Manfred Jähnichen (Hrsg.): Weisse Nächte mit Hahn

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Manfred Jähnichen (Hrsg.): Weisse Nächte mit Hahn

Jaehnichen (Hrsg.)-Weisse Nächte mit Hahn

DIE GELIEBTE DER DICHTER

Die laszive Idee des Mondes quälte ihn,
er schwor auf seinen Schein,
auf das fremden Oval zuletzt…
Und gab dich preis der Welt, ließ dich allein,
daß sie dich mit ihrer Härte verletzt.
Jetzt mach ich dir den Hof, wie ich’s kenne:
ich brenne!
Bin krank und unter Quarantäne.
In mir ist viel Dunkelheit – und du bist so weiß!
Ich habe Angst, dich zu berühren – und will es heiß.
Mein Gott, die Liebe, glattes Eis…

Štefan Moravčík
Übersetzung: Anette Simon und Jan Faktor

 

 

 

Ein Blick von außen auf die slowakische Poesie

des 20. Jahrhunderts

Weiße Nächte mit Hahn, das klingt romantisch, vielleicht sogar nostalgisch und ist doch vor allem als Metapher zu verstehen. Ausgeliehen aus einem Gedicht von Lýdia Vadkerti-Gavorníková soll sie unterstreichen, daß die slowakische Lyrik, die hier in einer Auswahl aus dem gesamten 20. Jahrhundert in deutschen Übertragungen vorgestellt wird, eine erregende Geschichte von Schöpferwillen und Schaffenskraft ist, von Wirklichkeitsbesessenheit und Phantasie, von Engagement und Visionen, von Hoffnung, Enttäuschung und neuem Mut. Ein Volk, das kaum Heerführer und Eroberer aufzuweisen hat, um so mehr aber Baumeister und Zimmerleute, Maler und Dichter, hat sich gerade auch in der Poesie eine innere Geschichte geschrieben, die vieles von der Konstruktivität des Bauens und Gestaltens hat. Ein Spiegelbild der äußeren Geschichte ist sie außerdem, häufig im Widerspruch dazu entstanden, in der kritischen Reflektierung der Realität, als Warnung oder auch als kühner vorausgreifender Entwurf einer Welt der Gerechtigkeit und Geborgenheit, der Toleranz und echten Brüderlichkeit. Die Befindlichkeit des Menschen in diesem Jahrhundert ist so selbst Geschichte geworden als Liebe, als Trauer, als Sehnsucht und Angst, aber auch als Trotz, als stolze Selbstbehauptung und Verteidigung der Würde des Menschen.
Die Dichter, die in der Anthologie vorgestellt werden, haben diese Befindlichkeit mit ihren Texten unterschiedlich festgeschrieben: ernst mit innerem Pathos, meditativ in spiritueller Kontemplation, visionär im Glauben an eine neue Humanität, philosophisch als Gleichnis der Existenz, verwundet von der Wirklichkeit hinter Ironie Verletzungen verbergend – und doch immer wieder mit Vertrauen in den Menschen.
Im zeitlich weitgespannten Bogen von der Antikriegslyrik eines Pavol Hviezdoslav, der 1914 seine ohnmächtige Empörung in der strengen Form des Sonetts zu zügeln sucht, bis hin zu den Versen kühler Distanz eines Jozef Urban oder Ivan Kolenič aus den 90er Jahren, die die Lebensleere einer „goldenen“ Jugend einfangen, wird solche Befindlichkeit verdeutlicht. Knappe hundert Jahre mit reichlich zweihundert Gedichten von siebenundsechzig Dichtern zwischen Realismus und Postmoderne wiedergeben zu wollen, muß freilich immer ein Versuch bleiben; ein Versuch auch der subjektiven Versuchung durch die Verführbarkeit der Texte und ihre Verfügbarkeit in möglichst ebenbürtigen deutschen Übertragungen. Schon dadurch sind zwangsläufig Grenzen gesetzt.
