„DAS KÖNNTE DEIN SCHREIBEN SEIN.“
– Gespräch mit Friedrich Christian Delius. –
Keith Bullivant: So banal sie auch klingen mag, so ist doch vor allem für Möchtegern-Schriftsteller eine Frage immer interessant, nämlich: wie fängt man an – von den üblichen pubertären Versuchen abgesehen –, wie macht man die ersten ernsthaften Schreibversuche?
F.C. Delius: Es ist wohl nicht zu vermeiden, daß man pubertär anfängt. Ich war mal sehr verblüfft, als ich, da war ich bereits vierzig oder älter, auf einem von mir, dem Zehnjährigen, mit Schreibmaschine getippten Zettel entdeckte, meine Mutter hatte den aufgehoben, daß ich mich damals als Dichter bezeichnet habe – die entsprechende Stelle mit dem „Weltplan“ und „Beruf: Dichter“ in Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde ist also ganz authentisch. Eine gewisse Prädisposition war also da, als ich mit sechzehn, siebzehn die ersten pubertären Gedichte schrieb. Es ist ja das Alter, in dem man nicht weiß, wohin mit sich, wohin mit all den Enttäuschungen und Hoffnungen, und dann bei den Künsten Ausdruck und Zuflucht sucht, in meinem Fall bei der Literatur. Das war sicherlich vorgeprägt durch die Sprachgewalt meines Vaters, die mich zunächst zu einem sehr stummen Menschen gemacht hat.
Ich mußte also zur Sprache, zum Schreiben finden. Die allerersten Gedichte sind Versuche gewesen, zu einer eigenen Sprache und Sprachhaltung und zu einer persönlichen Distanz zur Welt zu finden, ebenso wie die etwas späteren Kerbholz-Gedichte. Ich hatte nun das Glück, daß meine ersten Texte sehr bald von anderen ernst genommen und publiziert wurden, als ich 18, 19, 20 war, nicht nur bei der Schülerzeitung, auch bei literarischen Sendungen und Zeitschriften und Anthologien – ernsthaft wurden sie dadurch, daß sie gedruckt wurden. Das machte den Jungen stolz, er schrieb weiter.
Bullivant: Sie haben bei Walter Höllerer studiert. Fühlen Sie sich als Autor irgendwie durch seinen Einfluß geprägt?
Delius: Ich gehörte nicht zu den Autoren, die in die organisierte Schreibschule Höllerers gegangen sind wie Peter Bichsel, Nicolas Born, Fichte, Piwitt, Buch, Stiller und andere. Die lernte ich zwar alle kennen damals, um 1964, in Berlin, aber für Lyriker gab es das nicht, nur für Lyrik-Kritiker, ein Kurzseminar, das habe ich mitgemacht. Walter Höllerer als Hochschullehrer hatte einen guten Riecher für literarisch tätige Leute, die er zumindest vorübergehend für die Literaturwissenschaft gewinnen wollte. Bei Höllerer wurde nicht „interpretiert“, nicht ideologisiert, sondern stets das Handwerkliche, die Machart von Texten untersucht. Da lag ich ganz richtig mit meiner Dissertation über Held und Wetter. Beeinflußt als Autor hat mich Höllerer kaum, glaube ich, aber seine Skepsis gegenüber eindeutigen Deutungen und Ideologien traf sich mit meiner Skepsis gegenüber Machtsprachen, Sprachmacht und Ideologien.
Bullivant: Sie debütierten 1965 mit dem Lyrikband Kerbholz, ein Jahr später erschien der Text Wir Unternehmer, der für viele als das gelungenste Stück Dokumentarliteratur überhaupt gilt. Also mit der Lyrik das persönliche Sprechen, mit dem Dokumentarismus der Anspruch auf Objektivität: stellten diese Anfänge für Sie damals ganz verschiedene Möglichkeiten dar?
Delius: Ja, das waren zwei extrem verschiedene Ausdrucksformen, aber ich glaube, ich habe auch damals schon gespürt, daß dies zwei Seiten einer Medaille sind. Die Medaille ist die Sprache oder das Experimentieren mit der Sprache, mit Sprüchen, mit vorgegebenen Redeweisen und festen Denkweisen. Das ist ganz deutlich in den frühen Gedichten und in der Dokumentarpolemik Wir Unternehmer. Einen „Anspruch auf Objektivität“ habe ich damit jedoch nicht erhoben. Ich habe zwar einen sogenannten „objektiven“, vorgegebenen, publizierten Text benutzt, aber ich habe bewußt eine extrem subjektive Version davon hergestellt, deshalb der Untertitel: Eine Dokumentarpolemik. Diese subjektive „Auswahl eines Belletristen“ hatte, wie ich im Vorwort begründet habe, eigene Regeln, und sie zielte freilich auf etwas Allgemeines, Objektives: die Macht und die Sprache der Macht.
Einen Unterschied gibt es noch: die Gedichte sind nach und nach, in der späteren Phase einer Entwicklung, zwischen 1961 und 1965 entstanden. Wir Unternehmer verdankt sich einem Zufallsfund und der Überlegung: hier ist ein so tolles Material, damit müßte man doch etwas Originelles, Auffälliges machen. Es war eine höchst subjektive Frage: was fange ich, der Lyrik schreibende Germanistikstudent, mit diesem Sprachmaterial an, das mir die mächtigsten Leute der Bundesrepublik inklusive Bundeskanzler Erhard hier liefern?
Bullivant: Sie sagten: Experimentieren mit der Sprache. Das ist doch aber sicher anders gemeint als bei Heißenbiatel und anderen mit ihren Sprachexperimenten?
Delius: Ja. Ich meine damit, daß ich einige Zeit gebraucht habe, meine Sprache oder meine Sprachen zu finden. Wer Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde gelesen hat, weiß, wie schwer ich es hatte, buchstäblich zur Sprache zu kommen und das persönliche Sprechen zu entwickeln. Ich war mit Anfang Zwanzig, als die Kerbholz-Gedichte entstanden, immer noch dabei, eine Sprache, einen Ton zu suchen, der ein eigener sein könnte. „Wenn Schreiben heißt mit Sprache einen Platz behaupten, einen Raum füllen, eine Zeit verlängern, etwas Eigenes gegen die Welt setzen, dann gilt das für diese Gedichte“, so steht es im Nachwort zu den ausgewählten Gedichten Selbstporträt mit Luftbrücke. Und zunächst habe ich eigentlich nur mit der Sprache der Distanzierung, des Neinsagens, der Ironie experimentiert – also mich negativ definiert über das, wogegen ich mich abgrenze.
Bullivant: Ihr zweiter Dokumentartext, Unsere Siemens-Welt, führte zu einem spektakulären Prozeß, der sich über Jahre hinzog. Was bedeutete er für Sie persönlich, und was waren die Folgen für das Verhältnis zwischen Literatur und Gesellschaft?
Delius: Für mich persönlich zunächst einmal viel Arbeit, Streß, Reisen, Korrespondenzen, Forschungen, denn ich mußte ja all die neunzehn umstrittenen Details, die ich aus andern Büchern übernommen hatte, nachrecherchieren – immer unter dem Druck, vom Gericht bzw. von der Siemens AG in die Knie gezwungen zu werden. Aber ich fühlte mich moralisch im Recht, weil mein literarisches Konzept stimmte, weil ich wußte, daß mein Mittel, die satirische Sprache, letztlich stärker ist als die Macht des Geldes und der Juristen. Im Kampf David gegen Goliath ist David so unglücklich nicht.
Bullivant: Und in der Gesellschaft?
Delius: Es war schon eine gesellschaftliche Wirkung, daß die Presse immer wieder über den Prozeß berichtete – und das wirkte sich negativ für Siemens aus, weshalb man dort gewiß bereut hat, den Prozeß überhaupt angefangen zu haben. Ich habe im Prozeß versucht, offensiv vom literarischen Standpunkt her zu argumentieren, habe das Recht auf kritische Literatur, auf Satire vertreten und verteidigt, das hat in der Öffentlichkeit auch gewirkt. Aber im Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart wurde dann doch das „Persönlichkeitsrecht“ des Konzerns gleichrangig neben die Kunstfreiheit gestellt, was zu ziemlich kuriosen Begründungen geführt hat. Im Prinzip haben die Richter gefordert, daß jeder Schriftsteller oder Journalist, der aus anderen Büchern zitiert, den Wahrheitsgehalt der zitierten Fakten überprüfen muß. Das ist natürlich überhaupt nicht machbar, wer das ernst nimmt, kann mit seiner Arbeit einpacken. Aber man muß ja nicht alles ernst nehmen, was in solchen Urteilen steht. Im wesentlichen gilt, was Walter Jens damals gesagt hat: „Ein Siemens-Konzern, der vor Gericht gehen muß, bestätigt die Wirksamkeit von Literatur.“
Bullivant: In den frühen Siebzigern haben Sie für einige Jahre Ihre eigenen literarischen Ambitionen zurückgeschraubt, indem Sie Lektor beim Rotbuch-Verlag wurden. Was hat das veranlaßt? Unter Ihrer Schirmherrschaft sind eine Reihe von Werken inzwischen anerkannter Autoren dabei herausgekommen – von Peter Schneider, Jürgen Theobaldy, Thomas Brasch, Heiner Müller und anderen. Ein großes Verdienst als Lektor, ein Bonus für die deutsche Literatur. Aber was hat diese Pause für Sie als Autor bedeutet?
