GESANG DER DRÄHTE
Wir, die Telegraphendrähte, nie satt
durch unsere Speise, den elektrischen Impuls,
durch uns wie durch Adern die Ströme des glühenden
aaaaaBlutes
mal müde, mal rasend,
von den automatischen Fingern der Sklaven gejagt,
als ob Maschinengewehre losgingen oder die Börse
aaaaaverrückt spielte −
wir lauschen im Geiste dem Ticken der Apparate,
das unzählig von allen Seiten heranstürmt und sich
aaaaazusammenschließt
zu einem riesigen Orkan des Eifers und der Hast,
zu einem riesigen Sturm, der um den Globus heult und tobt.
Das Ticken, das durch die Wände von Büros und Stationen bricht,
mit was für einer Musik, mit welch betäubendem Wirbel umwickelt es die Welt!
Obwohl von feinen Fingern gesandt und dem Picken der Vögel gleich,
hören wir jedes Aufflammen von Mensch und Erde doch,
wenn wir seiner uferlosen Symphonie lauschen,
in der sich die klappernden Tasten in Glocken verwandeln und Alarm schlagen.
Wir hören die Schreie des Kreißens, hören das Röcheln des Todes,
hören der getrennten Liebenden sehnsüchtiges Rufen;
eine heisere Stimme stellt irgendwo Fragen, und das Entsetzen schnürt ihr die Kehle zu,
woanders erhebt sich ein Schrei dem Boten des Sieges gleich und breitet sich aus.
Wir hören die Intrigen aus Ministerien, die Befehle aus Kontoren,
Börsenalarm und Straßenrevolte und Parlamentskämpfe;
Demissionen, Stürze, Kalkulationen, Bankrotte nehmen hier Gestalt an,
Aufstieg und Fall tönen Tag und Nacht.
Wir hören Aufmärsche von Armeen, Schlachten und Heldentaten,
unhörbare Schritte der Pest, Friedensberatungen;
wir hören Streiks, Entlassungen, Sabotagen und Anarchie,
große Liebe und Haß, Treue und Verrat.
Wir hören Werke und Taten aus Gehirnen und Händen sprudeln,
wir hören den Applaus, der die Vogelspiele des Aviatikers begleitet.
Wir hören das Rascheln des Friedens wie die Schritte der Rehe im Gebüsch.
Wir hören Choräle des Entsetzens, von der Panik geweckt.
Wir hören Brände, Explosionen, Zusammenstöße von Zügen und Schiffen,
Wolkenbrüche, Fluten, Orkane, Erdbeben −
Aber auch die Beträge der Ernten hören wir, die die Erde gebiert,
des Lebens Ansturm den Tod überrollend, das Wachsen und Blühen…
Wir hören alles, wissen alles und alles kennen wir,
irgendwohin, nach links, nach rechts, nach oben und nach unten, tragen wir alles ein,
die Intimitäten des Bürgers, die Affären der Welt, die Wandlungen der Erde −
und alles, was geschieht, geschehen soll und geschehen wird,
klinge es, als ob der Globus erbrechen oder der Vogel leise piepen würde,
glühe es wie die brennende Welt oder Splitter aus Glas,
wir wissen alles schneller als der, der es erfahren soll,
und uns damit ernährend, ohne daß Schwindel uns ergreift,
bleiben wir gelassen.
Stanislav K. Neumann
Übersetzt von Jindřich Toman
Das Projekt der Anthologie, für deren Titel Auf der Karte Europas ein Fleck eine Zeile aus František Halas’ Europa-Gedicht Pate stand, hatte seine Keimzelle im Expressionismus-Schwerpunkt der Redaktionsarbeit am ersten Jahrbuchband TRAJEKT. Beiträge zur finischen, lappischen und estnischen Literatur 1981. Jahrbuch und Anthologie haben sich gegenseitig begleitet und vorangetrieben, das Ende von TRAJEKT, dessen zwei letzte Bände die lettische und litauische Literatur einbeziehen, fällt ins gleiche Jahr des Abschlußprotokolls zur Realisierung des Anthologieprojekts 1986. Die bei wechselnder Beteiligung eines stetig wachsenden Mitarbeiterkreises zur Erarbeitung der Konzeption jährlich veranstalteten Symposien fanden – unter der Ägide des Europäischen Übersetzer-Kollegiums – in Straelen/Niederrhein, später im engeren Kreis und kurzfristiger in Berlin (West) statt.
