörigkeit zum Mittelmeer hindern, und das impliziert in keiner Weise die Ersetzung der einen Identität durch eine andere. Denn die mittelmeerische Identität ist universal, und jeder Angehörige der heutigen Welt hat mit diesem Meer eine genealogische Verbindung. Auf unserer Zugehörigkeit zu dieser Kultur, ihrer schöpferischen Tradition, ihrem kulturellen Erbe zu bestehen, bedeutet nicht, unsere eigene Identität zu negieren, sondern sie zu bereichern.
Was den Lobgesang betrifft, so ist er in der Nachbarschaft des Mittelmeers, bei den Sumerern, geboren worden und hat dann auf den Schiffen der Griechen das Meer überquert.
Badr, Muhammad und Jaber: Ihre Gedichte tendierten zum Tragischen, bis vor kurzem die politische Beruhigung eintrat, die allerdings möglicherweise nur vorübergehend ist. Als ob es diese Konfrontation gewesen wäre, die Ihrer Poesie ihren tragischen Charakter gab. Könnte man die Ansicht vertreten, daß Ihre Gedichtsammlung Warum hast du das Pferd seiner Einsamkeit überlassen? eine andere Richtung ankündigt?
Darwisch: Das ist der Eindruck, den eine flüchtige Lektüre dieses Gedichtbandes hinterlassen könnte. Wenn man sie allerdings als Einheit auffaßt, geht von ihr ganz unbestreitbar ein tragischer Atem aus. Ich würde, was diese Gedichtsammlung angeht, lieber von einer neuen Art des Aufbaus sprechen. Er basiert auf einem immer wieder hervortretenden Lyrismus, der, indem er das Feld einer entfernten Geographie und Geschichte bearbeitet, versucht, drei Erzählungen miteinander zu verschmelzen: eine Autobiographie, eine Biographie des Ortes und seiner Geschichte und die Geschichte einer poetischen Kultur. Das erklärt vielleicht die Verschiedenartigkeit der Ausdrucksformen in diesem Gedichtzyklus. Außerdem genügt es, eine Folge von im Crescendo gehaltenen Sequenzen zu lesen, um sich darüber klar zu werden, daß dieser Band die tragische Dimension meiner vorhergehenden Bücher nicht verläßt. Es stimmt, daß diese Gedichtsammlung nicht auf dieselbe, gleichsam epische Weise aufgebaut ist. Aber muß der Dichter denn immer denselben Wegen folgen? Muß er nicht, ohne je den Faden seiner grundlegenden Ausrichtung zu verlieren, seine Formen erneuern und vervielfältigen?
Ich bin gegen das Konzept, das den Schriftsteller als Propheten sieht. Die Helden meiner Gedichte sind einfache Menschen, die ihren Blick nach innen richten, um sich einen persönlichen Bereich zu schaffen. Unbedeutende Wesen, die sich ohne kriegerischen Geist und ohne hochfliegende Vorstellungen Gedanken über ihre Existenz machen. Ich glaube im übrigen nicht, daß es heute noch einen Platz für das Epos in seiner klassischen Auffassung gibt. Das moderne Epos ist eine Suche nach Wegen, existentielle Fragen zu formulieren.
Badr, Muhammad und Jaber: Sie sind sehr schweigsam, was andere palästinensische Schriftsteller angeht. Tatsächlich haben Sie noch nie ein öffentliches Urteil über einen von ihnen abgegeben.
Darwisch: Ich habe noch nicht den Rang eines Weisen oder eines Richters erreicht, der Noten und Auszeichnungen zu vergeben hätte. Das Konzept des „größten Dichters“ ist veraltet. Es gibt weder einen besten Schriftsteller noch einen zweitbesten. Es gibt nichts als Stimmen, die ein Konzert bilden und zusammenwirken. Das Leben birgt genug Poesie in sich, um einer Vielzahl von Dichtern zu ermöglichen, ihre Erzählungen vorzutragen und ihre Menschlichkeit auszudrücken. Aus diesem Grund sage ich, wenn man mich fragt, wie ich denn den oder jenen finde, ausnahmslos: hervorragend.
Ich muß außerdem gestehen, daß diese Haltung mich auch vor Klatsch schützt. Sie erspart gewissen Leuten, sich über den Preis meiner Hemden den Kopf zu zerbrechen, den Spuren meiner Liebesbeziehungen nachzugehen und mein persönliches Leben zu überwachen. Ich verlange ausschließlich, daß man mich vergißt.