Delius: Im Sommer 1970, gleich nach Abschluß meines Studiums, begann ich als Lektor für Literatur bei Klaus Wagenbach, das war ein Halbtagsjob damals, da hatte ich mit Autoren wie Erich Fried, Hartmut Lange, Kurt Bartsch, Yaak Karsunke und vor allem mit Wolf Biermann zu tun. Als der Wagenbach-Verlag Anfang 1973 auseinanderbrach – das ist wieder ein Kapitel für sich: es ging um die alte Frage: ist Eigentum sozialisierbar, kann man in kapitalistischen Verhältnissen sozialistisch arbeiten? Wagenbach und alle Mitarbeiter wollten das, Verträge für ein „Kollektiv“ waren unterschrieben, dann gab es Klaus Wagenbachs Rückzieher und einen Riesenkrach – kurz, als der Verlag auseinanderbrach und die meisten Wagenbach-Leute die Chance hatten, in einem eigenen Verlag das Kollektiv-Modell weiterzuführen, war meine Entscheidung klar. Mit Wagenbach war ich in literarischen Fragen fast immer einer Meinung gewesen, aber er hatte sich in dem Konflikt so tückisch verhalten, daß es für mich nur die Lösung gab: mit den sechs Kollegen, drei Frauen, drei Männer, den Rotbuch-Verlag zu gründen. Ich habe damals gesagt: Wir fangen bei Null an, ich verspreche Euch, ich bin zwei Jahre voll dabei und stelle meine literarischen Ambitionen zurück. Ich konnte in den wenigen freien Stunden, es war ja ein 70- bis 80-Stunden-Job, noch Gedichte schreiben; die sind dann in dem Band Ein Bankier auf der Flucht 1975 erschienen. Ganz nebenbei hatte ich mich auch noch im Siemens-Prozeß zu verteidigen, der hauptsächlich auf meinen Schultern lag. Als aus den geplanten zwei Jahren vier geworden waren, sagte ich: So, nun wird es Zeit zu gehen, ich muß jetzt mal prüfen, wohin ich eigentlich gehöre: zu den Lektoren, Redakteuren, Vermittlern oder zu den Autoren. Es hat dann noch ein Jahr gedauert, bis wir eine Nachfolgerin gefunden hatten.
Die „Pause“ habe ich nicht als Nachteil empfunden. Von heute aus gesehen war sie wohl nötig, um diesen doch recht großen Sprung vom Dokumentaristen zum Romanautor schaffen zu können – und der Versuchung zu widerstehen, mich als erfolgreicher Dokumentarsatiriker, als eine Art Schreibtisch-Wallraff zu etablieren.
Ich meine das nicht abwertend. Ich will damit sagen, ich hätte nun ähnliche Festschriften über Daimler-Benz, die Deutsche Bank, die Atomindustrie usw. schreiben können und wäre damit sicher ganz erfolgreich gewesen. Aber ich habe in diesen Jahren gespürt, daß dies Feld mir nicht genügt, daß ich mich nicht wiederholen kann, ich mußte mir neue, höhere künstlerische Ziele setzen. Aber 1974, 1975 hätte ich mich sicher noch nicht an einen Roman wagen können.
Bullivant: Als Sie als Lektor zurücktraten, haben Sie als erstes Thema eines größeren Projekts den „deutschen Herbst 1977“ gewählt, das Sie fast fünfzehn Jahre lang im Bann halten sollte und zur Trilogie Ein Held der inneren Sicherheit, Mogadischu Fensterplatz und Himmelfahrt eines Staatsfeindes führte. Was hat Sie ursprünglich an der Erfahrung von Hanns-Martin Schleyer interessiert, und warum fühlten Sie sich gezwungen, diese Geschichte fortzuschreiben?
Delius: Da ist zunächst einmal Schleyer als Prototyp des nicht gerade sympathischen Unternehmers, ein Gegenstand meiner früheren Bücher. Dieser Mann, den ich als Feind betrachtet habe, entführt und ermordet von denen, die ich nicht als Freunde betrachtet habe, die aber ähnlich antikapitalistisch dachten wie ich. Dies war sozusagen mein Konflikt, mein inneres Schreibmotiv. Ich mußte also das Klischeebild „Schleyer“ vermenschlichen in der Figur Büttinger, aus der Sicht seines Vertrauten Roland Diehl (ein Spracharbeiter wie ich, wenn auch vom anderen Flügel) – so kam die Geschichte in Gang und hatte ihre Dynamik.
Vor allem aber wollte ich versuchen, das, was im September/Oktober 1977 in der Bundesrepublik geschehen war, durch das Schreiben zu begreifen: warum dieser Haß, diese Lähmungen, diese Unerbittlichkeit auf allen Seiten? Warum dieses Klima des Verdachts, jeder gegen jeden? Warum sind die Reformimpulse der Gesellschaft nun gebrochen? Und mir war dann klar, daß dies allein nicht zu fassen ist, wenn man im Milieu der Industriellen und ihrer intellektuellen Dienerschaft bleibt.
Bullivant: Warum haben Sie mit dem zweiten Roman nicht gleich angefangen? Nach dem ersten kam der Roman Adenauerplatz. Fällt dieser Ihrer Ansicht nach ganz aus der Reihe, oder ist er auch mit den anderen thematisch verbunden?
Delius: Die Idee zur Trilogie, die gegen Ende der Arbeit an Ein Held der inneren Sicherheit auftauchte, hat mich erschreckt: soll ich mich wirklich viele Jahre weiter mit dem Terror beschäftigen, mit der Flugzeugentführung, mit Stammheim usw.? Ich wollte das nicht. Außerdem war es eine größenwahnsinnige Idee. Ich war dabei, meinen ersten Roman zu beenden, der mir mit allen Fragwürdigkeiten zwar einigermaßen gelungen schien, aber ich fühlte mich doch als Anfänger und wollte mir deshalb nicht gleich die Last eines Trilogie-Projekts aufladen. Ich habe die Idee also schnell weggesteckt, so gut wie vergessen.
Adenauerplatz ist aus dem Wunsch entstanden, mich selbst in meinem Land zu orientieren. Nach vielen Jahren Berlin und einigen Jahren im Ausland lebte ich ab 1980 zum ersten Mal (seit dem Abitur 1963) in der Bundesrepublik. Vielleicht auch die Absicht, eine zugleich politische und romantische Geschichte (Nachtwächtermotiv!) zu schreiben.
Thematisch gibt es zur Trilogie kaum Verbindungen, das ist richtig. Das Buch spielt zwar in den Tagen der „Wende“ von Schmidt zu Kohl, die ohne den „deutschen Herbst“ 1977 nicht denkbar ist. Ich sehe aber eher untergründige Zusammenhänge. Ich habe erst beim Schreiben bemerkt, daß ich Roland Diehl, dem „bösen“ Karrieristen, mit Felipe Gerlach offenbar einen „guten“ Linken folgen lassen mußte. Eine andere Verwandtschaft war mir schon früh klar: Ein Held der inneren Sicherheit ist, unter anderm, eine Vater-Sohn-Geschichte, Adenauerplatz, unter anderm, eine Mutter-Sohn-Geschichte, Suche nach Heimat, Geborgenheit, Auflösung der Widersprüche usw.
Bullivant: Und wie kam es dann doch zu Mogadischu Fensterplatz?
Delius: Eine andere Entführung, auf der „Achille Lauro“ 1984 oder 1985, brachte mich erst auf die sehr naheliegende Idee, daß die Entführung des Lufthansa-Flugzeugs „Landshut“ mehr ist als eine Teilgeschichte des „deutschen Herbstes“. Da erst habe ich begriffen, daß es sich hier um die modernste Form von Gefangenschaft und Erpressung handelt, daß jeder an jedem Ort davon getroffen werden kann, daß es ein allgemein menschliches Problem ist. Daraufhin habe ich mir das Material angesehen, das ich dazu noch hatte, und habe entschieden: nein, es ist zu grausam, das kannst du nicht. Und am nächsten Morgen wußte ich: genau deshalb mußt du jetzt dies Buch schreiben. Und mir war auch klar: wenn ich diese Entführungsgeschichte mache, dann darf ich auch vor „Stammheim“, vor dem Thema: die Deutschen und ihr Terror, nicht mehr kneifen – und das hat dann ja noch einige Zeit gedauert, bis mit Himmelfahrt eines Staatsfeindes das Ergebnis vorlag.
