Manfred Winkler: Im Schatten des Skorpions

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Manfred Winkler: Im Schatten des Skorpions

Winkler-Im Schatten des Skorpions

MIT DEM GEDICHT „ASSISI“ VON PAUL CELAN

Vor verschlossenen Türen
steht ein Mann der Kafka hieß,
auf dem Grautier
wiegt Franz von Assisi
sein dunkles Haupt,
Olivenbäume
verheimlichen seine Spur

Laß uns sehen
dein Gesicht
deine Blöße
deinen Wahn
alter-junger Mann

„Glanz der nicht trösten will“

Wo gehst du hin –
die Wege sind verwischt
das Leben verwaist uns schon
zerblättert die Spur

Die kahlen Bäume krallen sich
ins kalte Himmelsgrau

Wer weiß wo du sein wirst
nach einem Jahr nach zehn
wer weiß –
ein anderer Abend
eine andere Nacht
die Landschaft von Niemandmehr
oder der längste Schlaf?

 

 

 

„Die Liebe zur deutschen Sprache…“

– Der israelische Dichter Manfred Winkler. –

Manfred Winklers Lyrik lebt aus der Spannung zwischen und der Synthese von Sinnenhaftigkeit und Abstraktion, aus poetischem Drang zum Visionären und zur eigenwilligen Reflexion.
In dem Gedicht „Aus der Kölner roten Sonnenwunde“, vorletzte Strophe („Über die römischen Ruinen / vor dem Dom / breitet ein erglühter Himmel / sein Gladiatorengewand“), ist ein Stadtporträt entworfen, das aus der gleichen bilderbeschwörenden Kraft authentischen Dichtertums entstand wie die bohrende Gedankenformel der zweiten Strophe aus dem großen „Hiob spricht“-Gedicht:

Die Berge hatten ihren Hiob,
die Felder und Städte und Theatersäle,
jeder Hiob haderte mit seinem Gott,
die Geschlechterfolge der Hiobs ist endlos,
sie sind Vergangenheit und Gegenwart und
Zukunft, sie sind wie die geheime Zunft.

Und wenn die dritte Strophe des Gedichts „Wachtraum“ lautet:

Vor den Toren Jerusalems
stand Jehuda Halevi
aus dem Lanzentod erwacht
und lächelte dir
seinen Osten zu

dann ist der legendäre Tod des um 1075 im navarresischen Tudela geborenen Dichters in einer Vision erschaut, deren Unabweisbarkeit um nichts hinter der Ideendichte der Schlußzeilen von „Ich liebe, was ich zu vermissen glaube“ zurücksteht:

Ich liebe, was ich zu vermissen glaube,
und was ich glaube, trägt mich nicht mehr,
ich liebe die, auf die ich noch immer warte:
die vielen Wege von nirgendher bis nirgendhin.

Aber es kann ebenso eine Strophe aus „Die müden Kinder von Jerusalem“ bemüht werden – „Der große Westen hüllt wieder die Stadt / in rot-braune Schleier / und die Habichte kreisen / über die Hänge und Höhen“ –, um die Effizienz des Bildes gegen die sentenzhaft formulierten Interrogativsätze abzuwägen:

Wer von uns ist wieder bereit,
rosinantenhoch und sanchopansatief
den Narrenritter zu spielen?
Wer von uns in seinem Augenrund
zu untergraben die Zeit?
Wer von uns zu reichen seine Christusbacke
dem siebenmal gewitzigten Mitmenschen
zum entscheidenden Schlag?

Wer von uns?
(„Wer von uns“).

Die Bilder, in ihrer Qualität, ihrer Fülle – erste Komponente dieser Gedichte –, haben Faszinations- und Überzeugungskraft und fordern zu weiteren Veranschaulichungen geradezu auf. Wenn der Lyriker zum Beispiel von den Wildgänsen spricht, die „die Nacht auf ihre Flügel hoben“, wenn er in die „silbernde Landschaft der Olivenhaine“ hinausschaut, er „den Regen über dem Berg hängen“ sieht, die Hand der Geliebten hält, „als wäre sie mein All“, ihm ihr Gesicht wie „die Flamme aus der Dunkelheit“ entgegenkommt, oder wenn er das ahnendunkle Gebot“ in sich laut werden spürt, dann wird poetisches Ereignis ebenso lebendig wie in den Verszeilen, in denen er davon spricht, daß „von den Schultern der Karpaten das Flötenspiel noch immer ins Tal zittert“, daß „die Schatten um mich Flügel haben und brennen“, er „durch das Sieb des Tages die Körner der Nacht sickern“ sieht und über die Stadt am Berghang festhält.
Es ließen sich weitere Beispiele für die Intensität des Sinnenhaften in dieser Lyrik anführen, die vom Bild, mit dem Bild und aus dem Bild lebt.