Die Frage nach den Wirkungen des Expressionismus in den einzelnen osteuropäischen Ländern führte zur Verwerfung des Begriffs. Angesichts der unter keinen Begriff zu fassenden Pluralität in jeder der einzelnen Literaturen einigte man sich darauf, nur mehr von avantgardistischen Strömungen zu sprechen. Mit dem Ziel einer Befragung und Sichtung des konkreten Textmaterials im Blick auf die Überwindung der Konventionen, den Ausbruch aus der Tradition – den geglückten Versuch einer radikalen Innovation innerhalb der verschiedenen, theoretisch fundierten ästhetischen Strömungen. Aus dem Textmaterial ergab sich zwangsläufig die zeitliche Abgrenzung. Eine Zeitspanne von den Ausläufern des Symbolismus und seiner – wenn auch nicht ausnahmslosen – Überwindung im Weltkriegsjahrzehnt bis hin zur deutlichen Zäsur im Innovationsprozeß 1930.
Was sich nachträglich, protokollarisch festschreiben läßt, hält fern vom Impuls, ohne den schließlich nichts in Bewegung gekommen wäre. Ihn zur Sprache zu bringen aber muß schwerfallen. Zwar gab es die gegenseitige Versicherung des auf unabdingbare Notwendigkeit sich berufenden Engagements. Wieweit indes die nationalen Begrenzungen der am Projekt Beteiligten zu Überschreiten wären, blieb und bleibt wohl fernerhin offen, weil vor allem auch an die Frage umgreifender Kompetenz geknüpft. Der geographische Umriß des zu erfassenden Bereichs ergab sich von Anfang an aus historischer Sicht im Blick auf die Entstehung oder Neukonstituierung der osteuropäischen Staaten im Terrain zwischen den zwei Jahrzehnte später zur Konfrontation erstarkten Weltmachtanwärtern Deutschland und Sowjetunion. Eine Optik, deren Sinn das Ergebnis des komparatistischen Versuchs der Zusammenschau zu bestätigen hatte. Wobei Abstriche nicht zu vermeiden waren. Das gilt für die ukrainische, belorussische und – soweit deren Berücksichtigung in Frage gekommen wäre – für die jiddische, rumänien- und ungarndeutsche und die sorbische Literatur. Im Norden blieben die übrigen skandinavischen Literaturen, im Süden die griechische und albanische ausgegrenzt – nicht zuletzt auch wegen des zu späten, mit der Konzeption des Anthologieprojekts nicht mehr zu vereinenden Zeitpunkts ihres Bruchs mit der Tradition. Die im Zusammenhang der vierzehn erfaßten Literaturen zwischen den avantgardistischen Aufbrüchen zwar nicht so einschneidenden, aber deshalb zum Teil kaum weniger auffälligen Zeitunterschiede sind als Indiz dafür zu nehmen, daß bei aller konkret zutage tretenden Gemeinsamkeit der Exponate immer zugleich auf etwas zurückzufragen ist, was ihre über den Zaun gesehn fremdartige, eigengeschichtliche Kapazität ausmacht.