Bullivant: Ende der Achtziger erschienen von Christian Geißler und Reinald Goetz weitere Werke zum Thema des „deutschen Herbstes“. Woran liegt es, daß dieses Interesse anhält? Was für eine besondere Bedeutung hat 1977 für Deutschland?
Delius: Ich denke, daß dies ein wichtiger Wendepunkt für die deutsche Nachkriegsgeschichte war. Der Terrorismus hatte ja einen enormen Einfluß auf die Gesellschaft, aber ganz anders als geplant, nämlich nicht systemsprengend, sondern systemstabilisierend, wie man früher gesagt hat. Er wurde gebraucht. Es wurde auf allen Ebenen, an allen Fronten gelogen und geheuchelt. Deutsche Unerbittlichkeiten prallten aufeinander. Die RAF half mit, den liberalen Kern der Sozialdemokratie zu zerstören usw. In Himmelfahrt eines Staatsfeindes versuche ich ja, Ihre Frage in aller Komplexität mit den Mitteln der Fiktion zu beantworten.
Und zum Glück bin ich nicht der einzige, den diese Phase beschäftigt hat, außer Geißler und Goetz gibt es noch eine ganze Reihe von Autorinnen und Autoren, die im „Baader-Meinhof-Komplex“, so der Titel eines Sachbuches von Aust, zumindest ergiebige Geschichten und Motive gefunden haben.
Bullivant: Sie haben 1990 die Arbeit am letzten Roman der Trilogie unterbrochen, um die Erzählung Die Birnen von Ribbeck zu schreiben, den für meine Begriffe ersten deutschen Text nach der Wende. Dieses hat dazu geführt, daß ein Kritiker Sie kürzlich als „Vereinigungspessimist“ etikettiert hat. Was war für Sie so fesselnd, daß Sie die Romanarbeit abgebrochen haben und worum ging es in dem Ribbeck-Text aus Ihrer Sicht?
Delius: Nun ja, die Etiketten, die man mir so aufgestülpt hat im Laufe der Jahre, da könnte ich eine ganze Latte aufzählen, das sind die Kuriosa am Rande, die allerdings lästig sind, weil die meisten Leute meine Texte lieber mit Etiketten als ohne solche zur Kenntnis nehmen. Ein Vereinigungspessimist jedenfalls war ich nie, vielleicht einer der wenigen Realisten in dieser Frage, weshalb ich von den Vereinigungsoptimisten gern als Pessimist, von den Pessimisten als Optimist beschimpft wurde und werde.
Als die Mauer fiel, arbeitete ich an Himmelfahrt. Im Januar 1990, als auch die Westberliner endlich ohne umständliche Grenzprozeduren in die Umgebung Berlins fahren durften, habe ich mit meiner Familie einen Sonntagsausflug nach Ribbeck gemacht. Ich kannte das Dorf nur flüchtig von den Durchfahrten auf der Transitstrecke Berlin-Hamburg in den sechziger und frühen siebziger Jahren. An der Kirche, neben dem Birnbaum, gerieten wir ins Gespräch mit einem Bauern, der nicht aufhören wollte, von sich, vom Dorf, von seinen Verwandten und den alten Ribbecks zu erzählen. Was er erzählte, hat mich ebenso fasziniert wie er erzählte, nämlich „durcheinander“: man wußte nie genau, ob das, was er erzählte, vor drei Monaten, drei Jahren oder drei Jahrzehnten geschehen war oder ihm von seinem Onkel erzählt war.
Schon auf dem Rückweg dachte ich: da steckt etwas, ein Motiv (Birnbäume), ein Schauplatz (durch Fontane berühmter Ort als Nebenschauplatz deutscher Geschichte), eine Perspektive (Bauer). Ich habe weiter gearbeitet an Himmelfahrt, den Februar und März durch, mehr und mehr mit dem Gefühl, irgendetwas stimmt an dieser Fassung nicht. Doch Ribbeck blieb mir im Kopf. Da lockte etwas Neues. Es war die Zeit, in der sich die Situation in Deutschland und Europa von Tag zu Tag änderte – man lebte staunend im Rausch der Geschichte, die DDR löste sich auf, die Vereinigung wurde vorbereitet, und es wurde überall pausenlos über das alles geredet, immer abstrakter und geschwätziger.
Ich wollte, ich mußte selber in diesem Rausch einen Halt, einen Maßstab, finden, vielleicht auch meine Vorbehalte gegenüber der Vereinigung, Vorurteile abschütteln – und ich ahnte plötzlich, daß in Ribbeck der Fokus für alles lag. Auf dem Dorf, in Ribbeck, dachte ich, ist die Sache anschaulich, also geh ich nach Ribbeck! Ich packte die Himmelfahrt-Manuskripte und -Materialien zur Seite und suchte den Bauern wieder auf. Er war bereit, mir mehr zu erzählen, viele andere Leute in Ribbeck auch – und ich war mir der Sache von Anfang an ziemlich sicher: es ist eine Geschichte, die buchstäblich auf der Straße liegt, aber es ist auch meine Geschichte.
Bullivant: Warum? Sie haben doch nie in der DDR gelebt?
Delius: Richtig, aber ich habe auf dem Dorf gelebt, in Hessen, mit einer ähnlichen feudalen Struktur. Ich bilde mir ein, ich habe Ribbeck „verstanden“, weil ich Wehrda kannte. Und ich habe die Bauern verstanden, weil ich die DDR-Dissidenten immer besser verstanden habe als die DDR-Verteidiger.
Und es ist meine Geschichte, weil ich, statt mit (intellektuellen, linken) Meinungen zu kommen, den Leuten zugehört habe. Weil ich gemerkt habe, daß ich der Chronist, vielleicht das Medium bin für die aus jahrzehntelanger Sprachlosigkeit befreiten Leute. Weil ich mich gefreut habe, immer wieder am frühen Nachmittag eine Stunde lang von der Großstadt aufs Dorf hinaus zu fahren über eine Straße, auf der die Grenze Woche um Woche, Stück um Stück verschwand. Kurz, ich habe das Glück gespürt, diese Geschichte gefunden zu haben – und einen Punkt, den Birnbaum, von dem aus die immer unübersichtlichere Welt erklärbar wurde. Und das hatte, wie man sieht, auch Folgen für meine Ästhetik.
Bullivant: Es wird immer wieder gesagt, Sie vermögen sich in anderer Leute Köpfe zu denken; das träfe für Ihr ganzes Schreiben zu. Es hat aber sehr, sehr lange gedauert, bis Sie sich in den Kopf des früheren Selbst zurückgedacht haben, was für Schriftsteller außergewöhnlich ist. Warum hat es bei Ihnen so lange gedauert, bis Sie von sich selber erzählen konnten? Und warum mußte ausgerechnet der Sieg der deutschen Elf bei der Fußballweltmeisterschaft 1954 in Bern der Auslöser einer solchen teils autobiographischen Erzählung wie Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde sein?
Delius: Ich hatte immer eine Scheu davor, das zu tun, was einige Autorinnen und Autoren meiner und der etwas jüngeren Generation getan haben: in einem Buch alle ihre Wunden aufzuzählen und mit den Eltern, der Gesellschaft, der Welt abzurechnen – und dann mehr oder weniger zu verstummen. Mit einem Buch hatten sie ihr Pulver verschossen. Deshalb habe ich nur hin und wieder Bruchstücke meiner Biographie in einzelnen Romanen mehr oder weniger versteckt. Aber der Hauptgrund ist: ich war vor zehn Jahren oder früher einfach nicht reif genug für ein solches Buch, von meinem Bewußtsein her und von der Sprache her – und das ist ja nichts Besonderes, Wolfgang Koeppen schrieb Jugend mit siebzig.
Bei aller Not, die da beschrieben ist, ist das Buch ja auch eines der Versöhnung mit den Eltern – dazu braucht man ein paar Jahre, ein gewisses Alter. Dazu kommt, daß ich diese Erzählung ohne die deutsche Einheit vielleicht nicht, vielleicht noch später geschrieben hätte.
Bullivant: Können Sie das genauer sagen?
Delius: Ich konnte plötzlich meine mecklenburgische Hälfte neu entdecken, nicht nostalgisch, sondern die Fiktion aus dem Leben meiner Großeltern und Mutter wurde plötzlich Realität, mehrfach gebrochen. Ein Berliner Psychoanalytiker hat zu der Frage einen Aufsatz geschrieben mit dem zentralen Satz „Die Aufhebung der Grenzen zwischen den beiden deutschen Staaten bedeutete auch die Aufhebung einer psychischen Spaltung“. Ich habe das an mir selbst gemerkt: Die reibungslosen Fahrten von Berlin nach Rostock oder Bad Doberan erleichterten die Anerkennung der mütterlichen Erbschaften und Erblasten.
