Manfred Jäger: Zu Wolf Biermanns Gedicht „Und als wir ans Ufer kamen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Wolf Biermanns Gedicht „Und als wir ans Ufer kamen“ aus Wolf Biermann: Preußischer Ikarus. 

 

 

 

 

WOLF BIERMANN 

Und als wir ans Ufer kamen

Und als wir ans Ufer kamen
Und saßen noch lang im Kahn
Da war es, daß wir den Himmel
Am schönsten im Wasser sahn
Und durch den Birnbaum flogen
Paar Fischlein. Das Flugzeug schwamm
Quer durch den See und zerschellte
Sachte am Weidenstamm
aaaaaaaaaaa– am Weidenstamm

Was wird bloß aus unsern Träumen
In diesem zerrissnen Land
Die Wunden wollen nicht zugehn
Unter dem Dreckverband
Und was wird mit unsern Freunden
Und was noch aus dir, aus mir –
Ich möchte am liebsten weg sein
Und bleibe am liebsten hier
aaaaaaaaaaa– am liebsten hier

  

„Am liebsten“: eine melancholische Ermutigung

Wolf Biermanns Sammlung Preußischer Ikarus aus dem Jahre 1978 besteht aus zwei deutlich voneinander getrennten Teilen. Die Mitte bildet ein längerer, 23 Abschnitte umfassender Prosatext mit Erläuterungen des Autors, „Vorworte“ genannt. Die erste Hälfte des Bandes enthält Lieder und Gedichte, die noch in der DDR entstanden sind, die zweite vereint poetische und musikalische Resultate der ersten Erfahrungen im Westen nach der zwangsweisen Ausbürgerung Biermanns durch die DDR-Behörden im Herbst 1976.
Das zweistrophige Lied mit der Eingangszeile „Und als wir ans Ufer kamen“ gehört zu den Texten, die der Autor aus der DDR mitgebracht hat. Die erste Strophe gibt die Erinnerung an eine Naturszenerie, die zweite subjektive politische Reflexionen über gegenwärtige deutsche Zustände wieder. Aus dem unendlichen Film, den das optische Gedächtnis speichert, wird dem Leser oder Hörer ein kleines zusammenhängendes Stückchen vorgeführt. Man ist von einer Bootsfahrt zurückgekehrt, hat den Kahn am Ufer festgemacht. Die Insassen bleiben sitzen, lange, und vertiefen sich in die Beobachtung der Wasseroberfläche, auf der ,wirkliche‘ Realität und gespiegelte Realität surrealistische Bildmischungen ergeben. Die Ruheposition der Beobachter kontrastiert dabei mit den überraschenden Bewegungen der Dinge.

Und durch den Birnbaum flogen
Paar Fischlein.

Die neue Zeile enttäuscht die Erwartungen des Lesers: es fliegt, was schwimmt. Das Fehlen des Artikels gibt der Pointe zugleich etwas Beiläufiges:

Paar Fischlein

Ausführlicher wird der scheinbare Weg des Flugzeugs durch den See beschrieben: jetzt schwimmt, was fliegt. Das Flugzeug zerschellt am Weidenstamm nicht wirklich, der Beobachter kann nur diesen Eindruck haben, wenn es aus dem Bereich entschwindet, der sich vom Blickpunkt des Betrachters her im See spiegelt. Weil er weiß, daß es sich um eine optische Täuschung handelt, kann er das Zerschellen mit dem Adverb „sachte“ koppeln. Das kräftige und ,laute‘ Verb wird so in die ausschließlich optischen Eindrücke eingebettet, auf die die Szenerie am See reduziert erscheint. Nur das Auge schafft Imagination, und diese bleibt skizzenhaft, wird nicht farbig ausgemalt. Es ist irgendein See, irgendein Ufer, irgendein Himmel – der Text verzichtet auf alle schmückenden Beiwörter wie auch auf die konkrete Lokalisierung der Situation.
Kein Naturerlebnis wird unmittelbar sinnlich vergegenwärtigt, sondern ein Stückchen Erinnerung im Imperfekt nacherzählt, verknappt auf das, was der Gedächtnisfilm aufbewahrt hat und was während eines bestimmten Gemütszustands (den die zweite Strophe beschreibt) abrufbar ist:

Da war es, daß wir den Himmel
Am schönsten im Wasser sahn

Das einfache Vokabular, die abgeklapperten Reime („Kahn“/„sahn“; „schwamm“/„-stamm“), der nachgeahmte Volksliedton stehen freilich in paradoxem Gegensatz zur Doppeldeutigkeit des Ganzen. Oben und unten werden auf eine einzige Ebene gezogen, reale Dinge entfalten ihre volle Schönheit erst im Abglanz, nichts ist mehr an seinem wahren Platz, man verliert die Orientierung, bleibt man lange passiv und beobachtend im Kahn sitzen, anstatt zu rudern. Gegen die Verführung, untätig auf bessere Zeiten zu warten, hat Biermann bekanntlich manche Verse der kleinen und großen Ermutigung und Selbstermutigung geschrieben. Freilich warnte er dabei die Freunde immer davor, bittere Wahrheiten etwa deswegen nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen, weil der kämpferische Veränderungswille dadurch gelähmt werden könnte. Stehen Himmel und Flugzeug für hochfliegende Träume, so liegt die Deutung nahe, manchmal sehe es so aus, machmal habe es den Anschein, als seien die Hoffnungen, Erwartungen, Ziele buchstäblich ins Wasser gefallen, am Boden zerschellt.
Die rhetorischen Fragen der zweiten Strophe nehmen den elegischen Grundton wieder auf: „Was wird bloß aus unsern Träumen / In diesem zerrissnen Land“, „Und was wird mit unsern Freunden / Und was noch aus dir, aus mir –“. Ein Gefühl der Ungewißheit wird gegen die bornierte Zukunftsgläubigkeit derjenigen gesetzt, die sich als Sieger der Geschichte fühlen. Aber der damals seit Jahren von größeren Wirkungsmöglichkeiten in der DDR abgeschnittene Dichter und Sänger verzweifelt dennoch nicht. Biermann zieht kein Resümee der Resignation. Er schreibt nicht:

Was ist bloß aus unseren Träumen geworden!

Daß er sich nicht der Hoffnungslosigkeit überläßt, zeigt ein Vergleich mit seinem 1965 geschriebenen „Barlach-Lied“, dessen Refrain lautet:

Was soll aus uns noch werden
Uns droht so große Not
Vom Himmel auf die Erden
Falln sich die Engel tot

(Die Drahtharfe, S. 37)

Die erste Zeile des Refrains erinnert an Wendungen des hier besprochenen Textes, aber die Nuancen verdeutlichen doch den großen Unterschied zwischen der existentiellen Klage in dem von den leidenden Figuren des christlichen Bildhauers Ernst Barlach inspirierten Liedtext und der dialektischen Selbstvergewisserung des Kommunisten Biermann, für den Zukunft bei aller zeitweiligen Beschwerlichkeit immer unterschiedliche Möglichkeiten offenhält. Das hilft dem Autor, Larmoyanz zu vermeiden. Die Klage reflektiert eine historische Situation, die für den Autor nur ein Moment in einem schmerzhaften und langwierigen Prozeß darstellt. Die beiden Hälften des zerrissenen Deutschland sind für Biermann unansehnliche Stückelei, belastet mit faschistischen oder stalinistischen Hypotheken. Je mehr diese Provisorien sich in ihrem jeweiligen staatlichen und gesellschaftlichen Selbstbewußtsein als ,gesund‘ aufspielen, desto gefährlicher ist diese oberflächliche Selbstdiagnose:

Die Wunden wollen nicht zugehn
Unter dem Dreckverband
 

Das Gefühl der Zerrissenheit steht in einem merkwürdigen Gegensatz zu jener kämpferischen Parteilichkeit, die nur ein ,Entweder-Oder‘ kennen dürfte. Biermann hat es sich schwergemacht und bemühte sich darum, unabhängig von seinem persönlichen Schicksal an dem prinzipiellen Bekenntnis zur DDR festzuhalten, in die er 1953 aus seiner Vaterstadt Hamburg mit enthusiastischer Zustimmungsbereitschaft übergesiedelt war. Diese Illusionen verflogen bald angesichts der Erfahrungen mit dem realen Sozialismus; aber an der Überzeugung, die DDR biete wegen ihres radikalen Antifaschismus und wegen des dort abgeschafften Privateigentums an Produktionsmitteln die günstigeren historischen Zukunftschancen als die kapitalistisch restaurierte Bundesrepublik, hielt Biermann fest. Der Zorn und die Enttäuschung darüber, daß die herrschenden Bürokraten in der DDR ihn dennoch zum Feind stempelten, ist in viele seiner Lieder eingegangen. Motivisch verwandt mit dem hier in Rede stehenden ist z.B. eines aus dem 1968 erschienenen Band Mit Marx- und Engelszungen (S. 77):

Es senkt das deutsche Dunkel
Sich über mein Gemüt
Es dunkelt übermächtig
In meinem Lied
 

