MIT DEM DICHTER
Ich höre die Axt hat geblüht
Celan — „Schneepart“
Wie weit, wenn nicht bis zur Schwelle
reicht dein Blick
und in sich zurück –
von Schwelle zu Schwelle,
durch das Tor
ins zeitlos erworbene Heim
vom freudlos verschütteten ich.
Dort wird keine Axt erblühen
Kein Stein,
kein Dichter mit Flügeln des Albatrosses
vom Eifelturm träumen
in den trägen Gewässern der Seine.
עם המשורר
שָָׁמַעְתִִּי שֶֶׁהַגַַּרְזֶן פּוֹרֵחַ
צלאן – ״חלק-שלג״
הֵיכָן אִם לֹא עַד לַסַַּף
הוֹלֵךְ מַבָָּטְךָ
וְ שָָׁב אֶל עַצְמוֹ
מסִַּףַ אֶל סַף
מבִַּעַדַ הדֶַּלֶתֶ
אֶל הַ בַַּיִת שֶֶׁנִִּרְכָָּשׁ מֵעֵבֶר לַזְְּמַן
אֶל הָאֲנִי שֶֶׁנֶֶּעֱדַר יְדִידִים
שָָׁם לֹא תִִּפְרְחוּ שׁוּם אֶבֶן
וְשׁוּם גַַּרְזֶן
בְְּתוֹךְ כַַּנְפֵי־הָאַלְבַַּטְרוֹס
לֹא יַחְלֹם עוֹד מְשׁוֹרֵר אֶל מִגְ דָָּל אַיְפֶל שֶֶׁלּוֹ
בְְּמֵימַיו הַזּוֹחֲלִים שֶֶׁל הַסֵֵּין
Die Herausgabe der deutsch- und hebräischsprachigen Gedichte Manfred Winklers (1922–2014) ist aus einer Zusammenarbeit Dr. Monica Tempians (Victoria University of Wellington) und Dr. Jan Kühnes (Hebrew University of Jerusalem) unter Mitwirkung von Rick Sahar (Victoria University of Wellington) hervorgegangen. Mit diesem Band erfüllt sich der Wunsch des Schriftstellers, Übersetzers und bildenden Künstlers, dass sein literarisches Schaffen einer geneigten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werde, aufs Neue. Der im Alter von 92 Jahren in Tsur Hadassa bei Jerusalem verstorbene, aus der Bukowina stammende Dichter hatte wenige Jahre vor seinem Tod der Germanistin und Literaturwissenschaftlerin Monica Tempian schriftlich sein plein pouvoir dafür gegeben. Den in der editorischen Notiz ausführlich gewürdigten Hans-Jürgen Schrader, Yvonne Livay und Hans Bergel (1925–2022) ist es hauptsächlich zu verdanken, dass Winklers Nachlass dem Archiv des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der LMU München (IKGS) anvertraut wurde und für die wissenschaftliche Bearbeitung seines Werks zur Verfügung steht.
Mit dem vom Südostdeutschen Kulturwerk, der Vorgängereinrichtung des IKGS, herausgegebenen, schmalen Band Unruhe wurde eine Auswahl seiner Gedichte im Jahr 1997 erstmals in Deutschland publiziert. In kurzen Abständen folgten die Lyrikbände Im Schatten des Skorpions (2006), Im Lichte der langen Nacht (2008), War es unser Schatten (2010) und Wo das All beginnen soll (2014) im Rimbaud Verlag. Zwanzig Jahre nach der Erstveröffentlichung erschien Winklers gesamte deutschsprachige Lyrikproduktion in der kommentierten Edition Haschen nach Wind. Die Gedichte im Arco Verlag, die Monica Tempian gemeinsam mit Hans-Jürgen Schrader (Universite de Genève) besorgt hatte. Brigitte van Kann stellte fest, dass es nun „einen blinden Fleck weniger in der bewegenden Geschichte deutscher Literatur im Ausland“ gebe, und konstatierte Winklers Gedichten eine „eigene Farbe im Mosaik deutscher Dichtung“ (DLF, 2. April 2018). Gemeinsam mit der Victoria University of Wellington und der Irene Bollag-Herzheimer-Stiftung in Basel konnte das von der Beauftragten für Kultur und Medien institutionell geförderte IKGS Haschen nach Wind finanziell unterstützen.
Winklers in vier Einzelbänden und einer umfassenden Anthologie publizierte Lyrik in hebräischer Sprache konnte bei der Herausgabe des deutschsprachigen Lyrikwerks nicht berücksichtigt werden, seine in deutscher und hebräischer Fassung vorliegende Gedichte sind in jener 2017 veröffentlichten Leseausgabe ausgespart geblieben. Darum freue ich mich, dass der vorliegende Band Noch hör ich deine Schritte. Deutsch- und hebräischsprachige Gedichte, diesmal in noch engerer Zusammenarbeit, erneut mit der Unterstützung des IKGS sowie der Bollag-Herzheimer-Stiftung und der Victoria University of Wellington bei Edition Faust erscheinen konnte. Als Anlass diente der 100. Geburtstag des im damals rumänischen, heute in der Ukraine gelegenen Putilla (rum. Putila, ukr. Путила) geborenen Lyrikers. Monica Tempian und Jan Kühne haben mit dem vorliegenden Band das mehrsprachige dichterische Schaffen Manfred Winklers mit größtmöglicher Vollständigkeit dokumentiert. Sie haben diesem leidenschaftlichen Mittler zwischen – seinen – Sprachen und Kulturen jenen Platz zugewiesen, der ihm und seinem lyrischen Zeugnis eines bewegten und bewegenden 20. Jahrhunderts zweifellos zusteht.