Meine Generation hat jener, die ihr gefolgt ist, eine große ästhetische Errungenschaft weitergegeben. Unsere jungen Schriftsteller sind nicht mehr gezwungen, sich der nationalen Sache zu weihen oder die historische Legitimität unserer nationalen Forderungen zu verteidigen, denn wir haben das bereits getan – und vielleicht in höherem Maße als notwendig. Die Dichter können nunmehr ihr eigenes Universum erforschen, ihr Leben erzählen, ihre Fragen stellen, ohne patriotischem Druck ausgesetzt zu sein. Wir haben viel dafür geopfert, daß unsere jungen Schriftsteller sich auf die Suche nach ihrer Stimme machen können. Wir haben all unsere Kraft angespannt, um dem dichterischen Handeln eine patriotische Legitimität zu geben. Die Jungen haben nicht mehr über Geographie und Geschichte grübeln müssen; sie verfügen über ein Erbe, das sie jedermann entgegenhalten können. Sie müssen sich jetzt nur noch in den schönen Gefilden der Poesie einrichten.
Badr, Muhammad und Jaber: Ist das denn nicht auch einer der Gründe dafür, daß man Ihre Gedichte immer durch das Prisma der Politik interpretiert? Man ist Ihnen einiges schuldig geblieben, und nur sehr wenige Kritiker haben Ihr Werk um seiner selbst willen studiert.
Darwisch: Das stimmt. Aber was ich gerade gesagt habe, bedeutet nicht, daß meine gesamte Poesie der Verteidigung unserer nationalen Legitimität gewidmet wäre. Ich habe lediglich zu bestimmten Zeiten diese Art Dienst geleistet, ohne deshalb aufzuhören, dafür sensibel zu sein, daß die Poesie ihren Status von allem freihalten muß, was ihr fremd ist, besonders von heroischem Atem. Ich strebe mit aller Kraft an, meine Poesie von den Zwängen der Aktualität zu befreien, ihr jene Elemente des Lebens einzuhauchen, die ihr erlauben, auch außerhalb des geschichtlichen Augenblicks zu leben und zu bestehen.
Aufgrund der symbolischen Last, die meine Person und meine Arbeit umgibt, hat die Kritik sich von den ästhetischen Aspekten meiner Poesie abgewandt und sich statt dessen nur für ihre nationalen oder politischen Aspekte interessiert. Wenn man davon einmal absieht, kann ich mich über die Kritiker nicht beklagen. Sie beschränken sich ja sehr oft einfach darauf, das zu wiederholen, was sie auf den Universitäten gelernt haben. Und da meine Poesie dort nicht auf dem Lehrplan steht, beschränken sich die Spezialisten auf vier oder fünf gängige Dichter der Avantgarde…
Aber wir haben jetzt eine Generation, die sich von akademischen Hemmungen und universitären Stereotypen befreit hat und über die Entwicklung der Literaturkritik des Westens, die manchmal innovativer ist als die Werke, die sie behandelt, im Bilde ist. Und ich bin sehr glücklich darüber, daß diese Generation sich seit einigen Jahren für mein Werk interessiert, wie man zum Beispiel kürzlich in Kairo während eines Seminars, an dem siebenundzwanzig Kritiker teilnahmen, sehen konnte.
Das Hauptproblem unserer „klassischen“ Kritiker resultiert aus der Tatsache, daß ihr Handwerkszeug veraltet ist und daß sie aufgehört haben, zu lesen und sich über die Fortschritte in ihrem eigenen Tätigkeitsbereich zu informieren. Ich bin nicht der einzige, der unter diesem Stand der Dinge leidet. Das gesamte Schaffen der letzten beiden Jahrzehnte ist nicht zum Gegenstand einer modernen kritischen Herangehensweise gemacht worden. Und schließlich beklage ich mich, was mich selbst betrifft, weniger über die Kritik als solche als über die Hartnäckigkeit einiger Kritiker, mich systematisch unter der Rubrik „palästinensische Sache“ einzuordnen.
Badr, Muhammad und Jaber: Hat Ihr Exil nun mit dieser ersten Rückkehr nach Hause ein Ende gefunden? Empfinden Sie Sehnsucht nach Ihrer Nostalgie? Und glauben Sie, daß ein Minimum an Stabilität notwendig ist, um kreativ tätig sein zu können?
