SCHLAFSUHLE
Der Kopf wälzt sich wälzt
die Glieder suhlt sich blättert
in Büchern Mythen −
entsorgt die Weltgeschichte
im Endzeitlager des Alls
anlässlich seines 80. Geburtstags am 25. Mai 2011.
Manfred Peter Hein veröffentlicht seit über einem halben Jahrhundert Gedichte, und fast ebenso lange lebt er als ein „deutscher Dichter in Finnland“(Bobrowski). Vielleicht ist diese Entfernung an die Peripherie des Literaturbetriebs die Ursache dafür, dass Hein noch immer ein Geheimtipp für Eingeweihte zu sein scheint. Seine Gedichte sind ins Tschechische, Französische, Polnische, Lettische, Dänische, Isländische, Finnische, Englische, Arabische, Türkische übersetzt worden – in Deutschland ist Hein, dessen Werk in der Traditionslinie Celans, Huchels, Arendts und Bobrowskis steht, immer noch zu entdecken.
Wallstein Verlag, Ankündigung, 2011
Wenige der großen Menetekel-Dichter haben die Urgründe ihres Schreibens aus dem 20. ins 21. Jahrhundert hinübergerettet. Zu denen, die sich nach wie vor als Zeitzeugen begreifen und ihre Verse dem Erinnern widmen, gehört der 1931 in Darkehmen/Ostpreußen geborene Manfred Peter Hein. Der Mahner in der Tradition Johannes Bobrowskis und Peter Huchels hat seine Prägung durch den Nationalsozialismus sowie die Flucht aus Ostpreußen 1945 in seiner autobiografischen Erzählung Fluchtfährte offengelegt. Die Gedichte aber, die er seit 1956 schreibt, sind eine einzige Gegenbewegung zu seinen jugendlichen Irrtümern und Verblendungen. Seit über 50 Jahren wirkt Hein in seiner Wahlheimat Finnland als Vermittler nordosteuropäischer Literatur.
Die Moderne Osteuropas geistert durch seine Gedichte, die sich modischen Strömungen verweigern. Gut, dass der Wallstein Verlag die syntaktisch flattriger werdenden Gedichte des nunmehr Einundachtzigjährigen noch einmal in einem Gedichtband aufhebt. Denn meistens gelingt dem Autor die beharrlich gepflegte, hoch konzentrierte metaphorische Form, in der als Chiffre jenes „Gegenlicht“ aufscheint, das das geschichtliche Dunkel erhellen und das Gedächtnis wachhalten soll. Auch in Weltrandhin setzt Hein seine Verse gegen Vergessen und Sprachlosigkeit. Er ist der am Abgrund wandelnde „Traumgänger“, der sich selbst ermuntert:
Geh und schreib nieder was
zum Schaufelrad der Kriege
irrlichtert über der Stadt
Assoziationen zu eigenen Erlebnissen weitet er im Gedicht zum Archetypus. In ihm treffen sich der konkrete historische Augenblick und die Erfahrungen aller Geschundenen.
− Warn-Dichtung zum Geburtstag: Manfred Peter Hein, dessen jüngste Poeme jetzt in einem Sammelband vorliegen, liebt in der Sprache vor allem die Lakonik. −
In einem 1987 erschienenen Lyrikband von Manfred Peter Hein taucht ein Gedichttitel auf, in dem man das Signal eines fremden Textes entdeckt. „Niemandsname“ antwortet dem Titel von Paul Celans Gedichtband Die Niemandsrose von 1963. Mit Celan teilt der im ostpreußischen Darkehmen geborene und mit Unterbrechungen seit Jahrzehnten in Finnland lebende Hein den Lakonismus einer dichterischen Sprache, die sich zu Sinnkonzentraten verdichtet und raschem Verstehen verschließt und für die der Begriff hermetische Lyrik allzu schnell zur Hand ist. Doch lässt sich ein Autor, der als Übersetzer und Herausgeber finnischer und osteuropäischer Lyrik, wie neuerdings mit Nachdichtungen lettischer Volkslieder (Germersheim 2011), der interkulturellen Verständigung dient, wirklich dem Hermetismus zurechnen?
Von Heins „einzigartigem Botendienst zwischen europäischen Literaturen“ hat Adolf Muschg in seiner Laudatio zur Verleihung des Rainer-Malkowski-Preises in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (2006) gesprochen „Hein schreibt nicht leicht…, aber seine Sprache möchte durchaus verstanden werden, sich verbreiten, etwas bewirken.“ Wie die Reflexe der Wirklichkeit unserer Jahrzehnte sich sammeln und verdichten im lyrischen Zeichen, hat der beste Kenner des Werks, Alfred F. Kelletat, Freund seit der gemeinsamen Zeit in Helsinki, im Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache (Bd. 32, 2006) gezeigt. Auch dem Dichter Hein brannte sich das Bild der einstürzenden Zwillingstürme Manhattans vom 11. September 2001 ein; er hat es aufbewahrt im Wortzeichen „Fraßbild“:
im Ätzstrahl das Fraßbild der
Skyline Manhattan
Schon die Beschießung der Buddha-Statuen in Bamijan durch die Taliban eine Woche vor der endgültigen Sprengung im März 2006 erscheint im Gedicht „Gegenstrophe“ wie eine Vorwegnahme:
Am Buddhafels bellt
das Geschütz der Taliban
die Gegenstrophe
Pulverisierter Buddha
Und vom Gedicht „Palästina, Mai 2005“ („Engel mein Flugbegleiter… / Wo bringst du mich hin / Von Checkpoint zu Checkpoint / Betonzäunen längs / Wie soll zu Mut mir sein“) hat Hans Christoph Buch einmal in dieser Zeitung gesagt, dass es „die kriegerische Zuspitzung des Nahost-Konflikts genauer nachvollzieht als das Heute-Journal oder die Tagesschau“.