Doch auch auf die gedankliche Substanz – die andere Komponente – sei noch einmal hingewiesen. Sie wird deutlich etwa in den Versen eines Abschiedsgedichts:

Wo du gestanden, wird niemand mehr stehen,
wo du liegst, bedeckt dich ein Stein,
wie du von uns gegangen,
wird ein Rätsel bleiben,
was du hinterlassen, wühlt sich immer tiefer ein.
(„Was uns geblieben“).

Sie ist von gleicher Eindringlichkeit in der ersten Strophe einer Meditation über Kain und Abel:

Kain und Abel sind Brüder im Blut und nicht im Geist,
Kain erhob sich wider Abel und schlug ihn tot,
Kain und Abel sind Brüder im Blut und nicht im Geist.
Jakob und Esau sind Brüder im Blut und nicht im Geist

[…]
(„Wir sind Brüder im Blut und nicht im Geist“).

Auf den beiden Grundpfeilern aller Poesie also – Bild und Gedanke – ruhen Gestalt und Gehalt, Ausdrucksweise und Aussageform der gesamten Lyrik Manfred Winklers? Es läßt sich am folgenden Gedicht beispielhaft veranschaulichen:

AUS DER KÖLNER ROTEN SONNENWUNDE

Es liefen des Himmels schwarze Hunde
aus der Kölner roten Sonnenwunde
und der Rhein spannte
lange Spiegelfelder der Türme
über seinen breiten Leib.

Jemand sprach
oder wars der Hauch
eines Staunens,
wir staunten uns fort
über die Wellen und Wege
dahin, wo das Nächtliche
immer dunklere Feste feiert
und der Täuschung Bildnis entlarvt.

Über die römischen Ruinen
vor dem Dom
breitet ein erglühter Himmel
sein Gladiatorengewand.

Von der Fußgängerzone beginnt
ein Farbenspiel der Lichtreklame
die späte Erkenntnis der Seienden
in Stücke zu reißen.
(Aus: Unruhe, München 1997)