Darwisch: Das Exil geht niemals zu Ende, ob man sich nun weit entfernt von der Heimat befindet oder zu Hause ist. Ich möchte Sie diesbezüglich auf den wunderbaren Text von Abu Hayan al-Tauhidi über den Fremden verweisen. Es gibt vielfältige Ebenen, Aspekte und Befindlichkeiten des Status des Fremden. Man kann in der Sprache, in der Liebe, in seiner Haltung zur Gerechtigkeit, in einer abweichenden Sicht des Lebens exiliert sein, so wie man es aufgrund der Besatzung oder des Eingesperrtseins sein kann. Das wahrhafte Exil ist dasjenige, das man in seinem Heimatland erfährt, nämlich das innere Exil. Gewiß bringt die besondere Situation der Palästinenser das Exil hervor, aber es ist ja außerdem so, daß der Araber ganz allgemein nach dem berühmten Vers von Mutanabbi ein „Fremder nach Gesicht, Hand und Sprache“ ist.
Während meines allzu kurzen Besuchs in Palästina habe ich natürlich einen Augenblick lang geglaubt, mein Exil sei jetzt zu Ende, aber das war die vorübergehende Wirkung einer überschäumenden Freude. Mittlerweile mache ich mir keine Illusionen mehr: Die Wahl eines Wohnortes beendet das Exil nicht. Ist das Exil schließlich nicht eine der Quellen der literarischen Schöpfung im Verlauf der Geschichte? Ein Mensch, der sich in vollkommener Harmonie mit seiner Gesellschaft, seiner Kultur, mit sich selbst befindet, kann kein Schöpfer sein. Es bedarf einer starken inneren Spannung, um die Regeln zu überschreiten, was aber eine notwendige Bedingung für jede schöpferische Tätigkeit ist. Und das würde selbst dann gelten, wenn unser Land ein Paradies wäre, selbst dann, wenn es uns gelänge, ein Paradies aus ihm zu machen. Die vitale Lust an der Erneuerung ist der Keim für eine schöpferische Arbeit. Auch wenn Glück, Erfüllung und Vollendung vielleicht gute Sitten hervorbringen können, so bringen sie doch niemals eine wahre Literatur zutage.
Badr, Muhammad und Jaber: Die Unruhe ist demnach für Sie unentbehrlich. Aber läuft sie, wenn sie zu groß wird, nicht Gefahr, die Kreativität zu ersticken?
Darwisch: Ich brauche das Gleichgewicht zwischen einem gewissen Grad von Spannung und einer gewissen Heiterkeit; und ich kann sagen, daß ich, nachdem ich meine Aufmerksamkeit für jene innerliche Alchimie lange Zeit geschärft habe, dieses Gleichgewicht mittlerweile erkenne, sobald es sich zeigt.
Aber vor allem sollten Sie jetzt in meinen Worten kein allgemeingültiges Prinzip sehen. Jeder Autor hat seine Gewohnheiten, seine eigene Art, auf die äußeren Gegebenheiten zu reagieren. So gibt es zum Beispiel Schriftsteller, die nicht nachts schreiben können. Zu diesen gehöre auch ich. Es gibt Dichter, die, wenn sie verliebt sind, spontan Liebesgedichte schreiben. Mir geht das nicht so. Während ich meine Liebe lebe, spüre ich gar keinen Wunsch, ihr Vorhandensein schriftlich niederzulegen. Ich habe die Poesie immer als die Spur des Abwesenden aufgefaßt.
Badr, Muhammad und Jaber: Sie haben einmal gesagt, daß die Geschichte bei Ihnen die Eigenschaft der Ironie entwickelt hat. Ebenso haben Sie sich einen Weg vom Besonderen zum Allgemeinen gebahnt und haben die Tatsache des Nationalen ins Register des Universellen eingeschrieben.
Darwisch: Beginnen wir mit der Ironie. Es gibt mehrere Sichtweisen der Geschichte. Bewegt sie sich auf ein Ziel zu? Folgt sie einem vorgezeichneten Weg zum Fortschritt? Schreitet sie ununterbrochen voran? Ist sie ihrem Wesen nach fortschrittlich? Ist sie im Gegenteil absurd?
