– Zu Karl Mickels Gedicht „Bier. Für Leising“ aus dem Band Karl Mickel: Schriften I. Gedichte 1957–1974. –
KARL MICKEL
Bier. Für Leising
Maulfaul, schreibfaul bist du, Richard, gern
Stemm ich aufn Tisch zwei Ellenbogen
Und denke, es sind viere. Was steht zwischen
Uns? Bier. Helga! noch zwei große
Weiße Blumen auf dem gelben Stiel.
Was tue ich? sagst du, ich deute
An, sag ich. Die Wirklichweisen
Wenn die was sagen, sagen die: Naja
Ich kenne eine Frau, vom Hörensagen
Aber verbürgt: dreißig, neun Jahre am Fließband
Der zucken, wo sie geht und liegt, die Arme
Die läuft zum Psychiater, denn sie wünscht
Zu kündigen. Der Wunsch, klagt sie, sei krankhaft.
Wer Ohren hat zu sehen der wird schmecken.
Rainer Kirsch hat (in: Rainer Kirsch: Das Wort und seine Strahlung. Über Poesie und ihre Übersetzer. Berlin/Weimar: Aufbau 1976) zum Verstechnischen des Mickelschen „Bier. Für Leising“ einiges Wichtige geschrieben. Er weist darauf hin, daß bereits in den situationsbeschreibenden Anfangszeilen eine Gegensetzung, ein Affekt probiert wird, wenn die bedrohlich klingende, versüberlappende Floskel/Redewendung (nicht Metapher, wie K. meint) „was steht zwischen / Uns?“ die dem Raum entsprechende, ins Heitere kippende Antwort „Bier“ erhält (wieso dieses Enjambement demaskierend sein soll, wie K. meint, wird mir nicht einleuchtend). Dieses Verfahren wird bei „ich deute / An“ ins Ingrimmige gewendet, ins Konstatieren, daß nur noch Konstatieren möglich ist (Andeutung statt Deutung), und weitergeführt, verfestigt durch eine Art Spruch (: „Die Wirklichweisen / wenn die was sagen, sagen die: Naja“). Dem folgten ein aufschreckender Bericht aus der Welt und Schockpointe, der letzte Satz raffe „nach dem Muster klassischer Sonette das Gedicht in eine einprägsame Formel: nochmals wird eine erstarrte Redefigur aufgebrochen und gleichsam grimassierend ins Sujet (Biertrinken) gerenkt“.
Soweit Kirsch. Da er sich allerdings, auch wenn er allgemeiner vom Rhythmus und seinen Möglichkeiten zu sprechen vorgibt, fast ausschließlich auf die Bedeutung des Enjambements stützt, übersieht er ein anderes wesentliches Mittel: die mehrfach deutliche Rhythmusstörung; die wird vorgeführt als Störung des Lebens, als Unregelmäßigkeit, als bedrängende Pause, als Ausdruck von Fremdheit, Befremdung, Entfremdung. Sie zeigt sich schon im dritten Vers („Und denke“, nach vorherigem sogenannten weiblichen Zeilenschluß) und nach „Die Wirklichweisen“, sie endet mit „die läuft“: Hier wird gerade das Gegenteil des Enjambements, nämlich Vereinzelung der Zeilen beziehungsweise Sätze/Satzteile, erreicht; wiederum erzielen diese Variante und Enjambement gemeinsam eine erhöhte Spannung. Der Gipfelpunkt der Rhythmusstörung und Vereinzelung der Satzteile findet sich in Vers 10 (: „Aber verbürgt: dreißig, neun Jahre am Fließband“), wo nach zwei (in diesem Text ungewöhnlich) unbetonten Silben zwei betonte aufeinandertreffen, ein Crash, der den Eindruck bewirkt, daß sich danach der Rhythmus nicht mehr erholt, daß er entscheidend lädiert wurde, daß ein anderer Schritt, der Trott, einsetzt: „neun Jahre am Fließband / Der zucken“ hat das Getragene, Müde eines endlosen Marsches, eines Gehens ins Nichts. (Trotzdem besteht die Möglichkeit, nach „Fließband“, als einer Zusammensetzung aus zwei einsilbigen Worten, eine Pause einzulegen und die Vokabel ganz ,auszukosten‘.) Das nüchtern benannte Faktum gerät ins Ungeheuerliche.