Trotzdem hoffe ich, wird deutlich: in diesem geographischen Raum zwischen den Weiten der Donau-Ebene und dem majestätischen Tatra-Gebirge, integrativer Bestandteil Mitteleuropas und der westlichen Zivilisation, ist in der Poesie des 20. Jahrhunderts jene erregende Dynamik erlebbar, die für eine Reihe europäischer Kulturen charakteristisch ist. Es ist der Aufbruch aus dem „Lande der Engel“ mit festen Lebensnormen und Lebensformen in den Freiraum des Individuums mit all seinen unwägbaren Risiken. Die slowakische Geschichte und Kultur im 20. Jahrhundert sind Beispiel genug, daß Vereinnahmungen durch totalitären Anspruch die größte Gefahr sind.
Die Verteidigung des Individuums gegen die Macht, die leicht zur Übermacht wird, ist ein Impetus dieser Poesie. Ein anderer ist, Möglichkeiten zu erkunden, wie dem Menschen sein Menschsein garantiert werden kann. Ob im visionären Traum erfaßt oder in der spirituellen Meditation, der bohrenden Selbstbefragung, der präzisen Wirklichkeitswiedergabe, der gleichnishaften Allegorie oder einfach in der grenzenlosen freien Imagination, die Texte der Anthologie weisen aus, wie originär und innovativ die slowakischen Dichter sein können.
Im schöpferischen Dialog mit den Kulturen der Welt, vornehmlich der französischen, aber auch der deutschen und englischen, russischen, polnischen oder tschechischen und seit den 60er Jahren auch zunehmend der amerikanischen, haben die Dichter ihre nationale Geschichte mitgeschrieben, die zugleich Teil der europäischen ist. Moralische Verantwortung hat sie geleitet oder christliche Gesinnung der Nächstenliebe, vitale schöpferische Energie oder die Überzeugung, daß die Welt verbesserbar ist.
In vielfältig verästelter Beziehung zum politischen Geschehen haben sich in der slowakischen Poesie des 20. Jahrhunderts die unterschiedlichen Positionen der Dichter gerade auch im Wandel ausgeprägt. Anfangs, zu Beginn des Jahrhunderts, als von nationaler Eigenständigkeit nur geträumt werden konnte, war der Dichter vor allem nationaler Barde und Seher, später dann – in der freien Atmosphäre der I. Republik – Zeitzeuge und Repräsentant, Kritiker und Visionär, in den Jahren des Krieges die mahnende Stimme, danach, als endlich Frieden war, der Hoffende auf eine Besserung der Welt, um nach dem Februar 1948 von einer monolithisch bestimmten Gesellschaft dirigiert zu werden. Davon hat er sich mühsam wieder befreit, erneut als kritischer Entdecker der Wirklichkeit, der seine eigene Wahrheit ausspricht. Trotz aller Eingriffe und Behinderungen, die die „Normalisierung“ bedeutete, hat er sich seinen Freiraum zu bewahren versucht, nun besonders als gleichnishafter Gestalter des Menschen in unserer Zeit. Das alles vollzieht sich auf dem Hintergrund von Veränderungen, die aus naturnahen rustikalen Bindungen in die moderne Zivilisationsgesellschaft führen.
Man weiß in Deutschland sehr wenig von solchen und anderen Entwicklungsperipetien der slowakischen Geschichte und Kultur. Es sei deshalb erlaubt, einige ihrer Zeitläufe zu markieren.
Da ist zu Beginn unseres Jahrhunderts die Slowakei als politischer Bestandteil der ungarischen Reichshälfte in der k.k-Doppelmonarchie von einer radikalen Madjarisierung bedroht. „Als fremder Wanderer“ in der eigenen Heimat muß sich Ivan Krasko zwangsläufig begreifen, und er artikuliert symbolträchtig 1912:

Das Stöhnen der fronenden Väter reifte
im Herzen zu Samen mir.

Und er fragt:

Werden noch Drachensaaten sprießen aus der
Leibeigenen Erde hier?