Unsere intellektuelle Erziehung hat uns zu der Überzeugung gebracht, daß sich die Geschichte in einer Aufwärtsspirale bewegt. Aber gleichzeitig sind wir während der letzten fünfzig Jahre privilegierte Zeugen der Absurdität der Geschichte gewesen. Selbst wenn sie Fortschritte macht, ist die Geschichte doch voller absurder Abwege, die der Mensch nicht anders ertragen kann als dadurch, daß er sich mit Ironie bewaffnet. Die Geschichte selbst ist ironisch, und sie schreitet voran, ohne sich um die Menschlichkeit ihrer Akteure oder ihrer Opfer zu kümmern. Mit Ironie an die Geschichte heranzugehen, also ihre Abläufe zu ironisieren, unsere eigene Haltung zur Geschichte zu ironisieren, erlaubt unserer bedrückten Seele, Atem zu schöpfen. Die Ironie besteht aus nichts anderem als aus Verzweiflung. Sie ist wie ein anmutiges Duell mit der Geschichte. Sie erlaubt uns, ihr von gleich zu gleich auf ihrem Gebiet gegenüberzutreten. Es bedarf eines gewissen Nihilismus, um die Grausamkeit der Geschichte zu ertragen, denn sie ist noch nie gerecht oder elegant gewesen. Auf diesem Weg habe ich gelernt, mich langsam von der unmittelbaren Aktualität loszulösen, um über die Geschichte in ihrer allgemeinen Bewegung zu meditieren.
Unser bleibendes literarisches Problem als Palästinenser besteht darin, daß wir dazu verurteilt sind, Kinder des unmittelbaren Augenblicks zu sein, denn unsere Gegenwart will weder beginnen noch aufhören. Als ob sie die gesamte Geschichte umfassen würde. Die Gegenwart ist so hart, daß sie ihre eigene Geschichtlichkeit, ihre Vergangenheit und Zukunft verdunkelt. Außerdem ist es für uns furchtbar schwer, uns von ihr freizumachen, um die sichereren und festeren Ufer der Vergangenheit zu erreichen und den Ablauf der Geschichte zu beobachten. Das erfordert Intelligenz im Denken, aber auch eine Intelligenz des Herzens. Es ist eine Selbstüberwindung. Denn beim Unmittelbaren handelt es sich auch um Zeit, um ein Ganzes, das sich wiederholt. Die Fixierung auf den geschichtlichen Augenblick versperrt uns den Zugang zu den metaphysischen Fragen. Sie erlaubt uns nicht, uns vorzustellen, daß es einen natürlichen Tod gibt. Alle unsere Toten sind Märtyrer. Es ist der roten Rose verboten, nicht blutüberströmt zu sein, und es ist uns nicht gestattet, die Dinge frei zu betrachten, außer auf dem Weg über die Tragödie. Unsere Poesie leidet an einem Mangel an Metaphysik. Sie krümmt sich unter der Herrschaft des Relativen über das Absolute.
Wir müssen aus unserer Aktualität das herausziehen, was geeignet ist, sich auf das Menschliche hin zu entwickeln. Wir müssen uns vom Punktuellen loslösen, hervorgerufen durch äußere politische Pressionen, um über das Menschliche in uns nachzudenken. Der größte Teil unserer palästinensischen Literatur handelt von der palästinensischen Sache und schweigt zum Menschlichen in diesem Volk, zu seiner Existenz und zu seinen Fragestellungen. Bei uns ist das behandelte Thema wichtiger als die Essenz. Aber eine große Sache setzt sich aus einer Vielzahl kleiner Parzellen der Menschlichkeit zusammen. Und es wird nur dann eine wirkliche Befreiung geben, wenn es uns gelingt, unser allgemeines Thema zu überschreiten, um zu erforschen, was es an Menschlichem in sich birgt. Wenn dies nicht geschieht, wird unsere Literatur nur ein endloses politisches Dokument sein.
Wenn wir uns zum Beispiel nach einem Massaker ans Schreiben machen, beschreiben wir anschaulich das Gemetzel, das Blut, die Morde, die Zahl der Opfer. Aber wir erzählen nicht die Geschichte auch nur eines einzigen dieser Opfer, wir nennen nicht den Namen auch nur eines einzigen von ihnen. Aber das Gedicht, das ist der Name des Opfers, sein Leben, die Beschreibung des letzten Blicks, den es auf seinen Mörder geworfen hat. An was dachte das Opfer, was tat es in seinen letzten Augenblicken? Hat es sich noch einmal zu den Bergen umgewandt? Hat es auf das Meer geblickt? Es ist diese Sorge um den Menschen, die der Poesie ihr Feuer verleiht und ihren Fortbestand über ihre eigenen historischen Bedingungen hinaus sichert.