Das gemeinsame Abenteuer der Exkursionen zur Erprobung des Terrains von Literatur zu Literatur läßt sich immer wieder nur als Abfolge erster Gehversuche rekapitulieren. Was sich schließlich darbot, das zusammengetragene Textmaterial, zwang für seine Sichtung zur Simulierung einer aufs Ganze gesehn nur nachträglich denkbaren Situation des Miteinanders der osteuropäischen Poesien. Die avantgardistischen, in ihrer Tendenz internationalen Literaturzeitschriften von Belgrad bis Helsinki/Helsingfors blickten mehr oder minder nur zufällig über den Zaun der wie sie dem Zwischenbereich zugehörigen Länder. Gemeinsam war ihnen der auf die anerkannt großen kulturellen Zentren sich richtende Blick. In Moskau und St. Petersburg/Leningrad, in Paris und Berlin hätte man sich treffen können. In der Regel aber fand die Begegnung, wenn überhaupt, ohne sichtbare Auswirkung statt. Demnach wäre an den versammelten Texten etwas in Erfahrung zu bringen, was erstmals im Prozeß ihrer Gliederung bewußt zutage treten konnte. Wie dieser Irrealis zu nehmen ist, bleibt vorderhand utopisch imaginativem Denken anvertraut im Zeitbezug auf gestern und heute. Aber vielleicht doch entschiedener orientiert an György Konráds Bestimmung Östliches Mitteleuropa als an Giselher Wirsings neu aufgelegtem Zwischeneuropa-Begriff.
Das Textmaterial hatte letztlich selber zu bestimmen, wie der Prozeß der Gruppierung und Strukturierung in Fluß zu bringen sei – was auf eine Verselbständigung des Vorgangs hinauslief, die zu erläutern eingestandenermaßen den Horizont des Intendierenden überschritte, das Intendierte im Gehölz tauber Nüsse verfehlte. Zu Protokoll zu geben war, daß bei aller Verschiedenheit der sprachlichen Erfassung von Realität zwischen topographisch wie entstehungsgeschichtlich zum Teil weit auseinandergelegenen Gedichten überraschende motivische und poetologische Gemeinsamkeiten zutage traten. Aus arbeitsökonomischen Gründen ließ man sich zunächst von rein thematischen und ästhetischen Gesichtspunkten leiten. Die einleuchtende Abfolge und Kontur der einzelnen Textgruppen konnten sich nur zögernd nach und nach gemäß dem auf Zufälle angewiesenen Zuwachs an Textmaterial ergeben. Hinter den zuletzt zusammengestellten, aus dem Textkorpus entnommenen Zwischenrubriken verbergen sich Arbeitstitel wie: 1 Poetologie 2 Existentielle Situation des Ich 3 Mythos und Geschichte 4 Krieg 5 Politisches Engagement 6 Technik 7 Großstadt 8 Dinge des Alltags 9 Soziale Sympathie 10 Erotik 11 Metaphysik 12 Landschaft 13 Folklore und Exotismus 14 Sprachexperimente 15 Narrative Gedichte.
Die Anthologie präsentiert zum überwiegenden Teil Neuübersetzungen und darüber hinaus vielfach erstmalig übertragene Texte, die in einigen Fällen selbst in der Originalsprache in Vergessenheit geraten und bis heute noch nicht ohne weiteres zugänglich sind. Eine Beschränkung auf bereits vorliegende Übersetzungen in Zeitschriften, Anthologien und Einzelbänden konnte schon deshalb nicht genügen, weil an ihnen die Komplexität und innovatorische Radikalität der Ausgangstexte allzu oft nur unangemessen zum Ausdruck kommt. Die Nachdichtungen der Auswahl aus dem Lettischen, Litauischen, Tschechischen, Slowakischen, Ungarischen, Slowenischen, Kroatischen, Serbischen und Bulgarischen basieren zum Teil auf Interlinearversionen.
Zu erinnern sind zahllose Gespräche und Diskussionen auf Reisen durchs östliche und westliche Mitteleuropa, im Baltikum und auf dem Balkan. Von Anfang an war daran gedacht, die einzelnen Literaturen auch für sich in ihrem nationalen Kontext zu Wort kommen zu lassen. Das Projekt einer entsprechenden, der Anthologie angegliederten Essaysammlung zusammen mit einer Dokumentation programmatischer und poetologischer Texte aus den wichtigsten Zeitschriften der literarischen Avantgarde der betreffenden Länder mußte allerdings zurückgestellt werden. Die gesammelten Einblicke aber verhalfen zur notwendig beweglichen Kritik der Wertungen im Prozeß der Gedichtauswahl, zum wiederholten Überdenken der Relation zwischen einer Repräsentanz aus der Sicht nationalgeschichtlicher Eigengesetzlichkeit und dem Stellenwert im erstellten Kontext.