Heute scheint es mir ganz logisch, daß gerade 1990 die Entscheidung fiel, Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde zu schreiben.
Vielleicht kommt noch etwas hinzu. 1989 und 1990, als sich die Achsen der Welt und die gewohnten Himmelsrichtungen verschoben, wuchs überall und gewiß auch bei mir der Wunsch, die Vergangenheit neu zu vermessen und den eignen Ort trotz aller Ungewißheit genauer zu fixieren. Auch deshalb war das Weltmeister-Buch fällig, ein Schlüsselwerk für die bisherigen Bücher. Ob es etwas für die Zukunft bedeutet, nobody knows.
Bullivant: Bei der Lektüre dieser diskret humorvollen, äußerst lesbaren Erzählung –, einem immer wieder auf, wie Ihr Leser – weit mehr als es bei anderen Autoren der Fall ist, die Wiener Gruppe und Heißenbüttel eingeschlossen – für die Nuancen der Sprache sensibilisiert wird. Sei es Lyrik, Dokumentartext, Roman, oder, wie hier, die neue Erzählung, ständig wird man auf die Prägnanz bestimmter Worte und Wortgruppen aufmerksam gemacht. Woher kommt das? Stecken dahinter bestimmte literarische Ambitionen, oder ist das eher unbewußt und auf gute Sprachschulung zurückzuführen?
Delius: Ich weiß nicht, ob ich mich da so sehr von anderen Autoren unterscheide. Aber ich weiß mittlerweile, woher meine Sensibilität kommt. In Der Sonntag habe ich ja deutlich genug beschrieben, wie ich aufgewachsen bin in einer Familie, in einem Haus, in dem alles am Wort gemessen wurde. Das Wort Gottes bestimmte auch die Worte des Alltags, alles war positiv oder negativ auf die vom Vater verkündeten und von der Mutter gesungenen Bibel- und Glaubensworte bezogen. Ich lebte in einem Wortkäfig, der mich in jeder Beziehung unterdrückte, also entwickelte ich früh ein Mißtrauen gegen die vorgegebenen, von oben verordneten Wörter, lauerte auf Doppeldeutiges, Albernes, Hohles. In einem Interview vor ein paar Jahren hab ich mal gesagt, aus mir hätte unter anderm ein zweiter Jandl werden können – ich glaube, nach der Lektüre von Der Sonntag wird man diesen Gedanken nicht mehr für abwegig halten. Die frühen Gedichte, siehe Kerbholz, spielen ja häufig mit Redensarten, Sprichworten, witzigem Hintersinn usw. Eine literarische Ambition ist das vielleicht geworden, nach der entsprechenden Prägung.
Und die gute Sprachschulung, nun ja, die sollte für Schriftsteller eigentlich selbstverständlich sein. Einiges verdanke ich vielleicht der Erziehung. Manche sagen, daß das Lernen von Latein und Griechisch sehr nützlich ist für das Beherrschen der deutschen Sprache. Bei mir war es so: je schlechter ich in der Schule in den alten Sprachen wurde, desto besser wurde ich im Deutschen. Strenge Deutschlehrer haben geholfen, ebenfalls Professoren wie Höllerer, der germanistisch deutelndes Geschwätz nicht ertragen konnte, oder Hans Mayer, der einen stets auf die Wahrheit stieß: nichts zu wissen – im Vergleich zu ihm. Lektoren und kritische Kollegen außerdem, man braucht stets solche Begleiter, oft sind es Frauen, die sagen: so nicht, hier wirst du hohl, geschwätzig, oberflächlich.
Bullivant: Sie haben das Thema Ihres Verhältnisses zum Vater relativ spät aufgegriffen, ja sogar in einem Alter, wo Sie selber nicht nur Vater, sondern auch eindeutig Mitglied der Vätergeneration sind. Wie kommt es zu dieser Verspätung?
Delius:Ich weiß nicht, ob es eine Verspätung ist. Ein Held der inneren Sicherheit ist auch eine Vater-Sohn-Geschichte. Das war mir sogar damals klar, als ich sie schrieb. Aber ein Buch wie Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde hätte ich nicht früher schreiben können. Die „Verspätung“ war notwendig. Fünfzehn oder zwanzig oder zehn Jahre früher wäre es eine Abfertigung geworden – ich hätte wohl auch die intensive, dichte Sprache dafür noch nicht gehabt. Und nicht den differenzierten, bohrenden Blick.
Bullivant: Und hat sich mit dem Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde das Thema Vater-Sohn erschöpft?
Delius: Ich denke schon. Ich hatte zwar mal die Idee, eine Geschichte zu schreiben, die in der Jugendzeit spielt, als ich siebzehn war. Aber die war nicht sehr tragfähig. Ich arbeite jetzt an einem halb autobiographischen Text über die Zeit vor 1968. Da spielt der Vater im Hintergrund – er lebte damals nicht mehr – eine Rolle, aber nicht so elementar wie in Der Sonntag. Nicht umsonst besteht ein Reiz der Literatur gerade in ihren „Verspätungen“.
Bullivant: Anläßlich von Unsere Siemens-Welt hat Gustav Zürcher Sie den „Sprecher der kritischen Söhne“ genannt. Das träfe auch für Ihre bedeutende Arbeit als Lektor bei Rotbuch zu. Und Sie und Peter Schneider gelten immer noch als Vertreter der jungen Autorengeneration, der Generation von 1968, wenn Sie wollen. Und trotzdem ist diese Schriftstellergeneration nicht zur vollen Geltung gekommen, steht immer noch nicht im Zentrum des literarischen Lebens, würde ich meinen. Es gibt Handke und Botho Strauß, aber das sind Sonderfälle. Sehen Sie das auch so und, wenn ja, woran liegt das: an den Autoren oder an der Entwicklung des Literaturbetriebs in den letzten Jahren?
Delius: Ob wir, unsere Generation – es wären einige Namen mehr zu nennen, Libuse Moníková, Herta Müller, Elfriede Jelinek, Wilhelm Genazino, Jürgen Theobaldy, Peter Kurzeck, Wolfgang Hilbig, Uwe Timm, Sten Nadolny, Gerhard Köpf und mehr – ins Zentrum gehört, darüber könnte man einmal ausführlicher diskutieren. Vielleicht sind wir ja wirklich „schlechter“ als die vorige Generation der Grass, Johnson, Enzensberger, Weiss, Rühmkorf, Kunert usw. Trotzdem, bei allem Respekt vor den Leistungen dieser Älteren, es ist schon auffällig, daß unsere, die mittlere Generation häufig und hartnäckig unterbewertet und unterschätzt wird. Vielleicht hat nicht jede(r) aus unserer Generation sein oder ihr ganz großes Buch schon geschrieben, kann sein, aber die Unterschätzung, denke ich, hat vor allem mit uns selber zu tun, zweitens mit der Leserschaft und drittens mit den Kritikern.
Keiner von uns ist irgendwann aufgestanden und hat gesagt: Hier ist das Neue, auf mich, auf meine Bücher müßt Ihr jetzt hören, alles andere ist mehr oder weniger Dreck! Peter Handke hat das getan, Botho Strauß auf seine Weise auch. Ich erinnere mich noch gut, wie Grass zu Peter Schneider sagte in den siebziger Jahren: „Ich würde es an deiner Stelle ja nicht zulassen, daß Handke sich als der Vertreter eurer Generation verkauft.“ Vielleicht war es die von 1968 gebliebene Unsicherheit, vielleicht wollte aber auch niemand sich in den Vordergrund drängen und etwas repräsentieren, schon gar nicht eine ganze Generation. Es war Bescheidenheit, vielleicht eine falsche, oder anders gesagt: kein Eigen-Marketing.
Zweitens würde ich die veränderten Lesegewohnheiten nennen. Es gibt keinen Kanon mehr, den es in den sechziger und siebziger Jahren durchaus noch gegeben hat. Heute lesen die Feministinnen feministische, die Schwulen schwule Literatur usw., man liest viel weniger das, was man gelesen haben „muß“ (weniger als in den sechziger Jahren gibt es einen Kanon zeitgenössischer Literatur), sondern das, was den eigenen Erfahrungen und Erwartungen und Meinungen nahe kommt oder sie gar bestätigt. Eine Literatur, die Mitdenken, Mitspielen erfordert und überdies sich nicht aus dem gesellschaftlichen Kontext verabschiedet, hat es da schwerer.
