KULISSE
ich zeichne Punkte Fixsterne ein in die nacht-
geschwärzte Fläche
aaaaaaaaaaaaadahinter bewegt sich die Stadt
Augenpulk der abstürzt ins Mückenlicht
im Kopfhörer träumt eine Fliege
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaadie Beine gesammelt
die Augen weggeliehn
aaaaaaaaaaaaaaaaaaan meinen Versuch
aaaaaaaaaich spähe hinüber mit ihren Augen
ich stelle Verbindungen her
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaich nenne Wörter
in einem Atem −
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaEntfernungen
senkrechte Flächen berußt mit Nacht
die Kulisse verschiebt sich
1. Ortschaften-Städte
Darkehmen, Labiau in Ostpreußen, Stuhm in Westpreußen, Plön in Schleswig-Holstein. Ortschaften, Städte, Namen aus dem Lebenslauf des 1931 geborenen Lyrikers Manfred Peter Hein: Kindheit, Eltern, frühes Erleben, Schulbesuch, Staatserziehung in der Napola. Später Flucht, Fluchtwege, Fluchtquartiere. Die völlige Zerstörung einer Welt, die die glückliche und selbstverständliche Welt des Kindes war, sich aber später als ein falscher Zusammenhang herausstellte. Eine ganze Kultur wurde vernichtet, die ostjüdische; und nach ihrer sinnlosen Opferung: die Zerstörung der ostpreußischen Kultur. Eine Wunde, die Schrift werden sollte.
Darkehmen, im Dritten Reich als Angerapp eingedeutscht, Labiau, Namen einer Landschaft und einer Welt, bis zum Jahr 1989 durch die „geschichtliche Realität“ uns ferner als die versunkenste Piranesi-Welt. Für den Dichter frühe, immer gegenwärtige Zeichen. Grundwörter, Grundbilder, die auch spätere Erlebnisse nicht verwischen konnten:
und die zernarbte Haut meines Vaters
oder meine Kinderfaust in Granattrichtern
sag mir wann wir fahrn und was
ich zurücklaß ich
an den Haken hänge
ZEIT
Fleischerhaken und jeder Traum. Es gibt Schichten, in denen die Zeit stillsteht, Urstoff, aber der Weg von hier bis zu Heins eigener, unverwechselbarer Schrift ist weit gewesen.
Bad Wildungen, Marburg, München, Göttingen und schließlich Espoo, eine Nachbarstadt von Helsinki. Nach dem Krieg wurde Böhne, bei Bad Wildungen in Hessen, wo Manfred Peter Hein das Abitur machte, der vorläufige Wohnsitz. In den 50er Jahren bis zum Staatsexamen 1958 folgte das Studium der Germanistik, Geschichte, Kunstgeschichte und Finnougristik in Marburg, München, Helsinki und Göttingen; 1958 die Übersiedlung nach Finnland, wo Manfred Peter Hein seitdem lebt.
Warum hat Manfred Peter Hein die Bundesrepublik verlassen und Aufenthalt in einem Land an der europäischen Peripherie gewählt? Sein Anfang als Dichter in Deutschland versprach doch einiges, ein Gedicht war in Walter Höllerers legendärer Anthologie Transit erschienen. Eine Antwort auf diese Frage verbietet sich Hein:
Irgendwo muß man leben, ob in Freiburg, ob im Ländchen Waldeck, wo ich auch leben könnte, wenn ich dort geblieben wäre (…) ich wehre mich gegen das Wort Exil, denn das ist politisch festgelegt. Ich vermeide das Wort Exil. (Selbstauskunft 1984)
In diesem Text deutet Hein auch an, daß die Bundesrepublik für ihn nie „Heimat“ gewesen sei. Dafür gab es in der Bundesrepublik der 50er Jahre genügend Gründe. Bei den Intellektuellen der Adenauer-Ära überwogen Skepsis und Ambivalenz gegenüber dem geistlosen politischen Klima mit seinen eindeutigen Freund-Feind-Bildern und einer „Vergangenheitsbewältigung“, die eher durch persönliche und geschichtliche Verdrängungen charakterisiert war. Doch die Frage nach der Wahlheimat Finnland läßt sich nicht allein auf die geistig-politische Situation der 50er Jahre oder eine glückliche Wende in der Biographie Heins reduzieren.