Nun liegt im Wallstein Verlag unter dem Titel Weltrandhin die Sammlung der zwischen 2008 und 2010 entstandenen Gedichte Heins vor. Dieser Band betritt – mit einem Großteil der Gedichte – ein „feuersturmverwüstetes Gelände“. In mythischer Schau hoffte man aus dem Flug der Vögel den Willen der Götter zu erfahren. Die heutige Zeit steht „Im Zeichen des Neuntöters“, des kleinen hinterhältigen Würgers, der an Unerbittlichkeit große Raubvögel noch übertrifft:
Die Stimme verstellt
geübt im Lockruf Geschilp
überm Sperlingsnest.
Er erhoben hier
über sie alle im Flug
rüttelt und stößt zu
eröffnet einen Feldzug
zur Tilgung der Schädlingsbrut
Nein, die Zeichen stehen nicht günstig. Kein groteskes „Weltende“, wie es der expressionistische Dichter Jakob van Hoddis beschrieb, sucht uns heim. Aber Kräfte aus der Vorzeit brechen hervor. „Das Meer kehrt zurück“, heißt es im Gedicht „Weltrandhin“, „Springflut entrückter Zeiten / steigt an den Kuppen” und droht am “Abgrund die Häuserzeilen“ auszulöschen. Was die Giganten der Technik in China künstlich geflutet haben, durch den Staudamm der drei Schluchten am Jangtse, reißt sich los und geht oben ins Schleppnetz („Müllfischer am Jangtse“). Schlimmere Umschreibung erfährt die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko, im Gedicht „Deepwater Horizon. 20. April 2010“:
Erdölkavernen
am Urmeeresgrund
lauern auf ihren Ausbruch −
Geißeltierfaulschlamm ins Blau
des Planeten zu feuern
Kein Zweifel, die sich häufenden Katastrophen, in denen eine vergewaltigte Natur rebelliert und der industriellen Gesellschaft ihre Grenzen aufzeigt, haben den Kosmos der Sprachbilder, der lakonischen Zeichen Manfred Peter Heins verdüstert.
Der Kopf wälzt sich wälzt
die Glieder suhlt sich blättert
in Büchern Mythen −
entsorgt die Weltgeschichte
im Endzeitlager des Alls
(„Schlafsuhle“).
Dagegen hat Lyrik einen schweren Stand, die wie im Gedicht „Herbst“ noch dem Thema des Jahreswechsels Heiterkeit abgewinnt:
Sommerausverkauf
Lupinenschotenstände
bestückt mit Schnecken
Noch blüht am Rain zum
Sommerende der Rose
weißes Versprechen
Im Luftstrom über
dem Meer gen Süden treiben
die Schmetterlinge
Dringlicher erscheint es, „Niederzuschreiben / nachfolgenden Geschlechtern / den Höhlentierkreis“ („Höhlengruft“).
So ist das Buch zur großen Warn-Dichtung geworden. Mit ihm ehrt sich der Dichter, der Literaturpreise wie den Finnischen Staatspreis, den Peter-Huchel-Preis oder den Paul-Scheerbart-Preis für Lyrikübersetzungen erhielt, selbst zu seinem achtzigsten Geburtstag, den er heute feiert.
Walter Hinck, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.5.2011
Nico Bleutge: Knisternde Gedanken. Schwelbrand. Elektrische Ladung, poetische Wirkung, Funkenflug – neue Gedichtbände setzen die Wörter unter Strom
Stuttgarter Zeitung, 9. 9. 2011
Poesiegespräch: Manfred Peter Hein (Autor, Helsinki), Moderation: Nico Bleutge (Autor und Literaturkritiker, Berlin), am 27. Oktober 2011 in der Literaturwerkstatt Berlin.
Andreas F. Kelletat/ Bernd Rüther (Hg.): Jubelzwerg. Zwiebelzwergin erikoisnumero. Manfred Peter Hein zum 50. Geburtstag
Zwiebelzwerg Company, 1981
Andreas F. Kelletat: Ein Deutscher Dichter aus Finnland
Ausblick (Lübeck), 1991, Heft 1/2
Gudrun Partyka u.a.: Trifft man sich, in welchem Zustand, an welcher Stelle der Welt. Manfred Peter Hein zum 60
Stuttgart, Warmbronn (Privatdruck), 1991
Martin Ebel: Ich will zurück zur dunklen Seite des Monats
Neue Zürcher Zeitung, 25.5.2001
Hermann Wallmann: Fluchtfährten
Süddeutsche Zeitung, 25.5.2001
Klingt gut. Habe bisher auch noch nie etwas von ihm gelesen bzw. gehört.