Florian Kührer-Wielach, Direktor des IKG, Vorwort
– Zu Leben und Werk von Manfred Winkler. –
Das Paradox und der Glaube gehören zur Grundlage meines Dichtens und meines Lebens. […] Licht und Dunkel, Tag und Nacht, Zeit und Ewigkeit – das klingt mir wie Akkorde und Rhythmen, diese seltsam bildschaffenden Wortklänge. Manchmal ziehen sie mich in die Tiefe, ich kämpfe mich mithilfe meiner Verszeilen wieder nach oben, sogar himmelwärts – und falle ebenso oft wieder auf die Erde als unsere letzte Instanz, wie immer wir es drehen und wenden wollen. Die Paradoxa zeugen den Urimpuls des Lebens.1
Diese Briefzeilen schrieb Manfred Winkler am 16. März 1996 an den Siebenbürger Schriftstellerfreund Hans Bergel. Sie öffnen den Blick für die Substanz seiner Lyrik, deren Eindrücklichkeit und beseelende Vermittlungskraft aus dem Changieren zwischen Extremen und dem Spiel mit dem Paradox erwachsen. Genau zehn Jahre vorher hatte Winkler in einem Aufsehen erregenden Vortrag über Paul Celans Dichtung an der Universität Haifa vom „Ertasten“ gesprochen, das zum Entstehungsimpuls des „seltsamen Phantasiegebildes“ namens „Gedicht“ gehöre, des weiteren von unbewusst entstehen – den Assoziationen „weitausholender Bilder, Gedanken und Gefühle“, von „Gebieten im Dunkeln“, „geladen mit Aussichtslosigkeit“, von bejahter Schwermut aber auch von „Hoffnungssplittern“ und vom Zustand „zwischen Wachen und Träumen“, der der Phantasie weiten Raum gewähre.2 Deutlich sind in solchen Äußerungen die selbstidentifikatorischen Zuschreibungen, die auch in der Thematisierung der Zugehörigkeit zu einer „versunkenen“ bukowinischen Literaturlandschaft mitschwingen und Winkler bewogen, von Paul Celan als dem „Freund und Verwandten im Sinne von Gemeinsamkeit der Landschaft, der Vergangenheit und des Schicksals“3 zu sprechen.
Winklers Lebensgeschichte war geprägt von Flucht, Vertreibung und Emigration, von Übergängen und Grenzüberschreitungen im unruhigen Suchen nach Geborgenheit, Nähe und Gemeinsamkeit, und fortdauerndem Dichten in mehreren Sprachen. Schon im Titel wird dieser Gedanke angeschlagen in dem Gedicht „… ein ferner der immer derselbe ist“, der auch unserer Einleitung vorangestellt ist:
Nur einer geht
von der breiten Straße,
aus dem Untergang,
einem vergessenen Gesicht
der Sonne zu […]
Nur einer geht derselbe in sich ein,
der die Tiefen des Himmels
zu ermessen versucht […]
ein ferner
der immer derselbe ist4
Manfred Winkler wurde am 27. Oktober 1922 in der Kleinstadt Putilla/Putila in den Waldkarpaten der Bukowina geboren. Als Sohn eines wohlhabenden jüdischen Rechtsanwaltes erfuhr er die für begabte Landeskinder typische Ausbildung: Mit vierzehn kam er in die Hauptstadt Czernowitz/Cernăuți, wo er zusammen mit Ukrainern, Polen, Rumänen, Ungarn, Juden und Deutschen aufs Gymnasium ging. Eine der historisch bewegtesten Landschaften Mittelosteuropas, die von 1775 bis 1918 zur Habsburgermonarchie gehörte und 1919 durch den Vertrag von Saint-Germain dem Königreich Rumänien zugeteilt wurde, bewahrte die Bukowina zur Zeit von Winklers Schulausbildung noch den Ruf einer multiethnischen Provinz mit einer besonders intensiven Produktivität des schöpferischen Lebens. Czernowitz, östliches Kulturzentrum und seit 1875 Universitätsstadt, hatte ihr eigenes Kolorit: Eine buntschichtige Stadt, in der sich das deutschsprachige mit dem slawischen, lateinischen und jüdischen Kulturgut durchdrang, was leicht auch in dem Laut- und Bildgefühl der deutschreibenden Czernowitzer Autorinnen und Autoren zu erkennen war. Altjüdisches Volksgut, chassidische Legenden und Märchen „lagen in der Luft“5 und die Literatur entwickelte eine lyrische und epische Blüte, der Czernowitz bis zum heutigen Tag den Ruf einer „Literaturstadt“ verdankt.6 Mit dem schrecklichen ,Russenjahr‘ 1940–41 begann jedoch die Verfolgung und Ausrottung der jüdischen Bevölkerung der Bukowina. Damit endeten auch die glücklichen Kinder- und Jugendjahre Manfred Winklers. Seine Eltern samt Bruder und Schwägerin wurden von den Sowjets nach Sibirien deportiert, er selbst wurde von den Rumänen ins transnistrische Arbeitslager verschleppt und erlebte nach der Shoah die Deportation der überlebenden Bukowiner Juden ins kommunistische Rumänien. Die Eltern sah er nicht wieder. „Viele Jahre später“, berichtete Winkler „erfuhr ich, dass sich mein Vater in der Kirgisensteppe, in Kasachstan, das Leben nahm. Auf welche Weise meine Mutter endete, weiß ich bis heute nicht.“7 Die Erinnerungen an die Mutter durchweben viele seiner Dichtungen.