Drittens kommt hinzu, daß uns keine gleichaltrige Kritikerschaft kritisch und lobend begleitet hat, wie das bei den älteren Autoren der Fall war. „Wir“ haben die wichtigeren Bücher nach 1968 veröffentlicht. Viele unserer Altersgenossen, Kritiker und die jüngeren, die sich gegen unsere Generation wieder absetzen müssen, sind, auch oder gerade wenn sie in der FAZ schreiben, 68er im schlechten Sinne: in ihrem ständigen Mißtrauen gegen mögliche gesellschaftliche Implikationen von Literatur denken sie selbst ideologisch. Als Vertreter des Zeitgeists der 80er Jahre können sie kaum etwas anerkennen, sie können nicht loben, sie schematisieren. Das kriegen besonders die Autoren zu spüren, die man als 68er klassifiziert hat oder sie dort vermutet. Kein Wunder, daß gerade Peter Schneider und ich besonders häufig das Ziel von Verrissen werden. Bei mir zum Beispiel wollen manche Kritiker einfach nicht wissen, wie ich mich entwickelt habe, oder versimpeln alles, was bei mir komplex ist, mit den Schemata der sechziger Jahre. Und viele Verrisse in der sogenannten seriösen Presse schaden dann allmählich doch dem Image, man kriegt keine der vielen hundert Preise, weniger Einladungen, weniger Übersetzungen usw., man gilt immer noch als politisch gefährlich und unberechenbar. Unberechenbar bin ich übrigens sehr gern, ich bediene mich selbst und das Publikum nicht gern mit dem, was man von mir erwartet – auch deshalb die Sprünge in verschiedene literarische Formen, verschiedene Figuren, verschiedene Stile.
Die Sitten im literarischen Betrieb sind unglaublich verroht. Wer in einer Saison oben ist, kriegt in der nächsten eins auf den Deckel. Ich war der Liebling vieler Kritiker meiner Generation, als ich den Siemens-Prozeß führen mußte und Ein Bankier auf der Flucht veröffentlichte, monatelang war das Buch auf der Kritiker-Bestenliste des Südwestfunks. Heute kümmert sich so gut wie keiner dieser Leute um meine Bücher, die nach aller Kenner Meinung literarisch weit interessanter sind als jene Gedichte. Auch Ein Held der inneren Sicherheit wurde noch stark gelobt, 1981, meist von Kritikern meiner oder der älteren Generation – die seitdem, falls sie überhaupt noch Rezensionen schreiben, andere Interessen entwickelt haben. Aber ich will das nicht personalisieren. Und nicht so tun, als hätte ich da einen speziellen Verfolgungswahn, nein, den habe ich nicht.
Trotzdem müßte mal jemand das allmähliche Verschwinden der Kritik aus der Literaturkritik in den letzten 20 Jahren untersuchen. Die Mode oder die Konjunktur des hämischen Runtermachens, das von ihren Urhebern fälschlich mit Polemik verwechselt wird – Polemik setzt Sachverstand, zumindest Sachkenntnis voraus –, richtet mittlerweile in der Hochkritik bei FAZ und Zeit und weiter einigen Flurschaden an, der besonders uns, die mittlere Generation trifft, weil wir die Vorgängergeneration der zumeist etwas jüngeren Häme-Bubis sind und als angebliche 68er als irrelevant weggeräumt gehören. Nun gut, wir werden das überstehen, aber diese Simplifikateure schaden einer Kultur, die nichts so sehr braucht wie Differenzierungen. Vielleicht gibt’s ja noch mal die kleine Genugtuung, falls unsereiner mal 70 werden sollte und dann doch ein anständiger Literaturpreis anfällt, dann müssen die eine Laudatio schreiben, und dann werden sie sagen: „Bewundernswert, was Sie alles schon damals…“
Bullivant: Bei der Rezeption Ihres Werkes scheint es immer eine Rolle zu spielen, daß es so heterogen ist, da sind die unterschiedlichsten Ansätze. Ist es möglicherweise verständlich, daß sich da eine Rezeptionsbarriere aufgebaut hat?
Delius: Ja, und das verstehe ich auch. Wenn der Mann nicht bei seinem Leisten bleibt, macht er es andern schwer, eingeordnet und richtig wahrgenommen zu werden. Da schreibt einer Gedichte, Satiren, Romane, Erzählungen, und die frühen Gedichte sind ganz anders als die späteren, die Romane sehr verschieden, die Erzählungen mit extrem verschiedenen Sujets und Stilen. Auf ein stromlinienförmiges „Werk“ habe ich nie geachtet. Eines wollte ich auf keinen Fall: mich wiederholen. Das war von Anfang an so, schon nach dem ersten Gedichtband war mir klar: Ich kann jetzt nicht so weitermachen wie in den Kerbholz-Gedichten. Nach dem nächsten Gedichtband war es genauso, die Pause wurde länger. Es gibt Autoren, die sich wunderbar wiederholen können, bei den meisten finde ich es eher langweilig. Meine Heterogenität, falls man nun so eine Schublade für meine Schubladensperrigkeit erfindet, wird nicht nur von meiner Entwicklung bestimmt, sondern noch mehr vom Gegenstand.
Ich liebe nach wie vor diese Abwechslung, die Bewegungen von einem Feld zum andern. Gerade nach dem stark autobiographischen Weltmeister kam mir eine Geschichte wie der Spaziergang sehr gelegen – mit einer ganz anderen Figur, einem ganz anderen Sujet und Milieu, einem ganz anderen Stil. Obwohl man vielleicht auch hier einen in der Figur verborgenen Delius entdecken könnte, vielleicht haben Ihre Kollegen ja die eine oder andere Idee dazu. Und nach dem „leichten“ Spaziergang wieder das eher „schwere“ Autobiographische.
Bullivant: Wie meinen Sie das mit dem Gegenstand, der Einfluß auf das hat, was bei Ihnen so heterogen erscheint?
Delius: Ja, auch der Gegenstand bestimmt die Schreibweise. Beispielsweise ist Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus in einem Stil geschrieben, den ich vorher nicht versucht habe, ein chronikhafter, eher nüchterner Berichtsstil, leicht erzählend, behutsam ironisch. Eine Schreibweise wie die eines psychologischen Romans oder der Birnen von Ribbeck oder des Sonntag hätte die Geschichte des Paul Gompitz zerstört. Also mußte ich diesen „einfachen“ Stil wählen, in dem viel mehr Arbeit steckt, als man dem Buch ansieht. Ich habe wirklich sehr geschwitzt, nicht wegen der Hitze in Gainesville, wo ich einige Wochen daran gearbeitet.habe, sondern wegen der sogenannten einfachen Sätze.
Noch etwas zur Heterogenität. Ich bilde mir ein, daß man mehr und mehr sieht, wie alle diese unterschiedlichen Bücher zusammenhängen. Für mich liegt kein großer Widerspruch zwischen Unsere Siemens-Welt und Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde. Die Auseinandersetzung mit der Sprache der Macht, da die Wirtschaftsmacht, dort die Sprache der Vater-Macht, der Religion usw., das hängt doch deutlich zusammen. Auch ich merke erst nach und nach, wie sich alles fügt. Ich wundere mich selbst darüber. Und schließlich bin ich immer noch auf dem Weg. Beim Ribbeck-Buch hatte ich zum ersten Mal das Gefühl: jetzt bist Du ungefähr da, wo Du hinwolltest, wo alle Deine Möglichkeiten, das Lyrische, das Dokumentarische, das Erzählerische, das Gesellschaftskritische verschmelzen zu einem sprachlichen Ausdruck. Nach 25 Jahren Arbeit also zum ersten Mal der Gedanke: Das könnte dein Schreiben sein. Seitdem weiß ich, daß die kürzeren Formen, diese langen Erzählungen zwischen 80 und 150 Seiten, mir mehr liegen als alles andere.
Bullivant: Die Praxis des hämischen Runtermachens, von der Sie soeben sprachen: ist sie eine Mode, die schnell vorübergeht, oder stellt sie eine Gefährdung der Vielfalt der Kulturlandschaft Deutschlands dar?
Delius: Es gibt in Deutschland eine doktrinäre Art, Urteile über Kunst zu fällen, die es in anderen Ländern so nicht gibt. Selbst in Frankreich sagen Redakteure großer Zeitungen: Unsere Politik ist es, die Bücher, die wir für gut halten, ausführlich vorzustellen und zu rezensieren – was wir für schlecht halten, darüber werden keine langen Artikel verfaßt, oder sie werden ignoriert, wir nutzen den Platz lieber für die guten und wichtigen Bücher. In der Book Review der New York Times gibt es verhältnismäßig wenig Verrisse, im Times Literary Supplement ist es ähnlich, in Italien, Schweden usw. auch. Ich glaube, es erscheinen pro Kubikmeter Rezensionsfläche in Deutschland am meisten Verrisse. Vielleicht gehört das zum deutschen Selbsthaß, zur ewigen deutschen Unzufriedenheit, zur Unfähigkeit zu loben. Auch ich hab’ als junger Kritiker, als Student, lieber Verrisse geschrieben, man fühlt sich besser, erhabener dabei, es ist einfacher. Freilich gibt es viel Schlechtes, das man von mir aus auch verreißen soll. Aber der spätpubertäre Gestus vieler, oft junger Kritiker hierzulande ist schon ein Problem. Solch eine Grundhaltung im professionellen Kulturverdauungswesen hat dann doch eher destruktive als produktive Wirkungen.