Ein Ausgleich der verschiedengelagerten Interessen war freilich nur annähernd zu erzielen. Neue Akzentsetzungen, überraschende Entdeckungen blieben nicht aus, um literarhistorisch kanonisierte Texte entsprechend in den Hintergrund treten zu lassen, und auch eine Reihe von renommierten Autoren mußte schließlich unberücksichtigt bleiben. Die größere, über die topographische Eingrenzung hinausreichende Sicht war zudem immer auch im Blick auf einen gesamteuropäischen Zusammenhang geboten. Dabei ging es nicht zuletzt auch um die Klärung des Spannungsverhältnisses im Zeitgefälle, um Maßstäbe der Vergewisserung in heutigem Zeitbewußtsein.
Indessen war der Ausgangspunkt der Sammlung, die erste, nach Literaturen getrennte Aufstellung wieder und wieder in Augenschein zu nehmen und schließlich auch zu dokumentieren. Im Zusammenhang mit den Entstehungs- oder Publikationsdaten der Texte gesehen, kann die in den Anhang der Anthologie eingebrachte Auflistung nach Nationalliteraturen hinsichtlich der Frage nach der Bedeutung der Avantgarden in ihren eigenen Ländern erste Anhaltspunkte geben.
Die Realisierung des Projekts bedurfte der Garantie durch ein großzügiges verlegerisches Engagement. Diese war gegeben mit der Koppelung an TRAJEKT, dessen finnischer Verleger sich im Versuch einer realen Durchbrechung des westlich mitteleuropäischen Bildungszirkels für die finnische und finnlandschwedische, aber auch andere, geographisch benachbarte, ebenso marginale Literaturen konkret-utopischem Denken offen zeigte. Ohne diesen Rückhalt wäre vermutlich jedes, der vorliegenden Sammlung ähnliche Projekt im Stadium des Luftschlosses geblieben.
Der Kreis der Mitarbeiter und Gesprächspartner in Ost und West, Süd und Nord ließe sich am ehesten charakterisieren als ambulante, im Zeichen produktiver Zusammenarbeit von Poeten und Literarhistorikern koordinierte Fakultät ohne universitäre oder sonstige Subordination. Das kam der Sache zugute, hielt den Geist der Avantgarde lebendig, die Schleusen offen für einen reglementfreien Lernprozeß.
Was sich abenteuerlich anließ, blieb es bis zuletzt. Das finnische Engagement bot Gewähr für die Publikation nur mit Aussicht auf Übernahme des Objekts durch einen deutschsprachigen Verlag…
Manfred Peter Hein, aus dem Nachwort, April 1988
einer spannenden, aufregenden Forschungsreise, die 1981 auf einem Übersetzerkolloquium im niederrheinischen Straelen angeregt und in den folgenden Jahren unter wechselnder Beteiligung zahlreicher Spezialisten aus Ost und West durchgeführt wurde. Als auslösender und weittragender Impuls erwies sich das literarhistorische Engagement für die in Europa zu Unrecht vergessenen Dichter kleiner Literaturen und Literaturgruppen, aber auch die Frage, welchen Beitrag eben diese Literaturen zur Herausbildung der Moderne in Europa geleistet haben.
Dass bei solchem Anspruch die subjektive Sicht auf den einzelnen Text nicht abhanden kam, ist dem Lyriker Manfred Peter Hein zu danken, der die endgültige Auswahl und Gruppierung der Gedichte verantwortete.