Nach bleiernen Nachkriegsjahren in Rumänien übersiedelte Winkler 1959 nach Israel, wo er bei Verwandten im Kibbuz Beth Alpha der sozialistisch-zionistischen Bewegung Haschomer Hatzair [Der junge Wächter] Unterricht in der Sprache der neuen Heimat nahm und sich in kürzester Zeit auch dichtend dem Hebräischen zuwandte. Schon nach einem halben Jahr erhielt er den ersten Preis für Dichtung beim Wettbewerb des Israelischen Unterrichts- und Kultusministeriums und kam als gefeiertes „Wunderkind der hebräischen Sprache“ an die Jerusalemer Universität, wo er 1959–63 hebräische und jiddische Literatur studierte. Nach dem Studienabschluss leitete Winkler bis 1981 das Jerusalemer Herzl-Archiv und betreute als Lektor und Mitarbeiter der Redaktion die Edition des Herzl-Nachlasses.8 Zugleich wirkte er als freier Schriftsteller, Literaturkritiker, Übersetzer, Maler und Bildhauer.
In den 1960er Jahren trat der Lyriker Winkler für eine kurze Zeit hinter dem Redakteur und besonders hinter dem Übersetzer in den Schatten. Der gehörte zu den ersten, die Paul Celans Gedichte ins Neuhebräische übersetzten. Im Herbst 1969 hatte er beim einzigen Besuch Celans in Israel Gelegenheit, als Übersetzer aufzutreten und die Moderation von Celans Lesung im Jerusalemer Journalistenhaus (Beth Agron) am 9. Oktober zu übernehmen. Eine Summe seiner übersetzerischen Beschäftigung erschien 1983 in dem Band שושנת האין [Die Niemandsrose] (erweiterte Ausgabe 1988). Den Celan-Übersetzungen schlossen sich Übersetzungen aus dem Hebräischen ins Deutsche (Dan Pagis, Jehuda Amichai, Tuvia Rübner, Chedwa Harechawi, Israel Eliraz, Yehuda Horam, Lea Goldberg, David Rokeach, Aba Kovner, Elazar Benyoetz u.v.a.) wie auch aus dem Jiddischen, Rumänischen, Ukrainischen und Russischen an.
Durch seine Übersetzungen wie auch durch seine mehrsprachigen Dichtungen wurde Winkler zum fruchtbaren Lyrikvermittler zwischen den Sprachen. Obwohl er bis 1983 – nach drei deutschen Publikationen in Rumänien (Tief pflügt das Leben, 1956; Fritzchens Abenteuer, 1958; Kunterbunte Verse, 1958) – ausnahmslos in hebräischer und englischer Sprache veröffentlichte, blieb Winkler doch parallel dazu, oft auch im phasenverschobenen Hin und Her zwischen beiden Sprachen oder aber in spontanen Selbstübersetzungen, dem Dichten in der deutschen Sprache nah. Die Anregung, deutsch zu schreiben, erhielt einen entscheidenden Anstoß durch den regen Kontakt zum 1986 gegründeten Jerusalemer LYRIS-Dichterkreis (LYRIS ist ein Kürzel für Lyrik in Israel), dem letzten literarischen Salon mittelosteuropäischer Lyriker und Lyrikerinnen, dem u.a. Ilana Shmueli, Eva Avi-Yonah, Annemarie Königsberger, Yvonne Livay, Magali Zibaso und Chaim Schneider zugehörten. Dank des Einsatzes seines als Schriftstellerkollege schon 1956 bekannt gewordenen Freundes Hans Bergel erreichten Winklers deutsche Gedichte nach 1997 auch das deutsche Lesepublikum.
„Die Hände runden eine lange Geschichte / zerlegen sie in Einheiten des Schattenraums“,9 schreibt Winkler in dem Gedicht „Zwei Obrigkeiten hörig (Poesie und Plastik)“. Noch im hohen Alter waren die bilderschöpfenden Einfälle des malenden Dichters oder dichtenden Malers unerschöpflich. In seiner „jemenitischen Burghöhle“, einem winzigen Atelierzimmer hinter der King-George-Straße in Jerusalem, widmete er sich ausdrucksstark der Malerei und Bildhauerei – seine expressiven, laokoontisch verschlungenen Tonskulpturen, wie auch seine skurrilen Figurinen und Ölgemälde, die oft zerfallende Pflegeorte der kabbalistischen Tradition abbilden und an Chagall erinnern, sind Ausdruck seiner nie zum Stillstand gekommenen Wandlungsfähigkeit. Die Stadt Jerusalem widmete ihm 2003 die von Chedwa Harechawi und Ariel Hirschfeld in der City Gallery kuratierte Ausstellungַ נ ְפתִּוּ ִלים[Verflechtungen], zu der auch ein bildreicher Katalog herauskam. Dass er in den letzten Jahrzehnten seines Lebens erstmals auch als gewichtige Stimme im Chor der deutschschreibenden Autorinnen und Autoren Israels wahrgenommen wurde, belegen die Verleihung des Preises des Israelischen Ministerpräsidenten für Lyrik (1999) und seine Berufung in das PEN-Zentrum (2008).