Ein weiteres künstlerisches Mittel, das Thema exakt darzustellen, gewinnt Kontur durch den Konjunktiv im Satz. „Der Wunsch, klagt sie, sei krankhaft“: Nicht nur der ,Fall‘ ist ein Beispiel von Entfremdung, die zeigt sich auch bei denen, die solches zu beurteilen haben. Aber es ist, eben durch den Konjunktiv, eine weitere Stufe der Wirklichkeits(nicht)beziehung dieser Art möglich, eine weitere Stufe (hinab) des Miß-Verständnisses, nämlich die, daß die geschilderte Frau selbst meint, ihr Wunsch sei krankhaft: das Opfer, das sich nicht als dieses begreift. Wie sollte da verändert werden?
Dieser Ausnahmezustand wird im nächsten/letzten Satz beschreibend, mit einer erneuten Variante, weitergetrieben: das biblische „Wer Ohren hat zu hören, der wird sehen“ verkommt (kristallisiert sich) durch irrsinniges Zusammenfügen verschiedener Organe/Sinne zu einem sich ausschließenden (kausal sich nicht ergänzenden) Begreifen, die im Manierismus/Barock entwickelte (surreale) Metaphorik des Unvereinbaren (Oxymoron) definiert äußerste Sinnverwirrung.
Doch es gibt andere Linien des Fremdseins, die, modisch-soziologisch ausgedrückt, Fallstudie ist nur ein Teil von Gestörtsein. Schon in der Eröffnungsbeschreibung, die nicht harmlos ist, wie Kirsch meint, wird ein problematisches Verhältnis, eine verrinnende Freundschaft, geschildert: allzuoft bleibt es, heißt es, beim Wunsch, daß statt zweier Arme vier auf der Tischplatte sind, dies wird methodisch benannt durch die Zäsur vor „Und denke“, Ausdruck von Sehnsucht; Vereinzelung findet statt, Vereinzellung (ein Wort Peter Gosses). Die Frage, was zwischen den beiden eigentlich ist, was sie bindet (Bindung durch Konflikt), wird übertönt durch einen Wortwitz („Bier“) und den Ruf nach erneutem Gesäuf. Auch dem Freund [und Dichterkollegen Richard Leising, geb. 1934 in Chemnitz; d. Hg.] gegenüber ist nicht Deutung, nur Andeutung möglich; freilich wird dann Wesentliches erzählt, aber im Ton der Belehrung: nicht Gespräch entwickelt sich, sondern Report.
Dieses Fremdsein wird gesteigert durch ein weiteres Angebot, durch einen großen Kunstgriff, indem sich Mickel (Autor und lyrisches Subjekt sind namentlich eins) selbst kritisch sieht, und dies so souverän, daß man meinen könnte, diese Haltung unterliefe dem Verfasser: Es wird die Verkrümmung einer Frau präzise beschrieben, und während der Erzählung passiert eine weitere alltägliche Verkrümmung einer Frau, hervorgerufen (im Sinne des Wortes) durch den Erzähler: „Helga! noch zwei große“ ist das deutliche Verhalten zu Dienstboten; die Kellnerin, die es am meisten angehen müßte, ist vom intellektuellen (männlichen) Diskurs durch nicht-persönlichkeitsfördernde Beschäftigung und Status ausgeschlossen (würde sie die Merkwürdigkeit interessieren? wurde sie instand gesetzt, daß sie sie interessierte?).
Mickel stellt Fragen und Signale, indem er berichtet. Die Antworten können nicht literarische sein.
Manfred Jendryschik, 1981/82, aus Manfred Jendryschik: Anna, das zweite Leben. Prosa und andere Auskünfte. Im Querschnitt, Mitteldeutscher Verlag, 1984
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