Das kommt, weil ich mein Deutschland
So tief zerrissen seh
Ich lieg in der beßren Hälfte
Und habe doppelt Weh

Die Behauptung, die DDR sei – trotz allem – das bessere Deutschland, ist übrigens auch von linken Freunden Biermanns bestritten worden, vor allem deshalb, weil sie den Rückfall der Staaten des mit der Sowjetunion verbundenen ,sozialistischen Lagers‘ hinter die von bürgerlich-liberalen Demokratien schon erreichten Freiheitsstandards anders gewichteten. So schrieb der Gewerkschafter Heinz Brandt in dem Aufsatz „Die DDR ist nicht das bessere Deutschland“:

Wolf Biermann irrt, wenn er in der ,DDR‘ den ,besseren Staat‘ sieht. Das sagen wir ihm in kritischer Solidarität, kampfverbunden. Wir radikalen Demokraten, freiheitlichen Sozialisten haben denen da drüben einen entscheidenden Vorteil voraus: die demokratischen Freiheiten.

Die Schlußzeilen „Ich möchte am liebsten weg sein / Und bleibe am liebsten hier“ variieren die Wendung von der „beßren Hälfte“ und dem „doppelt Weh“ in dem älteren Lied. Am liebsten möchte er weg sein und hier bleiben – das ist eine Paradoxie, die auf den ersten Blick nichts als Zerrissenheit ausdrückt. In Wahrheit aber werden ein bloßer Wunsch und ein faktischer Entschluß nebeneinandergestellt. Das Fluchtgefühl („weg sein“) ist so zugleich flüchtige Stimmung – wie jene Eindrücke auf der Wasseroberfläche des Sees in der ersten Strophe, als das Flugzeug ja nur scheinbar zerschellte. Die Wiederholung „am liebsten hier“ gibt dem einschränkungslos formulierten Entschluß zum Bleiben eine zusätzliche Bekräftigung. Der Wunsch, das zerrissene Deutschland hinter sich lassen zu können, erweist sich als ungefähre, unkonkrete Sehnsucht nach Entlastung. Deswegen ist vom Wegsein, nicht etwa vom Weggehen die Rede, und so wie kein Weg vorgestellt wird, sowenig wird irgendein Ziel imaginiert. Daß Biermann sich letztlich kein anderes Wirkungsfeld vorstellen konnte als die DDR, hat seine zeitweilige Verzweiflung nach der Ausbürgerung bewiesen. In einem früheren Lied hatte er der Sängerin F. zugerufen:

Wenn du es aber im Osten
überhaupt nicht mehr aushalten kannst,
dann bleibe im Osten: der Westen nämlich
würde dich aushalten!

(„Für meine Genossen“, S. 88)

Das Wortspiel mit drei verschiedenen Bedeutungen von „aushalten“ zeigte, daß Biermann entschieden dafür plädierte, Schwierigkeiten innerhalb der DDR dort zu bestehen. In dieser Überzeugung bestritt er am 13. November 1976 das Konzert in der Kölner Sporthalle, das die DDR-Behörden zum Vorwand für die Ausbürgerung nahmen. Dem Doppelalbum Das geht sein’ sozialistischen Gang, das diesen Auftritt auf der Platte dokumentiert, ist ein Begleitheft beigegeben, das auch Biermanns Notizen für seine Ansagen und Kommentierungen enthält. Zu dem Lied „Und als wir ans Ufer kamen“ hatte er sich dies aufgeschrieben

Politischer Gemütszustand
Also gut: hierbleiben (also dableiben)
Hier ist dort. Dort ist hier.
Hierbleiben – so oder so:
Karriere, Bequemlichkeit, Müdigkeit
Sich einmischen

Während des Konzerts hat Biermann das Lied mit den beiden Schlußzeilen angesagt – sie werden auch auf der Plattenhülle an Stelle des Eingangsverses als Titel genannt. Am meisten fürchtete er wohl, unaufmerksame oder in Vorurteilen befangene Zuhörer könnten glauben, er wolle am liebsten in Westdeutschland bleiben. Deswegen sprach er – vor der Wiederholung der Schlußverse – in das Lied hinein den Satz:

Hier ist natürlich nicht hier, nicht wahr.