Was besonders in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts, doch auch schon ein gutes Jahrzehnt vorher als Ablösungs- und Erneuerungsprozess von nie gekannter Radikalität in der Dichtkunst des „europäischen Zwischenbereichs“ zutage trat, war allein das Werk der tief in ihrer Nationalität wurzelnden finnischen, finnland- schwedischen, tschechischen, slowakischen, polnischen, ungarischen, rumänischen, serbischen, kroatischen, slowenischen, bulgarischen, estnischen, litauischen und lettischen Schriftsteller. Einige von ihnen sind inzwischen auch im deutschsprachigen Raum durch Einzelausgaben vertreten, andere in Überblicksanthologien einzelner Literaturen zu finden; die dritten aber kennt man gar nicht oder kaum mit Namen. Dies wird zweifellos eine Rolle bei der Lektüre der zum überwiegenden Teil erstmals oder neu übersetzten Texte spielen. Auf welche Weise diese Gedichte jedoch über die Ländergrenzen hinaus miteinander korrespondieren, wie sich über alle Unterschiede zwischen ausgehendem Symbolismus, frühestem Dadaismus, Futurismus, Poetismus, Surrealismus, Konstruktivismus hinweg eine organische Vereinbarung im Geistigen herstellt – das ist das eigentlich Erregende und Befreiende an diesem Buch.
Ammann Verlag, Klappentext, 1991
Der Avantgardismus in der Lyrik breitete sich zu Beginn unseres Jahrhunderts mit großer Geschwindigkeit aus, und zwar nicht nur in den Metropolen der dominanten westlichen Länder, sondern weltweit auch in denjenigen Regionen des Erdballs, die damals noch extrem rückständig waren – dies freilich überwiegend in politischer und sozialer Hinsicht und nicht so sehr im Hinblick auf die geistige Lage und die Situation der Künste.
Die Abnabelung von der konventionellen Poesie erfolgte in den ersten drei Jahrzehnten fast mit dem Ungestüm einer Naturgewalt. Und wenn es selbstverständlich auch zahlreiche nationale und lokale Varianten gab, so hatten doch die Dichter der unterschiedlichen Kulturgebiete eines miteinander gemein: sie suchten nach neuen adäquaten Ausdrucksmitteln, die den veränderten zivilisatorischen Gegebenbeiten und dem verwissenschaftlichten Weltbild Rechnung trugen. Dabei verspürten die Poeten nicht selten ein unbändiges Verlangen, dem rückständigen bourgeoisen Publikum das zu erteilen, was Wladimir Majakowski und David Burljuk 1912 in einem Manifest „Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack“ genannt hatten.
Der Gedanke einer poetischen Revolution war bereits im neunzehnten Jahrhundert aufgetaucht: in Rimbauds programmatischen Seher-Briefen und, davor schon, durch Walt Whitmans methodische Einführung von freien Versen im Gedicht.
Auf die großen bahnbrechenden Einzelgänger folgten, mit einem gewissen zeitlichen Abstand, kleine dynamische Gruppen: 1909 Marinetti und die italienischen Futuristen; dann, kaum später, die russischen Futuristen; doch auch die deutschen Expressionisten und Dadaisten; die englischen und amerikanischen Imagisten; ferner: die spanischsprachigen Creacionisten und Ultraisten, ebenso wie die brasilianischen Modernisten: und – Kulminationspunkt und Sammellinse all dieser innovationsfreudigen Richtungen – der französische Surrealismus.
Auch im nicht-russischen Osteuropa stand den jungen Poeten der Sinn nach Umgestaltung. Allerdings blieben ihre Leistungen bis heute verschattet von den glanzvollen Inszenierungen in Frankreich, Italien, England, Deutschland und den USA, diesen Kernländern abendländischen Selbstverständnisses, die gewohnheitsgemäß untereinander aushandeln, was in der Kunst Gültigkeit besitzt.
„Es mutet so an, als ob wir in dieser Welt keine andere Daseinsbestimmung und keinen anderen Existenzgrund hätten, als dem Westen zu gefallen.“ Diese bittere Feststellung, die der tschechische Kritiker F.X. Šalda bereits 1930 machte, hat immer noch nichts von ihrer Gültigkeit verloren.