Als Manfred Winkler am 12. Juli 2014 im Alter von zweiundneunzig Jahren in Jerusalem starb, lagen acht Lyrikbände in deutscher Sprache vor, weitere vier Einzelbände und eine umfassende Anthologie in hebräischer Sprache sowie zwei Bände in englischer Übersetzung, weiterhin zahlreiche Selbstübersetzungen und Übersetzungen – ein umfangreiches Werk, das die Widersinnigkeiten einer (nicht nur für einen jüdischen Dichter) katastrophalen Zeit und die Bruchlinien beinahe des ganzen 20. Jahrhunderts spiegelt. Den hebräischen Gedichten in den Bänden שירים [Gedichte] 1965, בין אצבעות העיר [Zwischen den Fingern der Stadt] 1970, עפר בעמות [Staub in Konfrontation] 1979, בצל העקרב [Im Schatten des Skorpions] 1988, und dem von Winkler selbst als große Werkauswahl konzipierten Band ספירה לאחור – Count Down. Selected Poems 1960–2000 [Rückwärts zählend. Ausgewählte Gedichte 1960–2000) 2000, und ihren deutschen Übertragungen und Bearbeitungen merkt man den Ort ihrer Entstehung an – die biblische Stadt Jerusalem, von der Winkler auf eine Geschichte zahlreicher Verluste und Vertreibungen zurückblickt. Die erinnernde Evokation der multikulturellen, mehrsprachigen bukowinischen Herkunftsregion, die das „Verdunklungsgeschehen“ der Shoah ausgelöscht hat, in Verbindung mit dem neuen Heimatfinden im „Altneuland“ vor dem Hintergrund der ersten und zweiten Intifada, ist Winkler über abgerissene Traditionen hinweg zum lebenslangen Auftrag geworden. Dabei ist die kultur- und allgemeingeschichtliche Bedeutung seiner Lyrik nicht allein in der Zeitzeugenschaft zu den traumatischen Geschichtsereignissen der Shoah und den traumatischen Folgewirkungen des jüdisch-arabischen Konfliktes zu erblicken, sondern auch in der hochkarätigen Qualität von mehrsprachiger Literatur aus mittelosteuropäischen und schließlich orientalischen Lebenswelten und Erfahrungsräumen. Das Ineinandergreifen und die wechselseitige Durchdringung entfernter Geistestraditionen macht die Faszination der Winklerschen Gedichte aus.
Beide Sphären der bukowinischen Herkunftsregion und der orientalischen Neuheimat wusste der Lyriker auch sprachlich meisterhaft zu verbinden durch das symbiotische Zusammenspiel des mehrsprachig geprägten deutschen Idioms der Bukowina und des neu erlernten Ivrith. Die textübergreifende Mehrsprachigkeit bedeutete Winkler ein Gefühl von neu gewonnener Freiheit und die Vorstellung, mehrere Sprachidentitäten haben zu können, wurde als Bereicherung und Gewinn bewertet:
Ich führe eine doppelte Existenz, in Deutsch und in Hebräisch. Deutsch und Hebräisch treffen und ergänzen sich in mir.10
Damit bewahrt die sprachlich wie von den Sujets her divergente Kulturbezüge integrierende Lyrik Manfred Winklers die Möglichkeit jener Sphäre Czernowitzer Existenz, der Multikulturalität attestiert wird. Seine Gedichte sind als dialogisch zu bezeichnen, eine Dialogizität, die den Dichter mit sich selbst wie auch mit zahlreichen anderen Dichtern und Kulturen ins Gespräch treten lässt, und Dichotomien zugunsten eines Austausches und einer in Situationen des Kulturkontaktes hinzugewonnenen Öffnung auf Neues, wechselseitig Befruchtendes, zurückweist. Winkler war es wahrlich daran gelegen, eine Literatur in Israel zu schaffen, die die Hoffnung auf einen Dialog der Kulturen freisetzt. Es wäre und ist wohl schwerlich möglich, sich dem „Sog“ dieser Länder-, Kulturen- und Sprachengrenzen transzendierenden Literatur zu entziehen oder gar in Gleichgültigkeit zu verharren.
Monica Tempia, Vorwort
I.