Damit setzte er zugleich ein ,prosaisches‘ Gegengewicht gegen ein Zuviel an Gefühligkeit. Biermann weiß, daß manche seiner Texte, vor allem, wenn sie von Leiden und Schmerz handeln, literarisch eigentlich ,nicht mehr gehen‘. Wenn die Verse triefen, in ihren Gegenstand reinfallen, muß die Musik oder auch ein dazwischen geschobener gesprochener Kommentar gegensteuern. In der Kölner Sporthalle hat er die Stichworte des Notizzettels dazu benutzt, verschiedene Motive fürs Bleiben in der DDR nebeneinanderzustellen. Warum er bleibt, darüber muß freilich nur grübeln, für den Weggehen real möglich wäre. Die Bevölkerungsmehrheit ist durch Mauer und Grenzsicherungsanlagen anderer Art zum Bleiben genötigt. Da Biermann dies aussparte, konzentrierte er sich unausgesprochen auf Probleme jener privilegierten Minderheit, die Gelegenheit zu Westreisen hat. Die einen richteten sich bequem in der Misere ein, andere blieben aus Faulheit oder um irgendeine billige Karriere zu machen oder auch eine teure. Aber man könne auch bleiben, um sich einzumischen. Es ist offensichtlich, daß Biermann nur die zuletzt genannte Position für produktiv hält. So mündet ein melancholisches Lied voller weltschmerzlicher Untertöne in eine aktivistische Nutzanwendung.
Das Stichwort „Politischer Gemütszustand“ hat Biermann nicht aufgegriffen. Die darin enthaltene Spannbreite läßt sich ermessen, wenn man die Traditionslinien verfolgt, die in diesem Lied zu Heine und Brecht führen, Biermanns wichtigsten literarischen Bezugsgrößen. Ähnlich wie in dem in vergleichender Absicht zitierten „Es senkt das deutsche Dunkel“ wird nicht nur der bittersüße Heine-Ton aufgenommen, vielmehr ist ein Lieblingsmotiv Heinescher Gedichte aus den Jahren 1822 bis 1824 deutlich erkennbar, nämlich Reflexionen über die Welt mit einer Kahnfahrt, mit dem Ruhepunkt nach einer Kahnfahrt zu verbinden. „Wir saßen am Fischerhause / Und schauten nach der See“, so beginnt Nr. 7 in dem Zyklus „Die Heimkehr“, dessen Nr. 14 („Am Meer“) von Schubert vertont wurde, worin es heißt:

Wir saßen am einsamen Fischerhaus
Wir saßen stumm und alleine

Brahms vertonte „Meerfahrt“, das 42. Gedicht aus dem Lyrischen Intermezzo, das mit den Versen beginnt:

Mein Liebchen, wir saßen beisammen,
Traulich im leichten Kahn

Die rhetorische Struktur des Liebesgedichts ist auch bei Biermann erhalten geblieben: das „wir“ vereint wie bei Heine den Dichter und seine Geliebte: was wird „noch aus dir, aus mir“, so fragt der Autor in der zweiten Strophe. Der Gemütszustand aber wird politisiert, die Vertrautheit der Liebenden verpersönlicht die Antwort auf eine gesellschaftliche Frage. Die Paradoxie am Ende sagt mit anderen Mitteln dasselbe wie Brechts Gedicht „Der Radwechsel“ aus den Buckower Elegien (S. 1009): 

Ich sitze am Straßenrand
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
Mit Ungeduld?

Die Zustände sind von der Art, daß man sich nur zu gern aus ihnen wegwünschte. Aber der ungeduldige Einmischungsimpuls ist doch stärker als die Verführung zur Flucht. Biermanns Parteilichkeit läßt nicht weg, was nicht ,in den Kram‘ paßt. Seine Lieder kennen Leiden und Tod, Schmerzen und die Verzweiflung wiederkehrender Niederlagen. Nicht aus ideologischer Gewißheit leitet sich seine kämpferische Haltung ab, sie beglaubigt sich vielmehr durch eine nachdenkliche Offenheit, die sich nicht für allezeit gefeit glaubt gegenüber Stimmungen eines Ungenügens an aller Politik. Das Lied „Und als wir ans Ufer kamen“ ist wie viele spätere, erst nach der Ausbürgerung im Westen entstandene Texte geschrieben im Geiste eines „Trotz alledem“. So heißt auch eine Platte Biermanns, und in den Anmerkungen zu ihr hat der Verfasser und Sänger das Wort „Trotz alledem“ so erläutert:

Es ist ein dialektisches, ein radikales Wort, denn zu einem Zorn, der politisch fruchtbar werden soll, der nicht modisch-müde werden soll, gehört ja grade auch diese große Portion Schmerz, die dem eindimensionalen Idiotenoptimismus fehlt.

1

Manfred Jäger, aus Walter Hinck (Hrsg.): Gedichte und Interpretationen. Band 6 Gegenwart, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1982

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00