Die Einsicht in die eigene Geschichte und in die Nachwirkungen der Zeit zwischen 1933 und 1945 ist bei Hein schmerzvoll gewesen: die Figur des Vaters, aktiver Mitgänger im Dritten Reich, Angestellter beim Königsberger Institut für Osteuropäische Wirtschaft, im Krieg Organisator des „Genesendensportwesens“. „Er hatte Angst, ich könnte scheitern, so wie er und sein Deutschland gescheitert waren. Er erhob mich zum Gott und zerrieb mich zu nichts. Ich war nahe daran, zu seinem heimlichen Scharfrichter zu werden. Ich mußte den Haß auf Deutschland verlernen, um hinter der Versteinerung des Vaters noch etwas anderes zu sehn als trübsinnig aufrecht verkrampfte Gemütstiefe. Finnland verhieß mir Abstand vom eigenen Dilemma“, heißt es 1986 in einem autobiographischen Text. Hein versuchte aus dem Kreis nie beantworteter Fragen auszubrechen, sich loszureißen, um zu einem Neuanfang zu kommen, der möglichst nichts mit der Wunde „Deutschland“ zu tun hatte. Daß Finnland nicht das Gelobte Land war und die Utopie nicht einlösen konnte, hat Hein erst später erfahren, was mit der Einsicht in die Unwiederholbarkeit der eigenen Kindheit zusammenhängt, mit der Erkenntnis, daß die finnische Geschichte, obwohl auf einer anderen Ebene, der deutschen Geschichte an Komplexität kaum nachsteht.
Finnland, was hatte ich in diesem Land zu suchen, in diesem Land verloren. Das war beim Wort zu nehmen. Und bedeutete Provokation und Utopie zugleich. Etwas ans eigene Sprachufer bringen, bedeutete nicht nur Entdeckung von Verborgenem, nicht ohne weiteres Zugänglichem, es führte bei offenem Blick auch zum Umdenken. (1986)
Erst durch die Bedrohung der eigenen Sprache und im Prozeß der doppelten Entfremdung zwischen Deutschland und Finnland ist Manfred Peter Hein zu dem Dichter geworden, der er heute ist.
Es ist eine bittere Pointe, daß Hein von der literarischen Szene der Bundesrepublik isoliert wurde, als er seine dichterische Sprache und besondere Diktion fand. Anfang der 60er Jahre waren seine beiden ersten Gedichtbände Ohne Geleit, 1960, und Taggefälle, 1962, bei Hanser erschienen und von führenden Kritikern und Dichtern wie Karl Krolow und F.C. Delius lobend besprochen worden. Harald Hartung hat später die beiden ersten Sammlungen als „kunstgewerblich“ charakterisiert. Als Urteil ist dies wohl übertrieben, denn in Taggefälle gibt es Gedichte, die in Metaphorik und Thematik der späteren sprachlichen Konzentration vorgreifen. An dieser Stelle soll nur auf die Gedichte „Steine und Gras“ und „Ein nichtiger Vorgang“ hingewiesen werden. Hein hätte seinen anfänglichen Sprachstil bewahren können, um sich dadurch einen Platz im literarischen Establishment zu sichern, konnte sich aber nicht mit bloßer Fortsetzung einer Tradition begnügen, die schon Anfang der 60er Jahre Erschöpfungserscheinungen zeigte. Die Einsicht in die Schwäche einer modischen Modernität führte zur Revision und Ausräumung des dichterischen Vokabulars: Er verzichtete auf die Traklsche Einfärbung der Adjektive und gab sich nicht mehr mit einer selbstgenügsamen poetischen Logik in der Tradition Benns zufrieden.
Finnland war auch in dieser Hinsicht eine Scheidelinie. Die Poesie Heins durchlief hier eine ganz eigene Entwicklung. Der Aufenthalt führte zu einer vertieften Reflexion der Möglichkeiten der Sprache überhaupt und zu einem nagenden Zweifel daran, was die poetische Sprache, vom neuen Standort aus gesehen, ausdrücken könnte. Wenn die eigene Sprache bedroht ist, gewinnt das einzelne Wort an Bedeutung. Es muß abermals ertastet, geschmeckt und gefühlt werden, wenn der alltägliche Fluß der Muttersprache fehlt. Möglicher Zweifel wird von keinem selbstverständlichen Sprachkontext, wäre er auch nur beliebiges Reden, gedämpft. Jedes Wort muß im poetischen Prozeß auf seine Bedeutung hin geprüft werden. Die Poesie, die in den Jahren von 1962 bis 1982 entstand, ist sorgsames Destillat dieses Prozesses, ist „Gegenzeichnung“.