Bullivant: Glauben Sie, das hat alles dazu geführt, daß – schaut man sich die Bestseller-Listen und die Buchhandlungen an – hier eher ausländische Literatur gekauft wird? Da scheinen die deutschen Bücher, die den Durchbruch zum Verkaufserfolg erzielen, eher die Ausnahmen zu sein.
Delius: Das wäre mir zu pauschal gesagt. Man muß sehen, daß verhältnismäßig viel Literatur aus aller Welt ins Deutsche übersetzt wird, und dieser Reichtum ist wunderbar. Ausländische Literatur wird nicht verrissen, deutschsprachige recht gern, und dann verschieben sich die Relationen. Wenn ich ein Beispiel von mir bringen darf: In den großen deutschen Zeitungen wurde Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde ziemlich heruntergeputzt – in Dänemark dagegen, wo eine Übersetzung erschien, gab es überall begeisterte, ausführliche Besprechungen. So habe ich in Dänemark einen besseren Ruf als hier, während man hier die dänische Literatur feiert.
Bullivant: Aber man muß fairerweise sagen, daß es zu differenzierten Rezeptionen von Literatur hierzulande kommt, während, wie Sie schon sagten, in angelsächsischen Ländern mehr oder weniger alles positiv besprochen wird. Und diese Art von Gleichmacherei breitet sich durch die Internationalisierung der Medien immer weiter aus. Sie heben in Ihren Paderborner Vorträgen das Potential des persönlichen Sprechens in der Literatur hervor; sehen Sie darin eine Zukunft für die Literatur, daß sie eines der wenigen Foren sein könnte, die sich gegen die Einheitlichkeit der Medien werden auflehnen können?
Delius: Das ist ein kompliziertes Thema, und ich möchte eigentlich hier nicht weiter versimpeln, was ich in Paderborn schon fahrlässig schlicht gesagt habe. Ich opponiere ein wenig gegen den modischen Literatur-Pessimismus, und ich habe in diesen Vorträgen ein paar Argumente dafür zusammengetragen, weshalb Literatur, gerade wenn sie sich den glatten, verlogenen Mediensprachen nicht anpaßt, wieder und wieder gebraucht wird, in Zukunft mehr als heute. Der Drang zu den Künsten heute ist ja ungeheuer, und es gibt, wenn auch nur bei Minderheiten, ein großes Suchen nach offenen, differenzierenden Sprachen, nach Geschichten, die nicht nach dem Ja-Nein-Schema gestrickt sind.
Bullivant: An einem Punkt in den Paderborner Vorträgen haben Sie von der Stärke der privaten Sprache geredet, dann war auf einmal von einer offenen Wahrheit der Literatur die Rede. In welchem Verhältnis stehen die beiden zueinander?
Delius: Ohne die sehr persönliche Sprache gibt es keine offene, keine öffentliche Wahrheit. Ich lese zur Zeit einige Bücher wieder, die ich zu meiner Studentenzeit, Mitte der sechziger Jahre, gelesen habe. Johnsons Mutmaßungen, Koeppens Tod in Rom, Weiss’ Abschied von den Eltern, Grass, Höllerer, Becker – jedes dieser Bücher beweist, daß das eine, die private Sprache, nicht ohne das andere, die öffentliche Wahrheit, zu haben ist.
Bullivant: Sie sagten, Sie wollen vor allem das Positive an der Literatur betonen, in den Vorträgen sagen Sie sogar, daß trotz gewisser Probleme die Nachwende-Zeit, die Zeit nach der deutschen Einigung, eine günstige Zeit für Schriftsteller sein wird. Wie meinen Sie das genau?
Delius: Ich habe das bezogen auf die Entwicklung nach dem zusammenbrechen der DDR und der Ost-West-Gegensätze, einfach deshalb, weil etwas Unglaubliches geschehen ist. Lebensläufe, Gewohnheiten, Erfahrungen sind wie selten in der Geschichte zuvor durcheinandergeschüttelt worden, im Grunde hat sich alles geändert, ist alles in Bewegung geraten. Allein wenn man an das Material denkt, das da buchstäblich auf der Straße liegt, was für ein Reichtum, aus dem man sich frei bedienen kann!
Bullivant: Aber jene Geschichten, die auf der Straße liegen, scheinen eher dazu zu neigen, das Vergangene aufzurollen – ich denke natürlich an die kontinuierliche Folge von Stasi-Geschichten, die von der Gegenwart nur ablenken.
Delius: Da denke ich eher an die Alltagsgeschichten, Beispiel Die Birnen von Ribbeck. Aber ich glaube nicht, daß die Stasi-Geschichten von der Gegenwart ablenken. Und ich meine auch nicht, daß alle Schriftstellerinnen und Schriftsteller sich jetzt beschäftigen sollten mit dem, was deutsche Gegenwart ist. Ich wende mich nur polemisch gegen die Leute, die sagen: Oh, jetzt ist alles schlimm, jetzt bricht alles zusammen, jetzt geht alles darnieder, was sollen wir bloß tun? Die Augen aufmachen und die Ohren, damit fängt es an.
Bullivant: Sie sprechen in den Paderborner Vorträgen von einem gewissen Einheitsgewinn für sich selbst als Schriftsteller. Denkt man an Die Birnen von Ribbeck oder den Spaziergang von Rostock nach Syrakus, da scheint es so zu sein, daß der Fall der Mauer Sie zu neuen Themen gebracht hat, aber beide Bücher handeln von Übergangssituationen. Ohne den Roman der deutschen Einheit zu verlangen, die Frage: warum gibt es z.B. keine Erzählungen über das Alltagsleben in den neuen Bundesländern?
Delius: Es gibt sie schon. Denken Sie an Thomas Rosenlöcher, Brigitte Burmeister, Reinhard Jirgl, Marion Titze und andere. Ingo Schulze hat zum Beispiel ein hervorragendes Porträt des neuen St. Petersburg geliefert. Aber allgemein gesagt: All das braucht ein bißchen Zeit. Ich hab da keine Bange.
Bullivant: In letzter Zeit sind zwei Artikel im Spiegel erschienen, in denen es um von Ihnen behandelte Themen ging – zum einen um Ribbeck, zum anderen um den Mann, der für Gompitz Pate stand –, ohne daß Sie überhaupt erwähnt werden. Ist das Zufall?
Delius: Ich neige da nicht zu einer Verschwörungstheorie. Bei der Geschichte mit dem Spaziergang ist es so gelaufen: Da hat ein freier Mitarbeiter des Spiegels, der vorher bei einer anderen Zeitung war, nach meiner ersten Radiofeature-Fassung nachrecherchiert und mit dem Helden gesprochen, was ich sogar unterstützt habe. Dann ging die Zeitung, bei der er war, pleite, und er hat seine Geschichte, nachdem er die Fahnen meines Buches gelesen hatte und den Erscheinungstermin kannte, dem Spiegel angeboten, und zwar der ahnungslosen Deutschland-Redaktion, die das dann unter „Tourismus“ laufen ließ. Er hat nichts von mir abgeschrieben außer dem Titel, nichts wörtlich übernommen, aber vieles wirkte „übersetzt“. Dem Spiegel war das so peinlich, daß man als Ausgleich drei Wochen später zum Erscheinen des Buches eine große Anzeige umsonst ins Blatt gesetzt hat. Und daß man über das Dorf Ribbeck schreibt, ohne Die Birnen von Ribbeck zu erwähnen, das passiert öfter, nun gut, ich hab ja kein Copyright auf das Dorf .
Bullivant: Wir waren bei dem Thema Einheitsgewinn, und da haben Sie als besonderen Gewinn erwähnt, daß die Öffnung der DDR Ihnen sehr persönlich geholfen hätte, insofern als Sie sich mit Ihrer Familiengeschichte mütterlicherseits endlich haben auseinandersetzen können.
Delius: Wir haben ja vorhin schon darüber gesprochen. Als die Grenzen fielen, war auch Mecklenburg „befreit“: von DDR-Schablonen ebenso wie von der konservativen Nostalgie in meiner Familie. Plötzlich war es möglich, ohne Vorbelastung, ohne „psychische Spaltung“ sich diesem Landstrich, dieser Vergangenheit, diesem Teil der Familie zu nähern – und das, scheint mir, hat die Arbeit am Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde befruchtet. Der Ausbruch der Emotionen im November ’89 in ganz Deutschland war der Gipfelpunkt einer psychischen Entlastung – aber diese Öffnung hatte eben auch Breiten- und Tiefenwirkung.
Bullivant: Interessant, denke ich an den Hohn, der Martin Walser galt, als er vor der Wende von seinem anhaltenden ,Stuttgart/Leipzig-Gefühl‘ sprach.