Badr, Muhammad und Jaber: Der irakische Dichter Sadi Yussuf hat einmal gesagt: „Sämtliche palästinensischen Dichter haben sich auf Palästina gestützt, mit Ausnahme Mahmoud Darwischs, auf den sich Palästina gestützt hat.“ Hat dieses „Sich Stützen“ Sie ermüdet, Ihnen Kummer gemacht, Sie mit Glück erfüllt?
Darwisch: Bei allem Respekt für Sadi Yussuf und ungeachtet der Bewunderung, die ich für seine Poesie empfinde – denn er ist ein großer Dichter und mir in der arabischen Literaturlandschaft der Liebste –, darf man doch diese Bemerkung nicht zu wörtlich nehmen. Ich bin ihm für diese Huldigung dankbar, aber ich denke, daß er damit hat sagen wollen, daß es mir gelungen ist, meine Poesie aus dem Halseisen des Engagements zu befreien. Mit anderen Worten: Es ist mir gelungen, eine unabhängige poetische Sprache zu entwickeln, die sich nicht auf ihre thematische Achse reduziert. Das, und nicht Palästina, ist es, wovon er spricht. Palästina ist in seiner ganzen menschlichen und kulturellen Präsenz größer als wir alle. Außerdem glaube ich, daß es in der Literatur noch nicht die Behandlung erfahren hat, die es verdient. Sadi hat ganz einfach jede poetische Haltung kritisieren wollen, die ihre Legitimität auf eine große Sache gründet.
Es stimmt, daß ich mich nicht auf die palästinensische Sache gestützt habe. Aber wenn dem so ist, dann deshalb, weil ich ihr Kind, ihr Geschöpf bin. Ich habe Palästina nicht zum Thema gewählt, es ist mein Schicksal, meine menschliche und ästhetische Umgebung. Was das betrifft, bin ich über die Abwesenheit des Ortes und seiner wirklichen Eigenheiten in einer Poesie beunruhigt, die doch vorgibt, diesen Ort zu feiern. Palästina ist viel schöner als die Nostalgie. Ich finde die Pflanzen, die Tierwelt, die Züge der Landschaften, mit einem Wort, das wirkliche Palästina in der palästinensischen Poesie nicht wieder. Denn Palästina wird immer aus der Ferne, durch das ausschließliche Prisma des Patriotismus beschrieben.
Nein, ich habe nicht darunter gelitten, daß ich fort war. Und ich bemühe mich, eine Legitimität zu gewinnen, ohne mich allzu lange mit der angeblichen Mission der Poesie aufzuhalten. Es ist Aufgabe des Gedichts, seine eigene Legitimität zu begründen. Was die Mittel angeht, dies zu erreichen, so stammen sie aus dem Innern des Gedichts selbst, aus dem Handwerk des Dichters. Nehmen Sie eines meiner am leichtesten zugänglichen Gedichte: „Ich sehne mich nach dem Brot meiner Mutter“. Dieses Gedicht steht in keiner Verbindung zu welcher Sache auch immer, was es aber nicht daran gehindert hat, in Vergangenheit wie Gegenwart Millionen von Menschen zu bewegen. Ich spreche dort jedoch nur von einer ganz bestimmten Mutter und nicht von einem Heimatland. Aber diese Mutter verwandelt sich schließlich dank des poetischen Bildes in eine Vielfalt anderer Bilder, und das ist es, was jeder Dichter unwillkürlich anstrebt. Hier haben Sie ein Gedicht ohne Geschichte, ohne epischen Atem. Es handelt sich um eine ganz alte Geschichte. Ein Mensch besingt seine Mutter, und es gelingt seinem Gesang, die Herzen zu berühren. Die Funktion eines Gedichts darf erst zum Vorschein kommen, wenn es fertig ist, denn das Schreiben muß neutral, frei von jeder ideologischen oder symbolischen Befrachtung sein.
Badr, Muhammad und Jaber: Wenn Ihre Poesie sich in die Trägerin vielfältiger Bedeutungen verwandelt, haben Sie dann auch Gedichte geschrieben, die absichtlich symbolisch waren?