Was Gegenzeichnung von den beiden früheren Sammlungen unterschied, war, daß das lyrische Ich nicht mehr von der Tradition der westeuropäischen Moderne verdeckt wurde, sondern seine Autorität aus einer anderen Tradition der Moderne bezog, nämlich der östlichen:
Ich bin frei,
und rede
zuende, halte den Atem,
senkrechte Sonde,
ins Licht.
Ein Zitat von Ossip Mandelstam wurde zum Motto für Gegenzeichnung:
……….,
sondern es ist ausgegraben aus der Erde, wie das versteinerte Weizenkorn.
Mit diesem Zitat wird dreierlei signalisiert. Die Tradition innerhalb der literarischen Moderne, zu der sich Hein bekennt; die Art des künstlerischen Schaffensprozesses; die besondere Position im literarischen Bewußtsein der Bundesrepublik. Heins Werk war fast zwanzig Jahre lang bis zur Auszeichnung mit dem Peter-Huchel-Preis 1984 so gut wie unbekannt.
Trotz der Nicht-Beachtung und der fehlenden Anerkennung schrieb Hein seine Gedichte. „Die Sprache ist der Glaube des Dichters und der Glaube seiner Väter, und er muß diesen Glauben bis zur Arroganz und bis zum Triumphalismus bringen, um seinen eigenen Weg zu gehen und um seine eigene Arbeit in agnostischer Zeit zu machen“, heißt es in einem Essay des irischen Dichters Seamus Heaney über Ossip Mandelstam. Diese Worte könnten Manfred Peter Hein gelten.
Die Literaturszene der 70er Jahre bezichtigte die Gedichte Heins einer Autonomie, die sie so selbst nicht wollten. Der bloße Verdacht des Hermetischen bedeutete damals Nichtbeachtung und Totschweigen, und die ganze westeuropäische Tradition hermetischer Dichtung wurde von der Öffentlichkeit der Bundesrepublik als historisch abgeschlossene Phase betrachtet. Damit machte es sich die Kritik im Falle Heins zu leicht, denn seit dem ersten Teil der Gegenzeichnung war es klar, daß diese auf eine sylphische Tradition zielende Kritik die Werkintention des Dichters nicht traf. Man übersah, daß Gegenzeichnung eher der östlichen Tradition der Moderne zuzuordnen war. Diese große symbolistische Tradition, die die formalen Errungenschaften der europäischen Moderne nicht aus den Augen verlor, wurde stets scharf mit den „Realitäten“ dieser Welt konfrontiert und entzog sich ihr nie. In diesem Sinne unterschied sich die Poesie Heins durch ihre Form, ihre Dichte und ihre von Rezensenten beschworene sogenannte „Unverständlichkeit“ klar von der Poesie der Bundesrepublik der späten 60er und 70er Jahre, wo die unartifizielle Formulierung und die offene Form des Gedichts die Literaturszene beherrschte, entweder in der Form politischer Lyrik oder als Ausdruck einer „neuen Subjektivität“. Der diesem Konzept zugrundeliegende „Hermetikverdacht“ führte dazu, daß die Lyrik Heins seit Gegenzeichnung grob mißverstanden wurde, indem man sie allein durch ihre Form mit einer scheinbar abgeschlossenen Phase der deutschen Lyrik identifizierte.
Ortschaften, Städte. Tallinn/Reval, Riga, Prag, Warschau, Belgrad, Sofia, Budapest. Espoo wurde zum Ausgangspunkt für Suchbewegungen, nicht nur in der finnischen Literatur, für deren Verbreitung in Deutschland sich Hein durch seine glänzenden Übersetzungen und durch das großangelegte Editionsunternehmen Trajekt Verdienste erworben hat. Dieses sich immer mehr verbreiternde Projekt führte zur Entdeckung einer noch unbekannten, aber reichen literarischen Landschaft jenseits von Oder und Neisse – eine Arbeit, die sich über 20 Jahre erstreckte und 1991 im Erscheinen der Anthologie Auf der Karte Europas ein Fleck. Gedichte der osteuropäischen Avantgarde (1910–1930) gipfelte. Diese umfassende Sammlung, die mit ihrer formalen und inhaltlichen Vielfalt die unproduktive Gegenüberstellung einer littérature pure und einer littérature engagée dementiert, wird damit auch zu einem direkten Kommentar des eigenen lyrischen Werks und seiner Tradition. Manfred Peter Hein steht zum künstlerischen Vermächtnis von Ossip Mandelstam, Edith Södergran und Johannes Bobrowski.