Manfred Winkler entstammt einer wohlhabenden jüdischen Familie – der Vater war Rechtsanwalt – aus Putila. Die Kleinstadt liegt auf dem achtundvierzigsten Breitengrad – das ist etwa die Höhe Wiens – mitten in den Waldkarpaten, nur fünfundsiebzig Kilometer südwestlich von Czernowitz, der Hauptstadt der Bukowina, die von 1775 bis 1918 zur Habsburgermonarchie gehörte und 1919 durch den Vertrag von Saint-Germain dem Königreich Rumänien zugeteilt wurde, doch ihren Habitus als österreichisch geprägte multikulturelle Region noch knapp zwei Jahrzehnte lang bewahren konnte – trotz der gezielten Rumänisierungspolitik der neuen Landesherren.
1930 verlegte die Familie Winkler ihren Wohnsitz nach Czernowitz, kehrte aber schon 1932 nach Putila zurück. „Ich allerdings ging 1936 nach Czernowitz“ – schreibt Winkler in einer autobiographischen Notiz –, „um die Schule zu besuchen, und wohnte dort bei Verwandten. Im unseligen Jahre Juni 1940 – Juni 1941, das ,Russenjahr‘ genannt, wurden meine Eltern mit Bruder und dessen Frau in der Nacht vom 10. Juni 1941 im Rahmen einer riesigen Aktion der Sowjets, die die ganze Nordbukowina erfaßte, von Putila ausgehoben und weggebracht. Ich entkam dieser Aktion nicht, wie verschiedentlich angegeben, weil ich zur ,Roten Armee‘ eingezogen wurde, sondern weil ich nicht da war.“ (Brief an Hans Bergel, 27. August 1997.)
Wenige Monate später wurde Manfred Winkler von den Rumänen zwangsverschickt, kehrte erst 1944 nach Czernowitz zurück und gelangte 1946 im Rahmen der umfassenden Repatriierung der Bukowiner Juden nach Rumänien, wo er sich in Temeswar/Banat niederließ und als Arbeiter und Techniker seinen Lebensunterhalt bestritt.
In der Tauwetterperiode nach Stalins Tod trat Winkler in Bukarest mit drei Büchern an die Öffentlichkeit: den Lyrikband Tief pflügt das Leben, 1956, die Kindergedichte Kunterbunte Verse, 1957, und die Verserzählung Fritzchens Abenteuer, 1958. Nach langjähriger Wartezeit glückte ihm 1959 die Ausreise nach Israel. Er ließ sich in Jerusalem nieder, lernte in kurzer Zeit Hebräisch, studierte hebräische und jiddische Literatur an der Hebräischen Universität in Jerusalem (1959–1963) und arbeitete danach als verantwortlicher Leiter des Theodor Herzl-Archivs und als Lektor in der Redaktion zur Herausgabe von Herzls Werken (1964–1981). Manfred Winkler, der seit 1981 als freier Schriftsteller, Übersetzer und Bildhauer in Jerusalem lebt, gehört zu den wenigen zweisprachigen Lyrikern Israels.
Die Koordinaten sind unübersehbar. Sie bezeichnen einen Lebensweg des 20. Jahrhunderts: Verlust und Zerstörung der heimatlichen Welt, Deportationen, Emigrationen, Familienzerreißung, Flucht, Sprach- und Kulturwechsel, vielfache Rückbindung an durchlaufene Stationen wie an Menschen, über Länder, ja Kontinente verstreute Spuren, unerwartete Ausblicke. Kann einer über das 20. Jahrhundert mitsprechen ohne diese Erfahrungen? –

Ich lernte Manfred Winkler 1957 in Bukarest kennen. Es kam zu einer einzigen Begegnung. Doch sie blieb so unvergeßlich, daß die Wiederbegegnung nach fast vierzig Jahren auch nicht andeutungsweise zur Verlegenheit, gar zum Problem wurde.
Aus Anlaß eines Schriftstellerkongresses in der rumänischen Hauptstadt, verwickelte mich der drei Jahre Ältere in dem gemeinsam bewohnten Hotel in ein Gespräch, das mir über die Jahrzehnte hinweg in Erinnerung blieb. Es ging um „den Menschen als das Zentralanliegen der Dichtung, gleichviel, ob er ,gut‘ oder ,böse‘, ob er ,wichtig‘ oder ,unwichtig‘ ist“. So Manfred Winkler damals. Einer von uns zitierte den Arzt Rieux aus Albert Camus’ Roman La Peste – der wohl 1947 in Paris und 1948 in Deutschland erschienen, dank der kommunistischen Zensur aber mit Verspätung ins Land gekommen war. Dem Doktor Rieux erschien es „gerecht“, daß „die Freude wenigstens von Zeit zu Zeit diejenigen belohne, die sich mit dem Menschen begnügen und mit seiner armseligen, gewaltigen Liebe. Alle aber“; läßt Camus den Doktor sagen, „die sich über den Menschen hinaus an etwas gewandt haben, blieben ohne Antwort“. Manfred Winkler gab, während wir durch das Foyer des von Beamten des Staatssicherheitsdienstes verwalteten Hotels gingen, seinem Abscheu vor „wie auch immer formulierten Ideologien“ Ausdruck. Er tat es vor einem Mann, der den gleichen Widerwillen gegen die Fixierung auf das Ideologische empfand, den er aber erst fünf Minuten vorher kennengelernt hatte.
Das spontane Vertrauen blieb. Es erhielt sich über die Trennung und die Zeit hinweg. Wenige Monate, nachdem Winkler die Ausreisegenehmigung nach Israel erhalten hatte, Dezember 1958, verschwand ich für fünf Jahre in kommunistischen Gefängnissen und Lagern. Ehe wir uns 1995 in München wiedersahen, korrespondierten wir anderthalb Jahre lang. Dabei schrieb mir Manfred Winkler Briefe, deren Inhalt mich aufwühlte: Wie er, angerührt bis ins Innerste, die Begegnung mit Israel und mit dem Hebräischen in einem Zustand des Taumels als die Wiederbegegnung mit der Welt der Väter empfunden habe. Sie war ihm über niemals gezählte Generationen hinweg in den Tiefenschichten seines Unterbewußtseins nicht verloren gegangen. Wie er sich dem Hebräischen, das er vor seiner Ankunft in Israel niemals gehört hatte, in einem Zustand der Emphase hingegeben und Gedichte von einer Eindringlichkeit geschrieben habe, von der sich Literaturkritiker veranlaßt gefühlt hatten, ihn als „das Wunder der modernen hebräischen Lyrik“ zu bezeichnen. „Es war wahrscheinlich die Freiheit“, schrieb er im Mai 1994, „und das Gefühl, im eigenen Land den Boden unter den Füßen zu fühlen. Ich war ununterbrochen inspiriert. Die inneren und äußeren Spannungen wirkten sich befruchtend aus. Ich war von der Dynamik, die im Lande herrschte, besessen.“ Und im gleichen Brief notierte er noch:

Die Liebe zur deutschen Sprache und Literatur litt nicht unter meinem Übergang zum Hebräischen, ich glaube eher, daß beide Sprachgefühle bereichert wurden. Daraus ist eine Liebe geworden ähnlich der zu zwei Frauen, da man nicht weiß, welche stärker ist. Man weiß es nicht, und vielleicht sollte man es nicht wissen.

Das ist für mich, den deutschen Schriftsteller, eine der schönsten Briefstellen von Manfred Winklers Hand. –

In Band 21, Reihe A, des Jahrbuchs für Internationale Germanistik zum Thema „Raum und Zeit bei Paul Celan“ ist der Vortrag Manfred Winklers „Die dichterische Wandlung Paul Celans“ über den ihm Nahestehenden abgedruckt – er gehört zum Aufschlußreichsten, was ich je über Celan las. Ein Dichter spricht über einen Dichter. Der Vortrag enthält aber auch einige Sätze, die Auskunft über Winkler selbst, über sein ästhetisches Credo und das Verständnis seiner Persönlichkeit geben. So wenn er an einer Stelle über Celan schreibt:

Er schöpft aus dem Erlebten, Erlittenen, aber auch nicht weniger aus dem literarischen Arsenal einiger Kulturen.

Oder wenn er über Celans späte Gedichtkonzeption festhält:

Nur noch kurzstrichige Skizzen mit unterbrochenen Linien, die der Phantasie weiten Raum lassen.

Oder wenn er die Frage, „wie weit Gedichte verständlich sein sollen“, bündig beantwortet: „Es müssen Gedichte sein!“ Dann aber vor allem im einzigen persönlich gefärbten Passus des gesamten Vortrags:

Ob ein Dichter das Monologische oder Dialogische betont, bleibt letzten Endes Theorie, solange er nicht bewußt das eine oder das andere anzuwenden versucht. Jeder echte Dichter wird, auch wenn er mit sich selber spricht, zum geistig-seelischen Sprachrohr des Menschen und der Zeit, ob er es will oder nicht. Ein gewolltes – und ich betone ,gewolltes‘ – aktives Hinwenden zum Du kann zur Unfreiheit des dichterischen Ich führen, ein engagiertes Hinwenden zu den Problemen der Menschheit im Widerspruch zur eigenen Substanz stehen. Ich habe es an mir selber erfahren, als ich, begeistert ans Heil der Menschheit glaubend, engagierte Gedichte schreiben wollte. Das Resultat war kläglich, und ich litt unter der Unfähigkeit der poetischen Aussage. In der wahren Dichtung gibt es kein Wollen, sondern nur ein Müssen.