Darwisch: Nein. Auf diesen Punkt habe ich immer geachtet. Ich glaube, den Mut zu besitzen, mir Fragen über die Gründe für den Erfolg dieses oder jenes Gedichts zu stellen. Das ist der Schlüssel zu meinen Meinungsverschiedenheiten mit den Anhängern meines Gedichts „Schreib auf: Ich bin Araber“. Einige Leute wollten mich gegen meinen Willen in diesen Text, in seinen Inhalt einsperren.
Aber ich muß auch eine Selbstkritik anbringen. Zu bestimmten Zeiten hat mich die nationale Pflicht genötigt, in direktem Sinne engagierte Gedichte zu schreiben, wie zum Beispiel das Gedicht „Passanten inmitten vorbeiziehender Worte“ oder bestimmte Gedichte, die ich im Libanon geschrieben habe, vor allem das Gedicht über Beirut, das Passagen enthält, die zu direkt sind. Der Schriftsteller und der Intellektuelle stehen manchmal vor Verantwortlichkeiten, denen sie nicht den Rücken kehren können. Dann müssen sie jedoch den sozialen Auftrag außerhalb der Poesie erfüllen: durch eine Rede, einen Artikel, eine Meinungsäußerung. Unser Land hat gewisse Rechte über uns, aber es darf nicht so sein, daß diese Rechte immer auf Kosten der Poesie ausgeübt werden.
Meine Beiruter Periode war für meine poetische Erfahrung keine glückliche Zeit: Es gab direkten Druck, den Druck des Krieges, des Todes, der Verbrechen. All das hat die ästhetischen Fragestellungen durcheinandergebracht, die im übrigen als Luxus erschienen. Wir waren Adressat einer äußeren Forderung an die Poesie, einer persönlichen Forderung, einer Forderung des Menschlichen in uns. Angesichts des Todes so vieler Menschen konnte ich nicht neutral bleiben. Wir wurden von einem unschuldigen und spontanen Gefühl getrieben, und wir hatten nicht den notwendigen Spielraum, um Texte zu schreiben, die der Poesie genug Platz geboten hätten. Ich sage manchmal, daß ein Körnchen Salz genügt, um ein Gedicht zu retten…
Diese Urteile gelten nicht für sämtliche Gedichte, die ich in Beirut geschrieben habe. Aber nichtsdestoweniger glaube ich, daß unsere Poesie auf die erwähnte Forderung etwas vorschnell geantwortet hat; zudem ist es so, daß die Poesie schneller reagiert als der Roman. Das entbindet allerdings nicht von der Notwendigkeit, sorgfältig an der Form der Elemente, die ein Gedicht ausmachen, zu arbeiten.
Badr, Muhammad und Jaber: Wenn Sie ein Gedicht schreiben, folgen Sie dann Ihren Intuitionen oder einem im vorhinein umrissenen Plan?
Darwisch: Jedes Gedicht muß den Anschein erwecken, als sei es der erste Text, den man jemals geschrieben hat: spontan, fähig, das Anorganische in Organisches zu verwandeln, wie die Welle, die am Strand anbrandet und dennoch eine Welle bleibt. Die Verwunderung ist unentbehrlich; ebenso die Bereitschaft, verwundert zu sein. Wenn es nicht so wäre, wäre jedermann Dichter. Die Akademiker und Professoren wissen mehr über die Poesie als alle Schriftsteller zusammengenommen, und dennoch können sie keine schreiben. Denn ihnen fehlt diese Bereitschaft, die vielleicht eine göttliche Gnade ist!
Wir, aufrecht an der Feuerlinie, wir erklären folgendes:
Wir werden den Schützengraben nicht verlassen,
Solange die Nacht nicht vorbei ist.
Beirut ist dem Absoluten anheimgefallen
Und unsere Augen dem Sand.
Am Anfang waren wir noch kaum geboren,
Am Anfang war das Wort.
Und so erscheinen im Schützengraben
Die ersten Anzeichen von Schwangerschaften.
Das war die Prophezeiung des Dichters, verkündet vor fünfzehn Jahren. Hat die Geburt stattgefunden? Wie ist das Verhältnis von Prophetie und Poesie?