2. Die Unwiederholbarkeit des Zeichens
Manfred Peter Hein hat seine eigene Poesie nur sparsam kommentiert und nur einige wenige poetologische Texte geschrieben.
Es sind dem Schweigen abgerungene Texte, denn jede narrative Äußerung, jeder erläuternde Kommentar zum Gedicht stellt für Hein nur den fragwürdigen Versuch dar, das Gedicht auf Eindeutigkeit festzulegen: eine Anfechtung der Singularität des Gedichtes und ein Versuch, auf abstrakter Ebene das zu wiederholen, was schon als Zeichen im Gedicht vorkommt und unwiederholbar dasteht. Es wäre also verfehlt, von den poetologischen Texten Heins zu erwarten, daß sie ausführliche Anweisungen liefern, wie seine Gedichte zu lesen sind. Eher geben sie die Rahmenbedingungen für ein mögliches Begegnen zwischen Leser und Gedicht an, indem die Verweigerung des Gedichtes, sich auszuliefern, Anstoß wird, Ich, Welt und Sprache neu zu denken. In diesem Begegnen muß das Primat des Gedichtes respektiert werden, auch vom Dichter selbst.
Wer Gedichte schreibt, hat eine Poetik, die entweder geborgt oder selbst erarbeitet ist. Es ist nicht nur nützlich, sondern wohl auch unumgänglich, daß sich der Gedichteschreiber über die Entstehung seiner Texte Klarheit verschafft. Eine andere Sache ist die Fixierung dessen, was einer bei solcher Ermittlung zutage fördert. Die Niederschrift muß sich letztlich gegen das Gedicht selbst richten, denn der Ort, wo für Gedichte der Nachweis ihrer Existenzberechtigung erbracht werden könnte, ist nicht ausfindig zu machen. (1967)
Diese Skepsis gegenüber jeglichem diskursiven Verfahren beim Schreiben von Gedichten kann als Grundsatz der Poetologie Heins gelten. Eine nähere Bestimmung des Gedichts im Verhältnis zum begrifflichen Denken hat Hein 1962 so skizziert:
Jedes Gedicht stellt etwas in Frage, durch seine bloße Existenz. Seine Position bedeutet Vereinzelung; deshalb, weil es jenseits jeder konkreten wie abstrakten Fragestellung zum Sprechen ansetzt. Diese seine Situation stellt sich lediglich dem begrifflichen Denken als paradox dar. Alle Überlegungen zum Gedicht können nur Bezug nehmen, sie können das Gedicht als solches nicht betreffen. Es steht als Fremdkörper im Gelände eines unabsehbaren Einerleis. Es ist unverrückbar, ohne etwas von seiner Unverrückbarkeit wissen zu wollen. Es ist zugleich beweglicher und offener als seine Umgebung, besteht aber nicht auf diesem Unterschied. Es verhält sich eigenschaftslos, es ist beinahe nichts. Wie ließe sich darüber sprechen? – Am ehesten in paradoxen Formeln, die sich in ihrem zweiten Glied aufheben, in Chiasmen wie: Form ist Leere, Leere ist Form.
Die Anfechtung des Gedichts liegt darin, daß es nicht nur seine eigene Autorität behauptet, sondern seine eigene Autorität ist. Das Gedicht ist seine eigene Realität. Es ist das nicht okkupierte Welt-Zeichen in einer versprachlichten Welt, die alles daransetzt, das unregierbare Zeichen auf Eindeutigkeit festzulegen. Wenn das Zeichen nicht im Sinne der Eindeutigkeit operabel ist, sich nicht gesetzmäßig verhält, scheint es geradezu Panik auszulösen: In Worten der Alltagssprache wird es als „unverständlich“, in der literaturwissenschaftlichen Metasprache als „hermetisch“ etikettiert, um eine Nicht-Beschäftigung mit der dem Zeichen verliehenen Intention zu legitimieren. Unbeirrt von dieser Tatsache muß das Gedicht seinen Weg gehen, sich von allen externen Konventionen freihalten und den Gesetzen seiner eigenen Dynamik folgen. Deshalb steht das Gedicht frei zu dieser Welt, es schottet sich nicht ab wie die abstrakte Metasprache, die diese Welt entstellt. Das Gedicht ist ein Ereignis, nicht die Beschreibung davon. Heins Gedicht Suchbild kann in diesem Sinne als eine Poetologie in nuce gedeutet werden:
AUS DEM SCHLICK
Überm Niedrigwasser gelotete Luft
wo ich dich seh Schatten