Und so ist es ein verdienstvolles Unternehmen, daß Manfred Peter Hein nun eine umfangreiche Anthologie der osteuropäischen Moderne vorlegt: ein Kompendium, das in durchweg zweisprachiger Präsentation und themen-zyklischer Anordnung Gedichtbeispiele zugänglich macht aus Finnland, dem Baltikum, diversen slawischen Ländern und Ungarn.
Der Titel Auf der Karte Europas ein Fleck ist einem Gedicht von František Halas entlehnt, und er will assoziieren: auf der Karte Europas ein „weißer“ Fleck. Tatsächlich sind selbst dem Kenner moderner internationaler Poesie längst nicht alle Namen geläufig, die hier zu einem Ensemble vitaler und ausdrucksstarker Stimmen vereint wurden. Die Zeit zwischen 1900 und 1930, die das Buch facettenreich widerspiegelt, war eine Epoche technischer Umwälzungen, und die Lyriker versuchten, auf die allgemeinen Erschütterungen zu reagieren – durch eine Feinabstimmung ihrer Stilmittel und die thematische Bewältigung der neuen Gegebenheiten.
So schrieb zum Beispiel Henry Parland, ein finnschwedischer Dichter, der schon 1930 im Alter von nur zweiundzwanzig Jahren starb, mit seinem Gedicht „Benzin“ einen Text, der gleichsam „per du“ mit den Erscheinungen unserer mechanisiertmobilen Wirklichkeit umging:
Ich bin ein großer Gott
mein Preis ist 3,40 der Liter
und die Menschen schlagen einander tot
meinetwegen.
Huii!
Wenn das Feuer mich küßt
und das Eisen bebt: Leben!
Dann
weiß ich
warum ich solange
geträumt hab
unter der Erde.
Anfänglich herrschte eine Tendenz zum fröhlich-verspielten Experiment vor. Doch in den von Krisen geschüttelten dreißiger Jahren wich die schöne Zwecklosigkeit der roaring twenties einer angestrengteren Haltung, in der sich surrealistische Schreibpraktiken mit marxistischen Vorstellungen verbanden, die sich häufig auf den Dogmatismus der sowjetischen Kulturpolitik ausrichteten.
Zunächst jedoch war die Dichtung lebendig, ausgelassen, hemdskremplig gewesen – voll sprühender Einfälle und guter poetischer Laune. Wie ihre transatlantischen Brüder im Geiste, die argentinischen Ultraisten, glaubten auch die jungen Lyriker Osteuropas, daß „unter der Sonne alles vollkommen neu ist. sofern man es mit zeitgenössischem Blick betrachtet und in aktueller Akzentuierung zum Ausdruck bringt.“ Die AWANGARDA-Bewegung in Krakau und der Poetismus in Prag – das waren die beiden wohl bekanntesten Zusammenschlüsse in Osteuropa, wo es zwar auch Autoren gab, die sich näher an die Überlieferungen hielten, doch wo die wagemutigsten Poeten westlichen Wegbereitern um nichts nachstanden.
Da wäre der Tscheche Jaroslaw Seifer, zu nennen, der, noch weit entfernt von den hohen Wellen der Nobelpreis-Ehrung, in seiner avantgardistischen Frühphase eine nautische Phantasie entwickelte, die – Böhmen liegt, dem englischen Magier William Shakespaare zufolge, ja bekanntlich am Meer! – einfach ihre Sehnsuchtsfühler ins Blau und Ferne ausstreckte, welt-hungrig und abenteuer-trunken:
DER STEUERMANN abends durch marseille schlendernd
an den schuhsohlen noch den straßendreck von singapur.