In diesen rebellischen Sätzen – rebellisch, weil sie gegen das autoritäre Modeverdikt von der gesellschaftskritischen Literaturorientierung gerichtet sind – ist, wiewohl über Celan geschrieben, alles über Winkler ausgesagt: die Einsicht, im Selbsterleiden und in der befruchtenden Begegnung mit mehreren Kulturkreisen die Quelle der Kreativität zu akzeptieren; die Konzentration auf das Wesentliche der Aussage; die Erkenntnis vom Gebot der Unbeirrbarkeit künstlerischen Tuns; der Hinweis auf die Notwendigkeit der Freiheit von jeglichem Zwang zur Unterordnung der lyrischen „Botschaft“.
Natürlich stellt sich gerade bei einem Dichter von Manfred Winklers nachdenklicher Art – das ist hier die parallel zur Bildverdichtung immer wieder in den Vordergrund drängende Ideenbezogenheit – die Frage der Gottes- und Weltschau: Wie sieht er Gott, Natur, Mensch?
Zunächst klingt in allem, was er sagt, der Ton leise schwingender Skepsis mit. Wenn er von „verwaister Wiederkehr“ („Wie Ikone im Rauch“), vom „verwaisten Warten“ („Uferbild“) spricht, wenn von den „wilden Flaggen vergessener Begierden“ in den „gesprungenen Amphoren der Stimmen und Jahre“ („Im Autobus bei Schaar Hagai“) oder von dem „Nächtlichen“ die Rede ist, das „immer dunklere Siege feiert“ („Aus der Kölner roten Sonnenwunde“), teilt sich diese Skepsis in magischer Eindringlichkeit mit. Um so bestürzender in ihrer Wirkung dann die gottsucherischen Stellen unverkennbar alttestamentarischen Zuschnitts wie folgende:

Selig ist nicht der, den Gott straft,
selig ist der, der sich gläubig gegen
Gottes Strafe stellt, doch auch er nicht

und zwei Strophen weiter diese:

Und nun sage ich mich endgültig los,
lache über Dich Großartiger, lache so,
daß die Pfeiler erbeben, auf denen
Dein Himmel steht

[…].

Wer sich so gegen Gott auflehnt, anerkennt ihn, selbst wenn er abschließend schreibt:

Auch wenn Du mich rufen solltest Deiner Art gemäß
wie nach dem Sündenfall den ersten Menschen –
„Wo bist du?“ – werde ich nicht mehr sein.
(„Hiob spricht.“)

Pantheistische Weltgläubigkeit durchzieht viele Gedichte Manfred Winklers: „Ich liebe die Wüste in mir / und die Zweige über meinem Blick“ („Ich liebe, was ich zu vermissen glaube“), „frage nach Erde und Wald“ („Von den Menschen der allerletzte“). Wenn der Lyriker vom „Ahnen der Steine“ schreibt, oder wenn er sich „von Sternen umsonnt“ sieht („In der Bucht von Elath“), dann redet er im Grunde von Gewißheiten und Geborgenheiten, die ihn trotz innerer Spannungen und Widersprüche über jede Skepsis hinaus heben. Es ist immer die Natur – und mit wie in ihr die gleicherweise konkrete und überhöhte Heimat –, in deren Evokation er sich den existentiellen Standort schafft.

In Manfred Winkler fließen – wie sollte es anders sein – drei Kulturen ineinander. Da ist das alttestamentarisch Hebräische der Väterheimat Israel, doch ebenso das östlich Europäische des Herkunftsraumes, schließlich die Prägung durch den Geist abendländischer Kultur. Da ist Galiläa, da sind die Waldkarpaten, da ist der Kölner Dom. Da ist Hiob, die Bukowinalandschaft und Johann Sebastian Bach. Da sind Kain und Abel, aber auch der Buchenländer Paul Celan und der Don Quijote des Cervantes. Da sind Kaddisch und Elohim, die roten Haine der Karpaten, doch ebenso das Stab at Mater und Beethovens Neunte. Dies alles scheint in Manfred Winklers Lyrik in Konfigurationen auf, die aus den wie zusammenhanglos in die Gedichttexte eingestreuten Vokabeln vielschichtig aufgefächerte Geisteswelten wachsen lassen. Doch sein Vortrag lebt auch vom herben Pathos der Thora, die Wärme seiner Sprachfarben lebt von der Erdnähe der Menschen seiner Kindheitsfluren und das Formbewußtsein seiner poetischen Verlautbarung von der Tradition großer europäischer Dichtung. Die von Skepsis durchmischte philosophisch-religiöse Tiefendimension in Manfred Winklers Gedichten ist die des Rabbinertums der Halacha, wenn er schreibt:

Dort wo Geschichte sich paart mit dem Augenblick
zählen die Weisen ihre Toten,
zählen die Weisen zertrümmerte Tore,
träufeln die Weisen ihre weisen Worte in taube Ohren.
(„Dort wo Geschichte“).