mit mir selbst allein
Möwensturz
auf den Muschelbänken
Schalentier ich atme atme und
in welcher Sprache werd ich reden
Fraß der Schwärze im Aug
lieg ich zuckende Masse
im Morgen
Wieder und wieder
am Aufgang der Leere
such das Bild ich
In diesem Gedicht ist der poetische Schöpfungsakt wie ein Naturvorgang, der aus sich selber wächst. Als elementarer Vorgang muß das Gedicht auch in seiner Einmaligkeit respektiert werden: seine Zeichen sind unwiederholbar. Jedes Gedicht bezieht sich auf sich selbst. „Sein Ich ist die Spiegelung dessen.“ (1991) Diese Einmaligkeit muß auch vom auf das Gedicht gerichtete Fragen respektiert werden:
Alle Fragen zum Gedicht bewegen sich vor einer Zone des Schweigens. Die Fragen sollen nicht aus dem Feld geschlagen werden. Wenn sie gezielt sind, laufen sie die Fäden entlang, die das Gedicht mit der Wirklichkeit der Sprache und den dahinter liegenden Denkstrukturen verbinden. Es geht in den Antworten darum, die Fäden nicht zu verwirren, das Gedicht und seine Wirklichkeit nicht einzuspinnen. Die Zugänge zum Gedicht sind zugleich die Zugänge zur Wirklichkeit des Fragenden. (1962)
Der Schöpfungsakt des Gedichts schließt die Welt nicht aus, die konkrete Welt ist seine Voraussetzung. Dem entspricht die Skepsis, mit der Manfred Peter Hein der Frage nach dem Ort des Gedichts begegnet: „Den Ort des Gedichts bestimmen, kann nur heißen, es zu schreiben, das eine, unerläßlich in alle andern zerfallende Gedicht. Blickpunkte unterwegs – Blickschneise, Augenblick, unverwechselbar, behaust, erinnert, jetzt und hier. Nur so stimmt der Satz von Sprache als Heimat. Findet sich das ein? Ohne schon vor der Schwelle verstört, verwüstet außer sich zu geraten? Was kann noch an Wörtern sein, aus ihnen sprechen, denen bald, und wer weiß auf wie lange, ersetzt durch Attrappen, geäfft durch Schatten, die Gegenstände fehlen.
Ehe man fragt, hat die Gegend, haben die Ecken der Welt sich gemeldet. Mit der Lektion, Gelerntes weiter zu verlernen – ein Abtragungsprozeß, der nur fortschreiten kann, wie sich neu und neu bestätigt. Das hat alles seine Namen in der Genealogie Prophetie wie Topographie der Vernichtung. Dies Jahrhundert, Jahrhundert des provozierten, verheerten, verheerenden Nichts. Das Ich, unter anderen Voraussetzungen, nicht denen der Poesie, dazu da, Denken wie dessen Flucht auf den Punkt zu bringen, bleibt Registrator von Brandmalen, Menetekeln in Jahreszahlen.“ (1991)
3. Geschichte als Schrecken
den Rattenengel will ich
wieder und wieder
fliegen sehn
Zwischen Winter und Winter
1984 machte Gregor Laschen in der Zeit unter dem Titel Die Wüste ist unsre Geschichte als erster darauf aufmerksam, wie geschichtsträchtig das Werk Heins ist. In Gegenzeichnung und in verstärktem Maß in Zwischen Winter und Winter wandert die Figur des Engels durch die Gedichte Heins. Eine furchtbare Variante von Benjamins „Engel der Geschichte“ – nicht der Engel Rilkes oder Valérys −, ein Engel, dessen Gesicht sich fortwährend verwandelt: Rattenengel, Gestalt mit Wespenkopf.
Seit Gegenzeichnung ist das Werk durch einen tiefgreifenden Abtragungsprozeß geprägt. Die Isolierung Heins vom westdeutschen Literaturbetrieb der späten 60er und 70er Jahre findet hierdurch ihre Erklärung. Hein konnte sich zwar mit der Gesellschaftskritik der Oppositionsbewegung der 60er Jahre identifizieren, mit der Form der damaligen Utopie aber nicht. Er stand dem Geschichtsoptimismus, ob oppositionell oder staatstragend, fremd gegenüber. Opposition und Establishment: für beide geht der Zivilisationsprozeß, trotz aller Rückschläge, unaufhörlich weiter. Im nachhinein ist auch deutlich geworden, daß eine hintergründige Verwandtschaft zwischen den Kritikern und den Apologeten der wissenschaftlichen Rationalisierung der Welt und des technisch Machbaren besteht.