Die geschichtliche Entwicklung hat diese bange Frage beantwortet. Nachdem sich „Volk auf Volk gestürzt hat“ und „Mörder… Zerstörungswut mit Vorsatz in die Welt“ getragen haben, wie es Pavol Hviezdoslav 1914 zu Kriegsausbruch in seinen Blutigen Sonetten formulierte, und „die zum Gesetz erhobene Gewalt die Menschlichkeit ersterben ließ“, entstand als einer der lebenskräftigsten Nachfolgestaaten der Donaumonarchie die Tschechoslowakei. Das war für die Slowaken ein historischer Einschnitt von weitreichender Bedeutung. Nach einem Jahrtausend der Zugehörigkeit zu Ungarn waren sie jetzt Teil eines demokratischen Staates, an dessen Spitze ein humanistischer Denker stand, T.G. Masaryk.
Wie immer man diese Zäsur auch heute beurteilen mag, unbestritten ist eins: die Slowaken waren nun in einen Staat eingebunden, in dem die Ideen der Demokratie und Humanität, der Toleranz und Weltoffenheit die politische Realität bestimmten. Das hat sich natürlich auch inspirativ auf ihre Kultur und Poesie ausgewirkt. Rasch wurde der geistige Freiraum erstritten, der die Pluralität des Denkens und Schaffens zur Selbstverständlichkeit werden ließ.
Die Dichter haben sie mitgeformt. Ján Smreks mitreißender Vitalismus, Ladislav Novomeskýs Suche nach einer Synthese von politischer und künstlerischer Avantgarde im Umfeld der linken DAV-Bewegung, Emil B. Lukáč’ kontemplative Lyrik seien nur stellvertretend genannt; sie signalisieren die Vielschichtigkeit der Poesie. „Wir Burschen, jung, voll Übermut, / … mit ganzer Seele jung an Jahren, / wir sind die wilden Reiterscharen“, gibt Ján Smrek dem herausfordernden Trotz seiner jungen Generation Ausdruck, die sich durch nichts einengen lassen will. Sie will, wie es Ladislav Novomeský 1933 in seiner poetistischen Sammlung Rhomboid formuliert, jene Fernen entdecken, in die „die Schiffe nach Afrika ausgelaufen sind“. Das war vor allem eine Metapher für die ungestillte Sehnsucht, die sich auf den Werten der Kindheit gründet und Gerechtigkeit für alle fordert.
Doch wird in den 30er Jahren und den zunehmenden sozialen und politischen Spannungen, die sich allenthalben in Europa verschärften und auf die Alternative von Demokratie oder Totalitarismus hinausliefen, der Ton auch der slowakischen Dichter ernster, nachdenklicher. Vorbei ist die Zeit für den Übermut dadaistischer Wortspiele wie in Rudolf Fabrys Gedicht „Tod den Nachtigallen und den Finken“. Die „abgehackten Hände“, um den Titel seiner wichtigen surrealistischen Initialsammlung von 1935 variierend aufzugreifen, pochten schon an die Tür.
Dieser „brennendsten Wirklichkeit“ stellten sich die Surrealisten, die sich bald selbstbewußt Nadrealisten nannten, indem sie in die verborgensten Schichten des Ichs eindrangen und in kühnen Metaphern Zeit und Raum raffend Visionen von einer Welt der Gerechtigkeit entwarfen. Die Ablehnung des Krieges und um so stärkere Bejahung des Friedens 1945 als die erhoffte Zeitenwende waren nur logisch. „Ich bin eine Glocke ohne Turm / … bin Glockenherz und Glöckner zugleich, / und um so mehr als Menschen über die Erde gingen, / die ihren Ursprung im Göttlichen wußten“, – heißt es bei Rudolf Fabry 1946. Wie viele andere schöpferische Bewegungen wurde auch der Nadrealismus nach dem Februar 1948 verketzert.
Die andere literarische Gruppierung jener Zeit, die schon nach dem Krieg und dann endgültig nach dem Februar 1948 ein gleiches Anathema traf, war die katholische Moderne. Priester zumeist, nutzten sie das Dichterwort zur christlichen Offenbarung der Welt. „Mein Vaterunser dröhnt / in des Bösen schwerer Versuchung, / denn durch schwärzeste Nacht muß ich noch gehn / über den slowakischen Friedhof, / gegürtet mit einem Strick / wie ein Totengräber“, sorgt sich Valentín Beniak, der in seiner christlichen Gesinnung ihnen nahesteht, 1938 um sein Land. Im II. Weltkrieg, in den die nun selbständige Slowakische Republik auf Hitlers Seite hineingerissen wurde, blieb für viele dieser Dichter nur die Sehnsucht nach Frieden. Janko Silan spricht sie in der Form eines Gebetes aus:

Dunkel, dunkel, dunkler Bann,
was, ach, fängt die Seele an
… Herr, dein Antlitz zu mir kehre,
daß dein heller Schein,
diese Finsternis vertreibe,
daß ich in der Wahrheit bleibe!

Als Ladislav Novomeský später, 1964, eine der Zäsuren des Krieges, den Slowakischen Nationalaufstand von 1944, so beschrieb: „Um alles mußten wir bangen: / und darum standen wir auf / und sind in den Krieg gegangen“, da hatte er seine bittere Anabasis bereits hinter sich. Selbst einer der Organisatoren des Aufstandes und so ausgewiesen, Sprecher des Neubeginns 1945 zu sein, wurde er in den frühen 50er Jahren als „slowakischer Nationalist“ von der eigenen Macht abgeurteilt und erst Jahre danach rehabilitiert. In personam spiegelt sich hier, was 1945 als Neuaufbruch begann und mit dem Februar 1948 durch die Macht der „Diktatur des Proletariats“ zerschlagen wurde, die ihre sozialistische Parteilichkeit rigoros durchsetzte und vom Dichter vorbehaltlose Zustimmung forderte. Die meisten Texte dieser Jahre nach dem Februar 1948 sind denn auch Hochgesänge im verklärenden Optimismus mit hervorgekehrter Begeisterung über das Aufbauwerk, agitatorisch sich selbst überzeugend für die Weihen des Kollektivs. Vereinzelte Ansätze zaghafter Ich-Besinnung werden von der grauen Uniformität erdrückt, die Müdigkeit des Schematismus, der um sich griff, war nivellierend.
Mitte der 50er Jahre setzte dann das „Tauwetter“ ein, das das Profil der Literatur entscheidend veränderte. Dominik Tatarka hatte es mit seiner Prosa eingeleitet, in der Poesie kam flankierend Milan Rúfus’ Debüt hinzu; eher jungenhaft scheu, doch mit dem trotzigen Anspruch, die eigenen Erfahrungen in Gedichten auszusprechen, die die Regeln der slowakischen Dorfwelt und die Befindlichkeit seiner Bewohner als lebenswerte festschrieben. Knapp, mit Metaphern von greifbarer Nähe, schafft Rúfus seither solche ganzheitlichen Gedichte als „Bündnis von Wahrheit und Schönheit“:

Daß der Teig uns gäre
für die Lieb’, die schwere,
walkt den Schmerz hinein
auf dem Tisch aus Stein

Das ist von sprichwortartiger Prägnanz, wie in Granit gehauen.
Das andere wichtige Poesiekonzept dieser Jahre fand sein Forum im Jungen Schaffen, der 1956 begründeten Literaturzeitschrift der neuen Generation. Miroslav Válek notierte hier, die moderne Lyrik müsse „mehrdimensional“ sein, das Ergebnis „eines präzisen Zusammenspiels von Denken und Fühlen.“ Er forderte eine intellektuelle Poesie, die Analyse und Synthese zugleich war und die Welt in ihrer Totalität in kraftvollen Bildern erfaßte. Válek selbst ist bis an die Grenzen des Vorstellbaren gegangen:

Fuchsrote Flöhe springen aus dem Feuer zur Erde,
mich juckts, an deinen Hals Hand anzulegen,
und wie beim Metallschweißen blau wird das Zimmer.
Armreifen,
Würger ihrer schneeweißen Hände.