Manfred Winklers Diktum „das Zweigesagte sage nicht“11 stellt, zumindest theoretisch, ein Problem dar für die Poetik seiner Selbstübersetzung. Doch entspricht eine Übersetzung in der Praxis nie genau dem Original, ist stets Neu- oder Andersgesagtes, nicht bloße Wiederholung, kein „Zweigesagtes“. Zudem war Winkler als Übersetzer seiner eigenen Texte nicht zur Werktreue verpflichtet, sondern verfügte über die dichterische Freiheit, den künstlerischen Prozess in der Zielsprache nach Belieben fortzusetzen und umzuschreiben.12 Winkler nahm sich diese Freiheit – von und für sich selbst – wie kein Zweiter innerhalb des engen Kreises zweisprachig schreibender deutsch- und hebräischsprachiger Dichter und Dichterinnen, unter denen zunächst Tuvia Rübner13 und Elazar Benyoëtz14 zu nennen wären. Winklers Spektrum der Selbstübersetzungen reicht von wortgetreuer Übertragung zur gänzlichen Neudichtung und umfasst mitunter Übersetzungen, deren Sinn sich vom Ausgangstext gänzlich unterscheidet – ihm teils sogar entgegensteht, wie zu zeigen sein wird.
Zwischen den Extremen getreuer Übersetzung und freier Fortschreibung finden sich in Winklers deutschsprachigen und hebräischen Gedichten zahlreiche Nuancen. Unterschieden können nicht nur nacheinander von miteinander entstandenen Textversionen, sogenannte konsekutive und simultane Selbstübersetzungen.15 Auch inhaltlich vom Original nicht abweichende Übersetzungen enthalten subtile Unterschiede. In der vergleichenden Lektüre lesen sich diese Unterschiede zwischen den deutschsprachigen und hebräischen Versionen als reziproke Kommentare. Beispielsweise verrät erst die hebräische Version von „In den tiefen Mulden der Zeit“,16 dass das darin angesprochene „Du“ einer Frau angehört. Aufschlussreich ist auch, dass Winkler nur in den hebräischen Versionen seiner selbstübersetzten Gedichte über Celan diesen direkt anspricht. So ist die hebräische Version von „Ein Mensch warf sich…“17 fast doppelt so lang wie die deutsche Version und endet mit den an Kohelet erinnernden Worten (Übersetzung J. K.):
Wer nun weint, weint,
wer nicht vergessen kann
wird nimmer vergessen
und so wird es bleiben, ist doch alles vergebens
auch Du mein gesegneter Freund
auch Du mein vom Schicksal erhöhter Freund
Unklar ist bei diesem Gedicht, welche Version die frühere ist: die längere hebräische oder die kürzere deutsche? Tendierte Winkler bei der Selbstübersetzung eher zur ergänzenden Ausformulierung oder zur verkürzenden Verdichtung? Welches Verhältnis zeichnet sich dabei zwischen den Sprachen ab? Obwohl Winkler seine ersten Gedichte in der deutschen Sprache schrieb, entstanden die ersten und zugleich meisten Selbstübersetzungen interessanterweise auf der Basis seiner hebräischen Gedichte. Beide Sprachen besitzen somit in Winklers Œuvre eine gleichberechtigte originäre Stellung.
Das erste aus dem Deutschen ins Hebräische selbstübersetzte und diesbezüglich seltene Gedicht Winklers ist „Mit dem Meißel der Minute“.18 In seiner fast wortgenauen Übertragung fügte Winkler nur hinzu, dass er als 68-jähriger den Brief an seine Mutter „als Waise“ schrieb; dadurch noch deutlicher implizierend, dass sie bereits verstorben war, als er seinen nicht enden wollenden Brief an sie verfasste. Hierbei tritt ein Merkmal seiner Selbstübersetzungen hervor: die konsequente Herausarbeitung und fortlaufende Verdichtung eines zugrundeliegenden Gedankens oder Gefühls, teils unter komplementärem Perspektivenwechsel.19 Offensichtlich ist dabei der zugrundeliegende, nie abgeschlossene und durch Übersetzungen neu angeregte poetische Entstehungsprozess. Er könnte die mannigfaltigen Diskrepanzen erklären, die zwischen den deutschen und hebräischen Versionen der von Winkler selbst übersetzten Gedichte beobachtbar sind.
Auf einige charakteristische Unterschiede wird im Folgenden hingewiesen, zuvor aber noch eine im zeitgleichen Dialog entstandene Selbstübersetzung erwähnt. Dieses Beispiel stellt ein Paradox dar: Während die deutsche Version von „Adam schweigt oder das Altwerden“ als Bearbeitung aus dem Hebräischen gekennzeichnet ist, ist dessen hebräische Version („Altern“ – „הְזדַקְנוּת“) als „Übersetzung aus dem Deutschen“ ausgeschrieben.20 Was kam also zuerst: die hebräische Henne oder das deutsche Ei? Hier löst sich der Originaltext auf zwischen den beiden, simultan entstandenen, sich erheblich voneinander unterscheidenden Versionen. In manchen Fällen, beispielsweise in „Wir aber suchen“,21 resultiert diese Art der Wechselbeziehung sogar in zwei gänzlich verschiedenen Gedichten. Eine Erklärung für diese Freiheit, die sich Winkler oft beim Übersetzen der eigenen Gedichte nahm, ist auch im zeitversetzten, konsekutiven Charakter seiner Selbstübersetzungen zu suchen. Zu erforschen wäre beispielsweise, ob die Unterschiede einer späteren Fassung zur früheren umso größer sind, je mehr Zeit zwischen beiden vergangen war. Hierzu lässt sich im vorliegenden Band beobachten, dass mit fortschreitendem Alter die Freiheit größer wurde, die sich Winkler beim Übersetzen seiner eigenen Gedichte nahm. Auf zwei Beispiele besonders freier Selbstübersetzungen aus der späteren Schaffensphase soll daher kurz etwas näher eingegangen werden.