Das ist eine wichtige Frage. Ich habe sie mir oft selbst gestellt. Es ist, als ob bestimmte Gedichte die Zukunft ankündigten. So habe ich von unserem Weggang aus Beirut erzählt, lange bevor es dazu gekommen ist; ich habe die Intifada schon 1976 beschrieben… Aber es handelt sich hierbei nicht um Prophezeiungen, selbst wenn Vorahnungen eine wichtige Rolle dabei spielen. In Wirklichkeit handelt es sich um eine Fähigkeit, die Realität zu beobachten, ohne sich in den Erscheinungen zu verlieren. So mußte man keine außergewöhnliche Intelligenz besitzen, um zu der Einschätzung zu gelangen, daß unsere Anwesenheit in Beirut nicht von Dauer sein würde und daß die Erholungspause, die den Palästinensern und ihren Organisationen dort vergönnt war, bald zu Ende gehen würde. Jeder genaue Beobachter dieser zwischenzeitlichen Konjunktur konnte seit dem Beginn des libanesischen Bürgerkriegs nur den Schluß ziehen, daß diese Anwesenheit mit einer erneuten erzwungenen Abreise enden würde. In diesem Bürgerkrieg konnten wir weder siegen noch geschlagen werden. Ich bin im übrigen der Meinung, daß die Niederlage das kleinere Übel war. Ein Sieg wäre eine Katastrophe gewesen. Was hätte es für uns bedeutet, wenn wir in Beirut den Sieg davongetragen hätten? Ich habe die Begeisterung und die triumphalen Reden über diese Aussicht damals nicht verstanden. Und ich muß gestehen, daß ich sie bis heute nicht verstehe. Ein palästinensischer Sieg im Libanon hätte das Ende der Suche der Palästinenser eingeläutet.
Sie sehen, daß gerade in diesem Fall das, was Sie als Prophezeiung bezeichnet haben, nur eine realistische Sichtweise der Ereignisse ist, wenn man sie in ihrer historischen Kontinuität sieht. Es ist gleichwohl wahr, daß diese Beurteilung zunächst ein Vorgefühl erfordert, das die Grundzüge der Szenerie beleuchtet. In dieser Hinsicht glaube ich tatsächlich, daß es mir weder in meiner Sichtweise der Ereignisse noch im Erraten kommender Konstellationen an Kühnheit fehlt.
Nehmen Sie mein Gedicht „Und die Erde pflanzt sich fort wie die Sprache“. Geschrieben 1987, spricht es von der Rückkehr der Palästinenser auf ihre Erde, als ob sie schon verwirklicht wäre und als ob die palästinensische Sache, so wie sie damals verstanden wurde, schon ans Ziel gelangt sei. Aus diesem Grund schreibe ich nicht mehr über die Rückkehr, denn ich habe sie bereits vorweggenommen. Es war die Intifada, die den Ausgangspunkt für meine Intuition bildete, insofern sie mir signalisierte, daß die Palästinafrage nach nicht endenwollendem Exil dabei war, auf ihren angestammten Boden zurückzukehren. Das hat mich dazu gebracht, in meinem Gedicht das Konzept der Rückkehr mit der tatsächlichen Rückkehr zu verschmelzen.
Die „Gabe der Prophetie“ ist die Fähigkeit, die Zirkulation der Zeichen im Innern der Realität zu lesen. Sie erfordert naturgemäß Intuition, denn ohne sie würde es dem Gedicht an Vorstellungskraft fehlen.
Badr, Muhammad und Jaber: Spielt Ihre politische Erfahrung eine Rolle? Sie haben ein sehr reiches politisches Leben geführt…
Darwisch: Meine politische Erfahrung wird von Zehntausenden von anderen Palästinensern geteilt. Und es sind viele unter ihnen, die erfahrener sind als ich. Aber sie haben dennoch nicht die gleichen Intuitionen gehabt. Die mit der Bilderwelt der Poesie verknüpfte Erfahrung hat meine Vision der Zukunft geformt. Der Politiker, dem ein kultureller Zugang und poetische Imagination fehlen, bleibt in seiner Politik gefangen.
Aus Mahmoud Darwisch: Palästina als Metapher. Gespräche über Literatur und Politik, Palmyra Verlag, 1998
Ibrahim M. Abu-Hashhash: Tod und Trauer in der Poesie des Palästinensers Maḥmud Darwīš
Mahmoud Darwish – Algerie 1983 (Eloge de l’ombre).
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