Die Wirkung solcher Poesie war enorm. Die Trnavaer Dichter, die „Konkretisten“, Ján Ondruš, Ján Stacho, Jozef Mihalkovič und L’ubomír Feldek vornehmlich, griffen dieses offene Lyrikkonzept auf und führten es weiter mit grenzenloser Schöpferfreude. „Jeder Morgen war ein einziges offenes Fenster, / war ein Hund, der vorauslief, und war eine kolossale Möglichkeit, sich wie auf dem Sprungbrett / zu entscheiden mit ganzem Körper“, so Ján Ondruš 1965. Poesie wurde Entdeckung und Konstituierung einer neuen Lebenswelt. Souverän im ästhetischen Entwurf, suggestiv durch die Kraft der Metaphorik brachte sie der slowakischen Poesie Welthaltigkeit. Es ist nur logisch, daß „die einsamen Läufer“, die Dichterfreunde Ivan Laučík, Ivan Štrpka und Peter Repka, bei ihrem Start in den 60er Jahren von solcher Aktivität angesteckt wurden. Ihr ethischer Anspruch jungenhafter Lauterkeit galt für alles, was Leben war.
Die sowjetischen Panzer im August 1968 wälzten die Hoffnung auf einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ nieder. Für die Tschechoslowakei folgte eine neue Eiszeit. Die „Normalisierung“, die bald begann, bedeutete Säuberung und Ausgrenzung, Publikationsverbot; sie forderte Selbstkritik. Emigration oder Dissens waren oft der Ausweg, Schweigen und ohnmächtiger Protest ein anderer. Schriftsteller, die sich vorwagten, waren mißtrauisch angesichts der Sinnentleerung von Sprache im politischen Alltag.
Die meisten slowakischen Dichter wägten um so genauer das Wort, bevor sie es niederschrieben. Die Präzision der Semantik wurde wichtig wie selten zuvor. Beobachtete Alltäglichkeit wurde genau reflektiert, Sinngebung vornehmlich im Gleichnis gesucht. In poetischen Modellierungen wurden Besorgnis kund und aufrechte Haltung. Lýdia Vadkerti-Gavorníkova etwa schrieb:

Weiße Nächte Töchterchen
wird es geben
mit dem Hahn auf dem Dach
ein Schatten vom Blitz zerspellt
zwiefache Einsamkeit.
Und über der Dachziegel Lohe
wirst du das Mahnfeld entzünden
wölfisches Dunkel tritt ein.

Bei Ján Buzássy heißt es in „Beethoven: Quartette“:

Der Tod. Und wollt entkommen seinem Schatten,
und sprang ein Rad entzwei ihm unterwegs,
nahm mit Noblesse er’s hin, kühl, unbewegt,
ließ alle Pferde wechseln vorm Ermatten.
Wo sind die Pferde? Staubzerfallen?
Wie, hätten sie sich in die Welt verirrt?
Nur wo sein Wagen wurde neu beschirrt,
Quartette, späte Zeugen sind erhalten.

Gedrängte Verdichtung stand gegen ideologische Simplifizierungen, poetische Werte wurden starren Sprach- und Lebensnormierungen entgegengestellt. Freilich erleichterte die offizielle Rückbesinnung auf Ivan Krasko oder Ladislav Novomeský den Weg zur Vernunft, den auch viele Wissenschaftler mitgestalteten. Das Klima in der Slowakei unterschied sich bald wesentlich von dem in den böhmischen Ländern und in der tschechischen Kultur.
Milan Rúfus und die Konkretisten vor allem, gefolgt von Dichtern wie Ján Buzássy, Štefan Strážaj, Mila Haugová oder Štefan Moravčík, die man ob ihrer Poetik auch späte Konkretisten nennen könnte; schufen mit Dichtern wie Viliam Turčánv oder Ján Zambor allen Widernissen zum Trotz eine solche Poesie der subjektiven Behauptung. Sie war Einspruch schon durch das Beharren auf dem lyrischen Ich, seiner Wahrheit.
In den 80er Jahren kommen die Nachkriegsgeborenen hinzu, selbstbewußt, gebildet, sich auskennend in den Kulturen der Welt, kritisch gegenüber allen Verkrustungen der politischen Strukturen: Ján Štrasser, wie eh und je ironisch, geistreich, Daniel Hevier, forsch und elegant, den schnellen Lebensrhythmus der Jungen einfangend. Dana Podracká nachdenklich, ihre Sinnsuche des Lebens in präzisen Texten niederschreibend.
Die Liberalisierung der Kulturpolitik in den ausgehenden 80er Jahren, eine Folge um sich greifender Glasnost, bringt auch Ausgegrenzte mit ihrer Poesie in die Literatur zurück, den ehemaligen Surrealisten Ivan Kupec etwa oder Ivan Laučík, den „einsamen Läufer“, mit seinen Texten der Unruhe und beängstigenden Visionen:

Worauf hoffen,
was halten von einem Land,
in dem die Adler nicht fliegen
aus den zerfallenen Volieren
und geduldig warten auf die Leberration?

Nach dem November 1989 öffnete sich die slowakische Literatur für alles und für alle. Sie ist wieder Feld der öffentlichen Auseinandersetzung um neue Inhalte und Perspektiven. Auch die lange in der Emigration Verfemten kommen jetzt zurück, zumindest mit ihren Texten, so sie schon tot sind wie Rudolf Dilong mit Versen wie:

Erdwärmelos und ohne Ruh,
Fremde nur heißt mein Leben.
Niemandes Sohn – sei mit uns Herr,
ach, was soll ich dir geben?

Die staatliche Souveränität der Slowakischen Republik 1993, entstanden durch das Auseinandergehen von Tschechen und Slowaken, schafft eine neue politische Realität, die auch die Dichter polarisiert. Für den Erhalt des Bewahrenswerten setzen sie sich ein, plädieren für Pluralismus, Demokratie und Toleranz, gegen die Verrohung der Zeit, nach Geborgenheit, Wärme und Zärtlichkeit suchend. Wie so oft im 20. Jahrhundert will die slowakische Poesie Hoffnung sein und Gefährdungen signalisieren, die auch eine demokratische Gesellschaft nicht ausschließen kann.
Eine große Zahl slowakischer Freunde hat mir geholfen, diesen Band zu realisieren, ich nenne stellvertretend Peter Čačko, eine Reihe von anerkannten Dichtern und Nachdichtern konnte ich zur Mitarbeit gewinnen. Ihnen allen danke ich wie auch der Assoziation der Schriftstellerverbände der Slowakei. Nach über einem Jahrzehnt kann die Anthologie nun endlich erscheinen, die seinerzeit unter ganz anderen Bedingungen, damals gemeinsam mit L’ubomír Feldek, beim Aufbau-Verlag Berlin begonnen wurde; das ist dem Engagement des Gollenstein-Verlages zu danken.

Manfred Jähnichen, Dezember 1995, Vorwort

 