II.
Unter den intertextuellen Bezügen in Winklers Gedichten überwiegen neben denen zu Paul Celan die zur Torah, insbesondere zu den im Buch Genesis dargestellten Mythen. Von zentraler Bedeutung ist darin die Legende der Bindung Isaaks, der sogenannten Aqeda, die in der jüdischen Überlieferung als liturgischer Text die jüdische Selbstaufopferung zugunsten ihrer traditionellen Gottesvorstellung symbolisiert.22 Zahlreiche Deutungstraditionen binden sich an diese in Genesis 22 beschriebene Episode, die nicht erst seit Aufkommen der modernen Bibelkritik als Fortschreibung eines älteren, redaktionell veränderten Textes gelesen wird, in dem die unterbundene Menschenopferung noch vollzogen wurde. Bereits der mittelalterliche Kommentator Abraham ihn Esra bezeugt diese Lesart nicht einer „Bindung“ sondern Opferung Isaaks,23 der auch Winklers Gedicht „Abraham lässt das Messer fallen“ nahesteht – wenn auch in einem anderen Kontext.24 Dieser erschließt sich im Vergleich mit der von Winkler explizit als spätere hebräische Version gekennzeichneten „Übersetzung aus dem Deutschen“.
Während die hebräische Gedichtversion die Opferung Isaaks tatsächlich inszeniert, stellt die deutsche Version eine Adaption des biblischen Narrativ dar, in der Abraham zwar die Opferung beabsichtigt, dann aber in letzter Sekunde von ihr absieht – jedoch ohne die im Bibeltext eingreifende Deus ex Machina: „Abraham lässt das Messer fallen“, heißt es bei Winkler, dessen Formulierung sich signifikant von den klassischen Bibelübersetzungen – von Luther bis Buber-Rosenzweig – unterscheidet. Die Wortwahl legt nahe, dass Abraham seine Mordwaffe fallen ließ. Die Formulierung steht im Passiv; das Opfer wird nicht vollzogen.25
Das Gedicht beginnt mit einem poetischen Scherenschnitt einer an der Horizontlinie vor dem Hintergrund der Morgendämmerung schreitenden silhouettenhaften „kleinen Karawane“. Es endet mit einer nicht minder kontrastreichen Nahaufnahme, in der Abrahams Arm, ausgestreckt über seinem unter ihm liegenden Sohn, das Opfermesser fallen lässt und vom Mord ablässt – ohne eine vorausgehende göttliche Intervention oder Substitution des Opfers und trotz „erhabenem Gebot“ –, aus Liebe nur zu seinem Sohn. Abraham lässt das Opfern sein. Er bedarf dafür aber nicht wie in Genesis 22 eines alternativen Angebots, um seinen wie auch immer gearteten Tötungsdrang „auszuleben“. Die Vorstellung des Aufopferns verschwindet im Moment des Fallenlassens, das ein Ablassen darstellt vom Vorigen – in dem von Erich Auerbach bezeichneten hintergründigen Stil der Bibel, der nur dasjenige herausarbeitet, „was für das Ziel der Handlung wichtig ist, der Rest bleibt im Dunkel“. Betont würden darin nur „die entscheidenden Höhepunkte der Handlung“,26 welche Winkler aber in seinem Gedicht negiert: Im Gegensatz zur biblischen Version der Aqeda ist Isaak seinem Vater nicht gefällig, der Engel fällt aus, kein Widder findet sich zufällig bereit und Abraham lässt das Schlachtmesser aus der Hand fallen, weil er wieder Gefallen an seinem einzigen Sohn findet, der ihm ja fehlen würde, falls er ihn tötete. Ein Melodrama hart an der Grenze zur Komödie.27 In jedem Falle kann Winkler mit diesem Gedicht eine innovative poetische Deutung beanspruchen in der Fülle der Auslegungen zu dieser kontroversen und symbolträchtigen biblischen Sage. Doch seine eigene neuhebräische Übersetzung dieses Gedichts erzählt eine andere Geschichte: Unter Adaption von Zitaten des althebräischen Texts „entsendete Abraham das Messer“ nicht nur aktiv „in die Brust“, sondern direkt „in das Herz seines einzigen Sohnes“, den er zu lieben aufgehört hatte. Hier wird somit eine hebräische Gegengeschichte zur deutschen Version erzählt, die, wie noch untersucht werden müsste, teils auf einem interessanten Verwechslungsspiel zwischen dem Althebräisch und dem Neuhebräisch beruht.28
III.