Die reife Einfachheit der Verse wieder erinnert an das Volksmelos in den ostwärts fließenden Tälern der karpatischen Landstriche, wenn es fast liedhaft bei ihm heißt:

Wir kosteten unreife Frucht
in den schönsten Jahren,
in roten Wäldern,
nannten sie Herbst.
(„Wir kosteten unreife Frucht“).

Und ist nicht das Raffinement abendländischer Südseligkeit lebendig in ihm, wenn er dichtet:

Ich liege im brennenden Mittelmeerraum
und die Datteln fallen
vom morgengeröteten Saum der Berge
auf mein Gesicht.
(„Bilder“)?

Daß jede seiner Aussageebenen zugleich vom Bewußtsein der anderen, ihm ebenso vertrauten, begleitet wird, macht Winklers unverwechselbaren Stil aus. –

Der Lyriker, Bildhauer, Literaturkritiker und Übersetzer aus mehreren Sprachen Manfred Winkler lebt seit 1959 im viertausendjährigen Jerusalem, in der Stadt, in die er sich „auf den ersten Blick verliebt hatte“. Dennoch sind die Spuren der buchenländischen Ausgänge nicht getilgt – die erkennbarste: die deutsche Sprache, die dort einst neben dem Rumänischen und Ukrainischen eine Heimat hatte. Das stellt ihn in die Reihe der bedeutenden jüdischen Autoren, die aus Czernowitz oder dessen Umfeld kamen – Paul Celan, Rose Ausländer, Moses Rosenkranz, Alfred Margul-Sperber, Isaac Schreyer, Alfred Gong, Immanuel Weißglas, Alfred Kittner und all der anderen, die trotz der jüdischen Tragödie im 20. Jahrhundert an dieser Sprache festhielten. Es stellt ihn aber ebenso in den Kreis jener „deutschen Dichter aus Jerusalem“, die heute die bemerkenswerteste deutschsprachige Literatur-„insel“ außerhalb des deutschen Sprachgebiets bilden. Zu ihnen gehören so markante Gestalten wie Markus W. Bruners, ein ehemaliger Mönch, der mit einer Reihe von Buchveröffentlichungen auch in Deutschland bekannt wurde; die aus Berlin stammende, mit einer Arbeit über Bach promovierte Musikologin Magali Zibaso, die sich als Übersetzerin ins Deutsche einen Namen machte; aber auch die ebenfalls aus Berlin stammende Annemarie Königsberger und die in Wien geborene Eva Avi-Yonah. Ist unter den Frauen noch die in Nordamerika geborene und wieder dorthin zurückgekehrte Esther (Beatrice) Cameron zu nennen, die englisch, deutsch und hebräisch veröffentlichte und in Deutschland eine Dissertation über Celan schrieb, so unter den Männern der vierundachtzigjährige, dank der Liedhaftigkeit seiner Lyrik von Kennern geschätzte Rolf Radlauer. „Es gehört“, vermerkte Ruth Freund-Joachimsthal im kurzen Vorwort zum ersten Heft der deutschsprachigen Lyrikzeitschrift Lyris, Jerusalem 1985, „ein beachtliches Maß von Mut und Aufrichtigkeit dazu, die alte Muttersprache auch jetzt noch zu bejahen, zu pflegen und als persönliches Erbgut lebendig zu erhalten.“ Über zwei Dutzend Autoren kamen in den fünf Lyris-Heften (1985, 1986/1987, 1988, 1990, 1993), die bisher erschienen, mit gut über zweihundert Texten zu Wort. In der Sprache dieser „deutschschreibenden israelischen Autoren“, notierte Margarita Pazi im Vorwort zur Anthologie Spurenlese (Bleicher Verlag, Gerlingen 1997), „zeichnen sich nicht nur die durch ihre Herkunftsländer bedingten Unterschiede ab, sondern auch von ihren Kindheits- und Jugendsprachen herrührende Apperzeptionsdifferenzen der Umwelteindrücke“.
Unter den neun Buchtiteln, die Winkler bisher veröffentlichte, finden sich vier hebräische und zwei Lyrikbände in englischer Übersetzung. Zahlreiche Gedichte von Manfred Winkler erschienen in Anthologien und in Periodika in Israel, Deutschland und den USA. Mirrored Darkness heißt ein 1983 bei The-Claudron-Press in St. Louis erschienener Band. Gespiegelte Dunkelheit: was an Licht und Schatten, an Helle und Finsternis im dichterischen Werk dieses Mannes zusammenfließt und ineinanderwirkt, hat dank der künstlerischen Eloquenz die Kraft des Trostes. Das poetische Bild als beseelende Kraft und der Gedanke als unverzichtbare Orientierungsinstanz – beide in ihrer uralten Bedeutung jenseits artistischer Koketterien – sind die Maßstäbe eines Werks, das zu den bedeutenden Leistungen deutschschreibender Juden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehört.