Erst im Jahre 1984 war die Zeit reif für die Wiederentdeckung dieses „deutschen Dichters aus Finnland“. In seiner Laudatio auf Hein zum Empfang des Peter-Huchel-Preises 1984 sagte Bazon Brock:
Wir haben keine andere Instanz mehr als diese Dichter, die gegen Systemansprüche als bloße Handlungsanleitungen, als bloße Pläne für ihre identische 1:1 Realisierung in die Wirklichkeit auftreten. Wir haben keine Möglichkeit mehr, zu begründen, warum wir uns (…) dem nicht unterwerfen müssen, als den Einspruch der Dichter, die eben auf der Differenzierung zwischen dem Gedachten und dem Wirklichen bestehen.
Heins Wohnsitz in Finnland und die nahen Verbindungen zu Osteuropa verschafften ihm die Möglichkeit, die Realität, auch die politische, mit anderen Augen zu sehen. Eine Randlage kann den Blick für Brüche und Widersprüche im Denken verschärfen. Eine Randlage ist weder synonym mit Provinzialismus noch mit Exotik. Vico, Herder und Kierkegaard, diese Namen sind Beweis, daß der Wahrheitsanspruch keine Angelegenheit der großen europäischen Zentren zu sein braucht und vom Rand her deren denkerische Schwäche genauer zu erkennen ist.
Geschichte als Schrecken: für Hein waren die russischen Panzer 1968 in Prag ein einschneidendes Ereignis im Nachkriegseuropa. Es bedeutete das Ende einer jeglichen Utopie, das Erlöschen eines letzten Funkens Hoffnung. Es war die Bankrotterklärung des utopischen Potentials des 19. Jahrhunderts. Eine Erfahrung, die er mit einem anderen kompromißlosen Dichter der deutschen Literatur, Uwe Johnson, teilt, der zu der Zeit in New York seine Jahrestage schrieb. Prag, August 1968. Eine Scheidelinie. Auch im persönlichen Bereich, denn der fruchtbare Austausch mit tschechischen Intellektuellen wurde bedeutend schwieriger, und gerade in diesem Schicksalsjahr war eine Auswahl von Heins Gedichten in der Übersetzung Antonin Brouseks unter dem Titel Bílá proti bílé (Weiß gegen weiß) erschienen. Es hatte den Anschein, als ob seine Lyrik in Osteuropa mehr gelesen wurde als in der Bundesrepublik.
1972 trat eine Pause im lyrischen Schaffen ein. Im dritten Teil der Gegenzeichnung, die die Gedichte 1974-82 umfaßt, wird dieser Einbruch deutlicher. Im Gedicht Behausung, das diesen dritten Teil einleitet, herrscht unvermittelt schierer Schrecken:
Namen Namen
für ***
aaaaaaaaaaaaaaaaaaMein Aushang Und Nachruf
Zerstörung des Nachrufs auf einen Portier
Namen für eine Mumie Maske
aaaaaaaaaaaim grauen Anzug aller vier Zeiten
Gopper Koppe Kaulhöxt
Panzerwange aufgestellt in der Halle
Der Tod als Fischkopf wird noch einmal mit anderen Namen wiederholt:
Groppe Gober Kaulkopf mit der Knochenkrone
Grabschrift für einen Rachen
Am Ende des Gedichts stehen die Verse: „Gedächtnis Wort an Wort hier // bei den Toten“, wobei der letzte Vers durch doppelten Zeilenabstand hervorgehoben wird. Dieses Gedicht als Ausdruck nur persönlicher Vereinsamung zu betrachten, wäre im Kontext des Werkes ein zu eng gefaßter Interpretationsansatz. „Ein gefühltes Wissen“ im Benjaminschen Sinne ist zum Durchbruch gekommen, schockartig stellt sich heraus, daß die Lebenswelt eine Totenwelt geworden ist. Der Utopieverlust wird nicht proklamiert oder melancholisch apostrophiert, Lebenswelt und Dingwelt selbst sind die Todesstarre der Utopie und rücken damit das Gedicht in die Nähe der Allegorie. Behausung drückt diese Erkenntnis als Schock aus und bewahrt dadurch eine Intensität und Wahrheit, die totalisierenden oder analytischen Erklärungen dieses Verlustes abgehen. Das Gedicht hat konstitutive Bedeutung für die Form und die Thematik, die im Gedichtband Zwischen Winter und Winter, 1987, konsequent fortgeführt ist.