Das Motiv der Aqeda findet sich auch in Winklers Gedicht: „מטמורפוזיס [Metamorphosis] (Die Verwandlung)“, dessen Parallelversionen nicht nur zwei gänzliche verschiedene Geschichten sondern auch Perspektiven inszenieren.29 Während auch hier unklar ist, welche Version zuerst geschrieben wurde, fällt im Titel auf, dass die deutsche Version eine „Variante zu ,Die Verwandlung‘“ ist. Das kann sowohl als Variante zu Kafkas Kurzgeschichte „Die Verwandlung“ gelesen werden, als auch zu Winklers hebräischen Gedicht, wobei nur dieses das Aqeda-Motiv aufgreift (Übersetzung J. K.):30
METAMORPHOSIS (Die Verwandlung)
Abends im Zimmer
kriecht
an der Wand
ein ungeheures Ungeziefer.
Vor der Tür wartet sein Vater, der zählt nicht
der lauert –
der Bürge dieses schicksalhaften Moments
die Frucht in der Hand
die verfaulte Frucht der Erkenntnis und des Erachtens
schwarz sein Bart, verzwirbelt
der Vater, steht bereit
zu töten.
Ähnlich seiner zwei oben erwähnten Aqeda-Adaptionen hat Winkler hier wiederum die Peripeteia, den dramatischen Wendepunkt eines Vater-Sohn Konflikts – diesmal von Kafkas „Die Verwandlung“ – poetisch festgehalten. Die deutsche Version hingegen nimmt nicht die Perspektive des Vaters ein, sondern die des Sohnes, Gregor Samsa. Nur im Vergleich mit der hebräischen Version lässt sich erahnen, dass es sich bei der in der deutschen Version dargestellten Szene vielleicht um jenen „schicksalhaften Moment“ am Ende des dritten Teils der berühmten Kurzgeschichte Kafkas handelt, in der Gregors Vater seinen zu einem Ungeziefer mutierten Sohn „Apfel für Apfel“ bewirft, woran dieser später sterben wird. Auch hier ist der Vergleich zwischen den Versionen aufschlussreich und ermöglicht gänzlich neue Lesarten der Selbstübersetzungen, die der isolierten Lektüre vorbehalten blieben.
Zwar kann und muss prinzipiell jedes Gedicht zunächst für sich gelesen werden, doch nur im Vergleich der in diesem Band versammelten selbstübersetzten Gedichtversionen erschließt sich das vielfältige und nuancenreiche, deutschhebräische Selbstgespräch Manfred Winklers. Zwar sind überwiegend Diskrepanzen zwischen Bedeutungsverschiebungen, Narrativen und Perspektiven zu beobachten, doch das zweisprachige Selbstgespräch findet auch auf der klanglichen Ebene statt. Beispielsweise stellt die hebräische Version von „Suchen“, das auf Edgar Allan Poes berühmtes Gedicht „The Raven“ anspielt, einen Gleichklang her zwischen dem „grauen Raben (ha’Orév ha’Affór)“ und „Nevermore“.31 Dieser hebräisch-englische Gleichklang fehlt in der deutschen Version und lässt daher den Rückschluss zu, dass die hebräische Version die frühere sein könnte. Mit anderen Worten, selten kann man sich beim Lesen von Winklers selbstübersetzten Gedichten sicher sein, ob es sich jeweils um die frühere oder spätere Version handelt, noch dass sich beide Versionen inhaltlich entsprechen oder die einzigen Versionen darstellen. Winklers Metapher des eingeschneiten Jerusalem bemühend: Nie kann man sich beim hermetischen Lesen seiner Selbstübersetzungen sicher sein, ob nicht, wie unter einer Schneedecke, nur die Konturen des darunter Liegenden vage zu sehen sind, oder gar etwas gänzlich anderes.
„An einem eingeschneiten Tag in Jerusalem“ kann somit auch als Metapher für Winklers conditio translatio gelesen werden: „Eingeschneit für weitere tausend Jahre“, heißt es dort, „leben sie belagerungswillig“, worunter wir hier Winklers Texte verstehen, die „im Leuchtturm einer ewigen Liebe“ eingeschneit sind, „ohne sich selbst zu kennen“.32 Erst in der Selbstübersetzung, die auch als die Schmelze besagter metaphorischer Schneedecke verstanden werden kann, lernen sich Winklers Texte jenseits ihrer selbst kennen. In einem anderen Gedicht Winklers beispielsweise als „Einzigartigkeit eines Gefühls von Tausenden“, als lyrische Nabelschau, als reziproke und komplementäre „Selbstverliebtheit die jedes Maß verloren hat.“ Die subtile Selbstironie dieses (nicht selbstübersetzten) deutschsprachigen Gedichts liefert einen weiteren Schlüssel zu Winklers freien Selbstübersetzungen und soll hier daher in der abschließend hinzugefügten hebräischen Fremdübersetzung nicht vorenthalten werden:33
Plötzlich ist ihm alles zuwider
dein Gedicht sein Gedicht ihr Gedicht das Gedicht
alles jedes Gedicht, auch „Über allen Gipfeln“.