Hans Bergel, Nachwort

 

Gedichte voller Weisheit

Die Poesie des in Jerusalem lebenden Manfred Winkler, dessen Angehörige von den Nazis ermordet wurden, ist vom reinen Berichten ebenso entfernt wie von der Hoffart des gewollt Dunklen. Winkler ist ein alter Mann voller Weisheit und mit wunderbaren Gedichten, die mit jener Weisheit niemals prunken.
Im klassischen China pflegte man Leuten, die einem verhasst waren, ein „interessantes Leben“ zu wünschen. Nicht wenige, die dann ein solches hatten – und vor allem: überstanden – glauben seither, als Lohn für so viel erlittenen Schrecken einen privilegierten Zugang zur Göttin der Poesie zu besitzen. Ein packender Zeitzeugenbericht ist jedoch noch lange kein Roman oder ein Gedicht.
Das muss keineswegs eine Abwertung bedeuten – im Bereich lebensweltlicher Erfahrung existieren keine Genre-Hierarchien. Wer allerdings das Wagnis eingeht, Lyrik zu schreiben, sollte sich bewusst sein, dass – bei ausreichendem Reflexionsbewusstsein – ein Erlebnis zwar durchaus zu einer Erfahrung werden kann, jedoch nicht sofort automatisch auch zu einem Bild, einer Metapher, zu einer liedhaften oder symbolgesättigten Zeile, die „das, was passiert“ auf eine andere Ebene transformiert.
Genau dieses Problems ist sich der aus der Bukowina stammende und seit 1958 in Jerusalem lebende Manfred Winkler bewusst, wenn es in einem seiner Gedichte nahezu beschwörend heißt:

Sage das Unsagbare das Ungesagte sage es auch
doch das Zweigesagte sage nicht.

Sage also nicht, dass Du den Terror des Jahrhunderts kennst, dass Familienmitglieder in der Shoa und in Stalins Gulag ermordet wurden, dass Du nicht nur Hitlers Wahn, sondern auch die kommunistische Repression im Nachkriegs-Rumänien erlitten hast, ehe die Ausreise nach Israel glückte: Sage es anders.
Manfred Winkler, inzwischen 85 Jahre alt und noch immer als Bildhauer, Lyriker und Übersetzer tätig, ist deshalb ein zutiefst skrupulöser Zeitgenosse. „Überall auf der Straße begegnet uns / das Wörtchen aber“ schreibt er, der in den sechziger Jahren Paul Celan ins Hebräische übertrug und von dessen Sprachskepsis geprägt wurde – aber eben auch vom Wunsch des Miteinander-Sprechens in noch nicht fad gewordenen, noch nicht verratenen Worten.

Wenn die Zeit kommt
die unerwartete
wenn der Abend vorzeitig
in den Morgen fällt
wenn man woanders sagt
dass Zeit ist
wenn man nichts sagt
Wenn man auf Augen wartet, die nicht mehr sind –
wenn man verstummen möchte
und es nicht kann
und wenn man verstummt
und es nicht mehr will

Diese Poesie, nun endlich in einem schön gestalteten Band den Lesern in Deutschland zugänglich, ist vom reinen Berichten ebenso entfernt wie von der Hoffart des gewollt Dunklen. Ein alter Mann voller Weisheit und seine wunderbaren Gedichte, die mit eben jener Weisheit niemals prunken.

Jemand döst vor sich hin
in den kaltgewordenen Tee
im Café Rowal im Zentrum Tel Avivs
Jemand hört der heimkehrenden Herden
karpatisches Glockenspiel.

Marko Martin, Deutschlandradio Kultur, 11.1.2007

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Begegnung 12

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