Diese Intensität und formbewußte Konzentration, das „Minimalistische“, könnte als Unnahbarkeit gedeutet werden. Die Beschneidung des Kontextuellen und die alles Glatte vermeidenden Wortverbindungen bedeuten einen Gewinn – und das ist kein Widerspruch. Die Gedichte erinnern an archaische Fragmente der Vorsokratiker und besitzen wie diese durch ihre Vielschichtigkeit poetische Autorität. Durch die Chiffre hindurch schimmert eine verlorene Totalität, und das, was das Jahrhundert an Leiden, Verrat, Vernichtung gebracht hat. Immer durch dieses Ich, das das Gedicht selber ist. Die Zeilen „STIMMEN … Niederschrift / Wie eine Krankheit die mich heilen soll“, die Zwischen Winter und Winter einleiten, sind Anfang im wahrsten Sinne des Wortes. Mit den Schlußzeilen dieses Gedichts, „Es ist noch Zeit vor dem Aufstehn / es ist noch Zeit vor dem Schlafengehn // Flügel…“, fängt eine mächtige Reise an. Flügel. Das Bild des Engels. Ortschaften, Städte, Landschaften. Stätten des Unheils: Dresden, Ettersberg / Buchenwald, Warschau. Porträts des Unheils: Franz Kafka, EI Greco, Goya und Hercules Seghers. (Das Gedicht Der Talkessel ist ein Akrostichon zu einem Kupferstich von Seghers.) Geschichte als Schrecken. Als eigene Biographie, wo jene Geschichte individuell erlitten wird. Die Wiederkehr der Brandmarkung, diesmal aufgehoben in der unverwechselbaren Schrift des Dichters. Eine Schrift, die viel Unergründbares und Rätselhaftes enthält, die sich jeder analytischen Sprachkontrolle entzieht. Dieser Entzug ist zugleich ihre Anziehungskraft und ihre Herausforderung. Ihr Kern, ihre Unwiederholbarkeit:
Es gibt den Weg der Poesie, unverhohlen, ihn zu gehn, ist Entdeckung von Landschaft, Aufnahme eines Kontinuums als konkretem Gegenüber. Biographie nimmt auf und ortet Geschichte, birgt und entbirgt Mythos. Ort und Gedächtnis, Ort und Erinnerung aufgelassen zum Ort des Gedichts. Was sich ereignet, kommt zu sich selbst im Augenblick des Verschwindens. Beschreibung wäre sinnentratene Niederschrift. Der Bestand des Gedichts siedelt in der Flucht der Erscheinung.
Seine Konsistenz ist seine Geschichte, Geschichte seiner Formsprache. Wie wäre sie aufzuzeichnen, ohne einem nachträglich vorgegebenen Muster der Realisierung aufzusitzen? Form folgt dem Gesetz des Atems. Der Vers, wie auch immer gebunden, lebt aus dem Gegensatz, ist Einspruch gegen eingeredeten Rhythmus, Segel im Atemraum, gesetzt, diesen neu zu schaffen. Seine Setzung der sprachalt geübte Vorgang, die Sinne, ihr Totes zu wecken. Nicht mehr und nicht weniger als Zeichen für die Begehbarkeit einer Zone, vor welcher das Denken stockt. Entgegen aller anderslautenden Theorie bewahrt Poesie ihr Geheimnis. (1991)
Henning Vangsgaard, Nachwort, Herbst 1992
− ein guter Name in der deutschsprachigen Lyrik unserer Zeit – geht sparsam um mit seinen Mitteln. Wenige Publikationen belegen seinen dichterischen Weg. Seine lyrische Sprache, von Anfang an karg, reduzierte sich im Laufe der Jahre immer mehr auf das eine Zeichen hin, von dem aus alles möglich ist: das Wort. Er verhilft diesem Vehikel zu Bedeutung und Schönheit, das Wort, in welchem Anfang und Ende, Ausgang und Beginn, der Kosmos codiert ist. Bilder, Evokationen, Benennungen: zusammengenommen im lyrischen Satz ergeben sie Spuren, die den Leser zu Erlebnissen führen, die sich, oft verschüttet unter dem täglich anwachsenden Sprachmorast, Wegmarken und Stationen gleich, über eine unbestimmte Weite verteilen, eine Weite, die wir ebenso unbestimmt Sehnsucht nennen. Der Grundton dieser Poesie ist denn der der Melancholie einer Erinnerungsarbeit, die der Dichter für uns, seine Leser, leistet.