Ein Wort zu den Nachdichtungen

22 Persönlichkeiten aus dem deutschen Sprachgebiet haben die 200 Gedichte der 67 slowakischen Poeten übertragen, die in der Anthologie vorgestellt werden. Zumeist selbst Dichter oder zumindest auf literarischem Gebiet tätig, haben sie bewiesen, daß sie mit der deutschen Sprache sensibel und schöpferisch umzugehen vermögen und zugleich, daß sie die Slowakei, ihre Menschen, ihre Kultur schätzen. Ihre Nachdichtungen bekunden dies.
Nachdichtungen sind, das weiß man, mehr als jede andere Form literarischer Vermittlung, Identifikationen – mit dem originalen Dichter, seinem Text und dem Kulturkreis, aus dem er kommt. Für eine ebenbürtige Wiedergabe im anderen Sprachkontext ist das unumgänglich. Nur so kann sich der Nachdichter überhaupt erst den originalen Text erschließen, um ihn dann möglichst adäquat mit den Ausdrucksformen seiner Zielsprache neu zu gestalten. Sprachschöpferische Kreativität und Disziplin verlangt das und zudem auch Bescheidung und Rücknahme des eigenen Ichs. Nachdichten ist so zu allererst ein Dienen.
Bei 67 Dichtern, verstreut über ein ganzes Jahrhundert in der Entwicklungsdynamik zwischen Realismus und Postmoderne, kann eine solche Identifikation schwerlich von nur einem oder wenigen Nachdichtern geleistet werden; dazu sind die ästhetischen Positionen der hier vorgestellten Dichter und ihre Poetiken zu differenziert. Also wurde versucht, eine größere Zahl von Nachdichtern zur Mitarbeit zu gewinnen und dabei möglichst die typologische Affinität des Nachdichters zum Dichter zu respektieren.
Was dafür allerdings in Kauf genommen werden mußte, ist die Differenz auch der übersetzerischen Poetiken; der eine Nachdichter ist enger auf das Original fixiert, der andere versucht freier aus dem Ausdrucksreservoir der deutschen Sprache zu schöpfen. Entscheidend freilich war für den Herausgeber, daß das originale Sprachkunstwerk in seiner Einzigartigkeit möglichst gleichwertig im Deutschen wiedergegeben wurde.

Was zunächst theoretisch vielleicht problematisch erschien, erwies sich so letztendlich als positiv: die Vielzahl der Nachdichter potenzierte die Vielfalt der Poetiken, die die slowakische Poesie des 20. Jahrhunderts formte als einen Pluralismus von stilformatorischen Anstrengungen, wie er für entwickelte Literaturen in unserem Jahrhundert der Maßstab ist.

Manfred Jähnichen

 

Der originäre Blickwinkel,

die individuelle Begabung, die ästhetischen Zeitströmungen – vom Realismus bis zur Postmoderne unserer Tage – prägen die Vielfalt der Handschriften von 67 Dichtern, vereint in dieser Anthologie Weiße Nächte mit Hahn.
Der erregende Prozeß sich verändernder künstlerischer Modelle geht mit dem Wandel der Themen einher, die für die Slowakei wie für Europa charakteristisch sind: Zwei Weltkriege, Unrecht und Gewalt, Sehnsucht nach Frieden, Freiheit, Eigenverantwortlichkeit und Toleranz, Liebe und Tod als immer wieder anregende Motive, Nähe und Ferne zu einer Landschaft, die in Herbe und Harmonie noch jeden slowakischen Dichter poetisch inspirierte. 22 Nachdichter bemühen sich um eine adäquate Wiedergabe.
200 Gedichte geben Auskunft über 100 Jahre Lyrik, die sich im stetigen geistigen Kontakt mit anderen Literaturen wie der französischen, deutschen oder tschechischen entwickelt hat. Gedichte über Hölderlin, Grimm oder Rilke, über Wernigerode oder Wismar deuten dieses inspirative Beziehungsgeflecht an. Die Anthologie erschließt bleibende Werte der slowakischen Literatur und macht bekannt, was längst zur Weltkultur gehört.

Mit dem Band slowakischer Poesie hält der Leser ein Jahrhundert in der Hand. Gedichte sind künstlerische Miniaturen von Geschichte. Wie Steine eines Mosaiks fügen sie sich zu einem epochalen Bild von einem Land, das zu Beginn unseres Jahrhunderts noch zu Ungarn gehörte und seit 1993 eine selbständige Republik ist.
200 Gedichte von 67 Autoren künden von Jahrhundertereignissen und subjektive Erfahrungen, von Freiheit, Menschlichkeit, Schönheit und Wahrheit, nicht nur erkämpft mit dem poetischen Wort, sondern auch mit der persönlichen Tat.
Weiße Nächte mit Hahn ist die erste deutschsprachige Anthologie slowakischer Lyrik des gesamten 20. Jahrhunderts, ein wichtiges Zeugnis dieser Zeit. Ein Standartwerk, ein wichtiges zu befragendes Zeitzeugnis von weltliterarischem Anspruch.

Gollenstein Verlag, Klappentext, 1996

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Kalliope

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