Während der deutsche Leser einige Dichter wie die Finnschweden Henry Parland und Edith Södergran, den Pole Julian Przyboś, die Tschechen František Halas, Vítĕzslav Nezval, Jaroslaw Seifer: und Jiří Wolker sowie den Ungarn Attila Jósef bereits durch Auswahlbände kennt, sind ihm andere Autoren total unbekannt. Etwa der Rumäne F. Brunea-Fox, ein Illusionist und Kaskade dadaistischer Spielart. Ferner der Lette Aleksandrs Čaks, von dem Manfred Peter Hein sagt, er sei „ein provokanter Vetter des Flaneurs Henry Parland“. Oder der Finnschwede Rabbe Enckell, der auf der Klaviatur der Nerven die dissonanten Melodien des technischen Zeitalters zu spielen versteht und der uns zudem mit einem gewandelten Natur- und Poesieverständnis zu konfrontieren weiß:
Die graue Patina der Zeit
kann ich nicht kopieren.
Ich liebe alles was neu ist und unnachahmlich.
Ich male die Erde
mit dem glänzenden Firnis der Frühjahrsschmelze.
Der scharfe Geruch von frischgestrichenem Holz
wird spät erst aus meinen Werken weichen.
Auch der Slowene Srečko Kosovel, gleichfalls ein Frühverstorbener, bliebe zu entdecken – wie überhaupt noch manch anderer Poet in der weiten Landschaft Osteuropas.
Hans-Jürgen Heise, die horen Heft 166, 2. Quartal 1992
Frank Schirrmacher: Seit damals kommt der Schmerz immer wieder
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.9.1991
Michael Braun: Poetische Botschaften aus Sarmatien
Basler Zeitung, 9.10.1991
Hans-Jürgen Heise: Europas Verdrängungen
Stuttgarter Zeitung, 31.10.1991
Johannes Jetschgo: Den Westen bei den Rockzipfeln packen
Salzburger Nachrichten, 14.12.1991
Andreas Breitenstein: Das zweite Licht der Welt
Neue Zürcher Zeitung, 26./27.1.1992.
Ursula Krechel: Luftwege und unbekannte Landwege der Poesie
Süddeutsche Zeitung, 1./2.2.1992
Cornelia Staudacher: Stimme des unverwechselbaren Augenblicks. Ein Museum der osteuropäischen modernen Poesie
Der Tagesspiegel, 2.2.1992
Pertti Lassila: Euroopan reunojen runous loi yhteyttä yli rajojen
Helsinigin Sanomat, 8.2.1992
Hansres Jacobi: Osteuropäische Lyrik 1910–1930
Der kleine Bund, 14.3.1992
Ilma Rakusa: Alles, alles ein Teil des Nichts
Die Zeit, 3.4.1992
Matthias Ulrich: Zur Poetik des Entdeckens
Flugasche, 1992, Heft 4
Thomas Terry: Die osteuropäische Avantgarde neu entdeckt
St. Galler Tagblatt, 11.5.1992
Beat Mazenauer: Wiederentdeckte Schätze der Avantgarde
Luzerner Zeitung, 24.7.1992
Peter Luthersson: De vittra revoltörerna i öst
Sydsvenskan, 4.8.1992
David McDuff: Reading the map of Europe
Books from Finland, 1992, Heft 4
Wolfgang Schlott: Auf der Karte Europas ein Fleck
Osteuropa, Heft 8, 1993
Andreas F. Kelletat/ Bernd Rüther (Hg.): Jubelzwerg. Zwiebelzwergin erikoisnumero. Manfred Peter Hein zum 50. Geburtstag
Zwiebelzwerg Company, 1981
Andreas F. Kelletat: Ein Deutscher Dichter aus Finnland
Ausblick (Lübeck), 1991, Heft 1/2
Gudrun Partyka u.a.: Trifft man sich, in welchem Zustand, an welcher Stelle der Welt. Manfred Peter Hein zum 60.
Stuttgart, Warmbronn (Privatdruck), 1991
Martin Ebel: Ich will zurück zur dunklen Seite des Monats
Neue Zürcher Zeitung, 25.5.2001
Hermann Wallmann: Fluchtfährten
Süddeutsche Zeitung, 25.5.2001
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