Ammann Verlag, Klappentext, 1993
Manfred Peter Hein, in Ostpreußen geboren, lebt seit 1958 in Finnland und ist als Vermittler der finnischen Literatur und für seine Übersetzungen mit dem Finnischen Staatspreis ausgezeichnet worden. Eines der schönsten und wichtigsten Bücher, für Lyrikleser ganz unverzichtbar, ist ihm (und dem Ammann-Verlag!) zu danken: Auf der Karte Europas ein Fleck. Gedichte der osteuropäischen Avantgarde 1910–1930. Es sind Dichter aus vielen Literaturen, die hier, 1991, für uns gutteils zum erstenmal zugänglich wurden. Hein: „Man weiß nicht einmal, was man ignoriert“.
Für seine eigene Lyrik ist Hein 1984 mit dem Huchelpreis ausgezeichnet worden. Sie ist nicht eben leicht zugänglich, dem früher hermetisch genannten Muster verpflichtet, was Hein mit leichter Ironie ausstellt: „schwärze bespringt seinen mund“, heißt es im Gedicht „vexierbild“. Und auch die Anspielungen auf den romantischen Topos „dunkles Licht“ lassen sich in diesem Zusammenhang lesen:
Licht widerruft Licht…
Schwarzes Ameisenlicht
Noch deutlicher:
Sag
das Licht
soll gehen
– das zielt gegen das Grundphantasma der „Aufklärung“, freilich mit dem Anspruch eines anderen Lichts, also nicht im Verzicht auf Erkenntnis. Heins Lyrik setzt, immer wieder auch auf Celan bezogen, ästhetisches Erkennen als ein anderes voraus:
Der Weg hält mich auf,
die Zusammenstellung von Wörtern baut
am Himmel
Seine Gedichte aus den sechziger Jahren arbeiten viel mit gestischen Fragen, die eine zu schnelle Zustimmung zu den Verständigungen jener Jahre unterbinden helfen sollen: „Was verbindet uns und unsere Häuser?“, „Hast du ein Wort für dich?“, „Wo ist der Sinn der nicht Unsinn verbreitet?“. Heins Gedichte setzen nicht nur auf die Bilder, die kühnen Metaphern, sondern ebenso auf Wörtlichkeit: „warm ist das Meer eine schlechte Vokabel“. Verfolgungen etwa sind (in den siebziger Jahren, für Intellektuelle) nicht nur eine metaphorische Angelegenheit. Doch immer wieder der Gestus des Weitergehens, Weiterlebens, so daß beides gilt: „noch würg ich / am Schlangenfraß“ und: „Was geschehn ist eben / das wird hernach sein“. Atem holen und gehen, das sind Grundgesten, die – in ihrem vielfaltigen Bezug – nicht nur versöhnlich zu lesen sind. Regelmäßig ist Dunkelheit ein Thema, als „Vorfeld zum Flug ins Vergessen“.
Alexander von Bormann, Deutsche Bücher, Heft 2, 1994
Hermann Wallmann: schwärze bespringt seinen mund
Süddeutsche Zeitung, 29.9.1993
Ernst Nef: Eine Art Wiederentdeckung
Neue Zürcher Zeitung, 21.12.1993
Michael Braun: Rattenengel der Geschichte
Basler Zeitung, 4.3.1994
Alexander von Bormann: Atem holen und gehen
Der Tagesspiegel, 7.8.1994
Francis Michael Sharp: Manfred Peter Hein. „Ausgewählte Gedichte“
World Literature Today (Oklahoma), Winterheft, 1994
Andreas F. Kelletat/ Bernd Rüther (Hg.): Jubelzwerg. Zwiebelzwergin erikoisnumero. Manfred Peter Hein zum 50. Geburtstag
Zwiebelzwerg Company, 1981
Andreas F. Kelletat: Ein Deutscher Dichter aus Finnland.
Ausblick (Lübeck), 1991, Heft 1/2
Gudrun Partyka u.a.: Trifft man sich, in welchem Zustand, an welcher Stelle der Welt. Manfred Peter Hein zum 60.
Stuttgart, Warmbronn (Privatdruck), 1991
Martin Ebel: Ich will zurück zur dunklen Seite des Monats
Neue Zürcher Zeitung, 25.5.2001
Hermann Wallmann: Fluchtfährten
Süddeutsche Zeitung, 25.5.2001
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