Delius: Vielleicht hätte ich ihn damals auch noch verhöhnt, das muß ich selbstkritisch sagen. Nein, verhöhnt vielleicht nicht – aber ich hätte es nicht verstanden, nicht verstehen wollen. Was damit zusammenhängt, daß wir viel Kraft aufgewandt haben, die emotionalen Aspekte dieser Teilung zu verdrängen – trotz aller Bemühung um Erleichterungen für die DDR-Bewohner, bis in die Verlagsarbeit hinein. Aber wir hatten uns damit abgefunden: die Mauer wird stehen, solange wir leben. Und waren sehr mißtrauisch gegen Springer und rechte Politiker, die diesen emotionalen Kern der Teilung ausgenutzt haben und im Grunde auf Wiedereroberung der „Zone“ aus waren. Dieser Punkt, die deutsch-deutsche Psycho-Nationalgeschichte, ist noch kaum beachtet worden. Aber wenn jeder sich fragt: was habe ich getan und gefühlt während der Teilung, dann wird sie oder er auch einigen Einheitsgewinn verbuchen können. Mein „Stuttgart-Leipzig-Gefühl“ hält weiter an, ich freu’ mich immer noch, daß die Diktatur der DDR vorbei ist (und ein paar andere Diktaturen auch) und freu’ mich genauso, wenn ich einen Interregio-Zug von Düsseldorf nach Chemnitz sehe oder einen IC von Binz auf Rügen nach Köln. Und jede Lese-Einladung nach Greifswald oder Jena freut mich dreimal mehr als eine aus Regensburg oder Hannover.
[Dieses Interview fand im Mai 1996 in Berlin statt.]
– Lyriker, Erzähler, Zeitkritiker. Umrisse des literarischen Werks von F.C. Delius. –
In der mittleren Generation der heute etwa fünfzigjährigen Autoren, denen die Studentenbewegung zum Initial ihrer politischen Orientierung, aber auch ihres literarischen Entwicklungsweges wurde, ist der 1943 in Rom geborene F.C. Delius eine der markantesten Erscheinungen. Das gilt unter mehreren Aspekten. Wenige Autoren haben sich so entschlossen in eine aus ihrem wirtschaftlichen Sicherheitsdenken aufgeschreckte und sich verändernde politische Öffentlichkeit eingebracht wie F.C. Delius. Schlaglichter dafür sind die publizistische und juristische Wirkung, die er mit literarischen Arbeiten erzielte, deren Resonanz sonst selten über das Feuilleton hinausgeht und die politischen Spalten oder die Wirtschaftsteile der großen Zeitungen erreicht. Die in den 70er Jahren von der Siemens AG und dem Kaufhaus-Betreiber Horten gegen ihn angestrengten Prozesse, von Texten Delius’ ausgelöst, die von den jeweiligen Firmenoberen als literarische Verunglimpfung empfunden wurden, stellen den sattsam bekannten Satz von der politischen Wirkungslosigkeit der Literatur auf paradoxe Weise geradezu auf den Kopf. Delius hat diese Prozesse erfolgreich überstanden. Das sich einstellende Bild vom siegreichen David, der den Goliath besiegte, kann freilich den Risikofaktor der damaligen Situation für Delius nicht verdecken, durch den geballten Rechtsbeistand seiner Widersacher bis an den Rand des wirtschaftlichen Abgrunds gedrängt worden zu sein. Publizistische Aufklärung und politisches Engagement der Literatur waren für Delius keine deklamatorischen Größen, sondern Sachverhalte einer komplizierten gesellschaftlichen Erfahrung. Umso bewundernswerter, daß Delius sich nicht einschüchtern ließ, sich nicht auf ein unproblematisches ästhetisches Gelände zurückzog, sondern seinen literarischen Weg unbeirrt fortsetzte.
Die Stationen dieses Weges, den Delius im Alter von 23 Jahren mit seiner ersten Gedichtveröffentlichung begann, lassen sich nach mehr als einem Vierteljahrhundert unermüdlicher literarischer Tätigkeit inzwischen überschauen. Ein imponierendes Panorama tut sich auf. Wenige Autoren haben das künstlerische Spektrum literarischer Gattungen so entschieden und souverän ausprobiert und innovativ erweitert wie Delius. Er ist, wie sein umfangreiches, immer neue Themen und Formen aufgreifendes lyrisches Werk bezeugt, nicht nur einer der repräsentativen Poeten seiner Generation und als solcher weithin anerkannt; er ist sogleich jedoch auch ein wichtiger politischer Romancier: Die gesellschaftlichen Verwerfungen und innenpolitischen Erschütterungen jenes Deutschland im Herbst, von RAF-Terrorismus, Sympathisanten-Verfolgung und Radikalenerlaß gezeichnet, sind im erzählerischen Werk wohl keines andern Autors seiner Generation so umfassend aufgearbeitet worden. Das ist bei Delius nicht nur eine Sache des politischen Engagements, sondern auch der ästhetischen Strategien. Denn die im Zuge der Studentenbewegung zum puren agitatorischen Verstärkungsmoment veräußerlichte Form des politischen Romans wird bei Delius einfallsreich erneuert und in ihrer ästhetischen Komplexität sichtbar gemacht und ernstgenommen.
Delius hat die Form der Dokumentar-Satire in seiner Festschrift Unsere Siemens-Welt geradezu begründet und damit auch hier politisches Engagement aus dem Umfeld theoretischer Programmatik befreit und zum literarischen Analyse-Instrument gesellschaftlicher Mißstände werden lassen. Er hat – in den letzten Jahren – seine eigene mentale und biographische Sozialisation in einer weithin gerühmten autobiographischen Erzählung Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde aufgearbeitet und die komplizierten Hoffnungsschübe und Verwundungen der sogenannten „deutschen Wende“ in zwei eindrucksvollen Prosaarbeiten, Die Birnen von Ribbeck und Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus, überzeugend auf den „poetischen Begriff“ gebracht.
Die Vielfalt der Formen und Schreibweisen lassen dieses literarische Werk bemerkenswert und wichtig erscheinen: Delius gehört zu den repräsentativen Autoren seiner Generation. Daß er dennoch in der heutigen literarischen Öffentlichkeit nicht in dem Maße wahrgenommen wird, wie es solchem Rang entspricht, hat wohl weniger mit der Qualität seines Werkes zu tun als mit dem Zustand dieser gegenwärtigen literarischen Öffentlichkeit.
Die Vorgängergeneration der Autoren, die das literarische Leben der Bundesrepublik bis. weit in die 60er Jahre hinein bestimmt haben – es ist in gewisser Weise die Vätergeneration, die, soweit diese Autoren heute noch leben, auf die 70 zugeht –, besaß in der Gruppe 47 die kollektive Identität einer progressiven linken Gruppierung, als deren Leitfiguren große Schriftstellerpersönlichkeiten wie Böll, Grass, Walser oder Enzensberger fungierten. Die große Öffentlichkeitswirkung der Gruppe 47, die im Ausland als bewegliche literarische Hauptstadt des damaligen Deutschland wahrgenommen wurde, und der literarische Ruhm der genannten, zu Repräsentanten der Gruppe 47 und der neuen deutschen Literatur aufgestiegenen Autoren haben sich wechselseitig verstärkt. Als Böll Anfang der 70er Jahre den Nobelpreis für Literatur erhielt, zeigte sich Hans Werner Richter, der Mentor und spirituelle Kopf der Gruppe 47, nicht zu Unrecht befremdet darüber, daß Böll in seiner Dankensrede mit keinem Wort auf die Gruppe 47 einging.
Im Zuge der Studentenbewegung war Ende der 60er Jahre auch die Legitimation der Gruppe 47 verfallen, weil die umfassende Politisierung der Literatur nicht nur die kulturelle Repräsentanzfunktion der Gruppe 47 umfassend in Zweifel zog, sondern die bürgerliche Literatur, d.h. eine auf ästhetischen Prioritäten beharrende Literatur, die sich zugleich ihrer realen Wirkungslosigkeit bewußt blieb, generell zu Grabe getragen werden sollte. Das Stichwort vom „Tod der Literatur“ machte damals die Runde. Auf eine paradoxe Weise war die neue Generation von Autoren, zu der Delius gehört, mit an der Demontage der bürgerlichen Literatur und ihrer Institutionalisierung in der Gruppe 47 beteiligt. Das Vakuum, das damals entstand, ist bis heute vorhanden. Die Aufhebung von literarischer Konsensfähigkeit hat auch die kollektive Gruppenidentität aufgelöst, die sich vorher als Startrampe so mancher literarischer Karriere bewährt hatte.
Die mittlere Generation der Autoren – also die etwa in den 40er Jahren Geborenen – fand keine Form von neuer Institutionalisierung, entwickelte keine spezifische Generationsidentität, es sei denn im polemischen Zerrbild: aus der Perspektive der nachgewachsenen jungen Autoren, der heute Dreißigjährigen, wird Delius und seinesgleichen das Erbe der Studentenbewegung als deklamatorisches Versatzstück um die Ohren geschlagen, um sie generell als historische Fossile von der aktuellen literarischen Bühne, die sie inzwischen weitgehend mit ihrem literarischen Werk bestimmen, abzuräumen. Diese Autoren der mittleren Generation sind weitgehend Einzelkämpfer. Das trifft auch auf Delius zu. Entsprechend schwierig sind die Voraussetzungen, sich auf dem literarischen Markt durchzusetzen und in der Öffentlichkeit anerkannt zu werden. Auch das betrifft Delius, dessen literarisches Werk allerdings so gewichtig ist, daß der Literaturbeobachter sich nur darüber wundem kann, daß es bisher nicht stärker ins Zentrum der literarischen Diskussionen gerückt ist.
Im Kontext solcher Überlegungen ist der vorliegende Band entstanden. Die im folgenden vorgelegten Studien, sämtlich für diesen Band geschrieben, spiegeln das Spektrum und die Aktualität dieses Werks und wollen als eine erste literaturwissenschaftliche Summe seiner Arbeiten verstanden werden. Da die angedeuteten bundesdeutschen Mechanismen der Verteilung von literarischem Ansehen und von Repräsentanz im Ausland weniger greifen und interessieren, haben wir für diesen ersten größeren Überblick über das Werk von Delius auch Kollegen außerhalb Deutschlands um Mitarbeit gebeten. Dabei sind wir auf ein überraschend starkes Echo gestoßen; so enthält dieser Band überwiegend Beiträge von „außen“, aus Italien und Großbritannien, Südafrika und den USA, Australien und Neuseeland.
Wir wollten die wichtigsten Werke und Werkkomplexe vorstellen. Das geschieht nicht gleichmäßig, denn im Laufe des Arbeitsprozesses haben sich bei den Mitarbeitern Schwerpunkte ergeben: bei der Lyrik, bei den Romanen zum „deutschen Herbst“ sowie und vor allem bei den Nach-Wende-Erzählungen. Das hat sicher nicht nur mit deren Aktualität zu tun, sondern auch mit ihren poetischen Qualitäten. Diese neuesten Arbeiten zeigen, daß Delius zwar von seiner „Vorliebe für das gegenwärtig Historische“ nicht abläßt, aber immer deutlicher zu erkennen gibt, daß Literatur für ihn ein Kunstwerk aus Sprache ist. Nur die Autoren sind daher seiner Meinung nach dem Thema der „Einheit“ gewachsen (und das läßt sich gewiß auf jedes zeitgeschichtliche Thema ausweiten), „die über eine dezidiert eigene Sprache verfügen“.
Diese beiden Zitate sind den Paderborner Poetikvorlesungen von Delius, Die Verlockungen der Wörter, entnommen, in denen er zum erstenmal in größerem Zusammenhang über seine Vorstellungen von Literatur, ihren Funktionen und Möglichkeiten gesprochen hat. Die zweite dieser Vorlesungen trägt den Titel „Warum ich kein ,politischer Autor‘ bin oder Die Bereicherung der Literatur durch politisches Bewußtsein“. Diese Überschrift drückt die Paradoxie eines Schreibens aus, das in Politik und Poesie keinen Widerspruch sehen will. Diese Überzeugung von Delius bildet eine Leitlinie des vorliegenden Bandes, deswegen haben wir sie in dessen Titel gesetzt.
Für den optimistischen Schlußausblick seiner Vorlesungsreihe lieh sich Delius einen Satz des russisch-amerikanischen Nobelpreisträgers Brodsky:
Wenn das, was uns von anderen Mitgliedern des Tierreichs unterscheidet, die Sprache ist, dann ist Literatur, besonders die Poesie als höchste Form der Sprache, vereinfacht gesagt die Bestimmung unserer Gattung.
Die Herausgeber teilen diese Überzeugung. Denn sie verstehen sich als Philologen – und das heißt zunächst und vor allem: Freunde der Wörter. Sie hoffen, daß viele Leser Delius’ „Verlockungen der Wörter“ erliegen – und sich zur Lektüre seiner so überschriebenen Vorlesungen und vor allem seiner ihnen vorangegangenen literarischen Werke verlocken lassen.
Die Herausgeber haben Delius im Wintersemester 1994/95, als er seine Poetikvorlesungen an der Universität Paderborn hielt, näher kennengelernt und in einem die Vorträge begleitenden Werkstatt-Seminar viele Aspekte seines Schreibens detailliert mit ihm diskutieren können. Dafür danken sie dem Autor. Bei der Arbeit, Manuskripte aus sieben Ländern zu vereinheitlichen und zu redigieren, haben Anne-Christin Nau und Torsten Pätzold tatkräftig und unermüdlich mitgeholfen. Dafür danken wir ihnen gerne.
Manfred Durzak / Hartmut Steinecke, Vorwort
– Einleitung: Lyriker, Erzähler, Zeitkritiker. Umrisse des literarischen Werks von F.C. Delius
– Zur Zitierweise
– Manfred Jurgensen : „… einfach / zitieren und sagen ich sehe“: Die Gedichte des F.C. Delius
– Giovanni Scimonello: Italien-Mythos und Elegie vor der Jahrtausendwende. Zwei Stationen in der Dichtung von Friedrich Christian Delius
– Bernard Dieterle: Ein Dokument der Dokumentarliteratur. Paratextuelle Überlegungen zu Delius’ Festschrift Unsere Siemens-Welt
– Gerhard Fischer: Im Dickicht der Dörfer, oder ,den plot in Butzbach suchen‘: Provinz als Thema und Schreibanlaß bei Delius
– Franz Futterknecht: Die Inszenierung des Politischen Delius’ Romane zum Deutschen Herbst
– Peter Horn: „Ich wüßte gerne, was sie da mit uns machen.“ F.C. Delius: Himmelfahrt eines Staatsfeindes
– Helmut Peitsch: Der Erzähler und sein ideologisches Klima: Zum Ort der Dissertation Der Held und sein Wetter in der Entwicklung des Dokumentarsatirikers Delius zum Erzähler
– Axel Vieregg: Zur Erzählweise von Delius in Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde
– Simonetta Sanna: Sprachpuzzle und Selbstfindung. Delius’ Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde
– Manfred Durzak: Die Früchte der Wende? Zu Delius’ Erzähl-Poem Die Birnen von Ribbeck
– Hans-Christoph Graf v. Nayhauss: Zu Delius’ Die Birnen von Ribbeck aus literaturdidaktischer Sicht
– Hartmut Steinecke: Spaziergang mit Seume. Delius’ Erzählung Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus
– Momme Brodersen: Von Seume zu Ernst Bloch. Einige Assoziationen zu Paul Gompitz’ Italienreise
– Keith Bullivant: „Das könnte dein Schreiben sein.“ Gespräch mit Friedrich Christian Delius
– Anne-Christin Nau: Literaturverzeichnis
der heute fünfzigjährigen Autoren, für die die Studentenbewegung zum Initial ihrer politischen Orientierung, aber auch ihres literarischen Entwicklungsweges wurde, ist der 1943 in Rom geborene F.C. Delius eine der markantesten Erscheinungen. Das gilt unter mehreren Aspekten: Wenige Autoren haben sich so entschlossen in eine sich verändernde politische Öffentlichkeit eingebracht wie Delius. Wenige Autoren haben das künstlerische Spektrum literarischer Gattungen und Ausdrucksmöglichkeiten so entschieden und souverän ausprobiert und innovativ erweitert. Er ist, wie sein umfangreiches lyrisches Werk bezeugt, nicht nur einer der repräsentativen Poeten seiner Zeit und als solcher weithin anerkannt, sondern zugleich ein wichtiger politischer Romancier. Er hat die Form der Dokumentar-Satire vor allem in seiner Festschrift Unsere Siemens-Welt begründet und damit politisches Engagement aus dem Umfeld theoretischer Programmatik befreit und zum literarischen Analyse-Instrument gesellschaftlicher Mißstände werden lassen. Er hat seine eigene Sozialisation in einer weithin anerkannten autobiographischen Erzählung Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde aufgearbeitet und die komplizierten Verwerfungen der „deutschen Wende“ in zwei eindrucksvollen Prosaarbeiten Die Birnen von Ribbeck und Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus überzeugend auf den „poetischen Begriff“ gebracht. Die hier vorgelegten Studien über Delius’ Werk, sämtlich Originalarbeiten, spiegeln dessen Spektrum und die Aktualität und wollen als eine erste literaturwissenschaftliche Summe seiner Arbeiten verstanden werden. Die Herausgeber, die den Autor im WS 1994/95 als Gast auf ihrer Poetik-Stelle an der Universität Paderborn intensiv kennenlernten, haben versucht, sowohl den Reichtum dieses Werks als auch seinen weit über Deutschland hinausreichenden Wirkungsgrad zu dokumentieren.
Stauffenburg Verlag, Ankündigung
Schreibe einen Kommentar