Er fühlt nicht mehr den Zauber der Worte
Ja Worte, er möchte sich übergeben wenn er sie hört,
wenn er an sie denkt
Wieviel Überheblichkeit, jeder glaubt einzigartig zu sein –
das Herz der Welt. Widerlich zu lesen
diese Wortschreiberei, Treiberei
diese Einzigartigkeit eines Gefühls von Tausenden
diese Selbstverliebtheit die jedes Maß verloren hat,
um zum Schluss einzugestehen dass
die eigentliche Pointe dieses Gedichtes
er selber ist, d.h. Ich
פִּתְאוֹם הַכֹּל נִמְאָס לוֹ
הַשִּׁיר שֶׁלְּךָ הַשִּׁיר שֶׁלּוֹ הַשִּׁיר שֶׁלָּהּ הַ־ שִִּׁיר
.“הַכֹּל שִׁיר וְכָל הַשִּׁיר אֲפִלּוּ “מֵעַל כָּל הַפְּסָגוֹת
נֶעְלַם לוֹ הַ קֶּסֶם שֶׁבַּמִּלִּים
מִלִּים כֵּן בָּא לוֹ†לְהָקִיא כְּשֶׁהוּא שּׁוֹמֵעַ אוֹתָן
כְּשֶׁחוֹשֵׁב עֲלֵיהֶן
כַּ†מָּה†יְהִירוּת∫ כֻּ לָּם חוֹשְׁבִים שֶׁהֵם יִחוּדִיִּים
מֶרְכַּז הָעוֹלָ דּוֹחֶה
לִקְרֹא כַּתְּבָנִיּוּת הַ מִּלִּים הַזּוֹ דַּחֲפָנִיּוֹת הַ מִּלִּים
יִחוּדִיּוּתָהּ הַזּוֹ שֶׁל הַרְגָּשָׁה שֶׁל אֲלָפִים
הָאַהֲבָה הָעַצְמִית הַזּוֹ שֶׁאִ בְּדָה אֶת כָּל מִדָּה
רַק כְּדֵי לְהוֹדוֹת בַּסּוֹף
שֶׁהַשּׁוּרָה הַ תַּחְ תּוֹנָה הָאֲמִ תִּית שֶׁל הַשִּׁיר הַזֶּה
הִיא הוּא עַצְמוֹ דְּהַיְנוּ אֲנִי
Jan Kühne, Nachwort
Die vorliegende Leseausgabe vereinigt erstmals die bislang nur fragmentarisch vorhandene mehrsprachige – auf Deutsch und Hebräisch – verfasste Lyrik Manfred Winklers und schafft damit die Basis für einen umfassenden Vergleich seiner beiden poetischen Ausdrucksmodi. Die Edition ist daher von großem Wert sowohl für die interkulturell orientierte Germanistik und den rezent etablierten Bereich der German-Hebrew Studies, wie auch für das traditionsreiche Fach der Jewish Studies und die Zeitgeschichte. Angesichts des wachsenden Interesses an mehrsprachiger, dialogischer Literatur und deren Relevanz im heutigen transnationalen Kontext, wo Sprachidentitäten, Transferprozesse und transkulturelle Verflechtungen intensiv diskutiert werden, ist ein wichtiger Beitrag der deutsch-hebräischen Leseausgabe weiterhin darin zu erblicken, dass sie exemplarisch veranschaulicht, wie im Spannungsfeld zwischen den Literatur-Sprachen ein sprachästhetischer, -politischer und -theoretischer Raum entsteht, der vom multilingualen Autor im Laufe der migrationsbedingten Transferprozesse unterschiedlich besetzt, thematisiert, verwendet, und neu verortet wird. In diesem Sinne ist die Edition als eine aussagekräftige Quelle für Winklers Einsatz als Mittler zwischen den Kulturen, ebenso für den Beitrag deutschsprachiger Autoren zur Formung der geistigen Kultur in Israel zu betrachten.
Die Leseausgabe präsentiert die zweisprachig verfassten Gedichte Manfred Winklers in parallelen Versionen. Die zusammengetragenen Texte sind chronologisch angeordnet, soweit das nach dem derzeitigen Stand der Forschung möglich ist. Die Sammlung umfaßt damit den gesamten Zeitraum von Winklers literarischer Tätigkeit in Israel 1959–2014. Neben den zu Lebzeiten des Lyrikers in hebräischer Originalfassung veröffentlichten Gedichten und deren deutschen Fassung, wurden die Manuskripte und Typoskripte der Selbstübersetzungen und Nachdichtungen Winklers aus dem Münchner IKGS-Nachlass herangezogen. Die Gedichte wurden in vier Sektionen zusammengefasst: Auf die Gedichte der hebräischen Anfänge in zweisprachiger Fassung (veröffentlicht in den Einzelbänden שירים [Gedichte], 1965 und בין אצבעות העיר [Zwischen den Fingern der Stadt], 1970), folgen in Sektion II die Gedichte der Reifezeit (veröffentlicht in den Einzelbänden עפר בעמות [Staub in Konfrontation], 1979 und בצל העקרב [Im Schatten des Skorpions], 1988) und in Sektion III die zweisprachigen Gedichte aus dem vom Dichter selbst als große Werkauswahl konzipierten Band ספירה לאחור – Count Down. Selected Poems 1960–2000 [Rückwärts zählend. Ausgewählte Gedichte 1960–2000], 2000. Am Schluß stehen in Sektion IV die unpublizierten Gedichte aus dem Nachlass, die in zweisprachiger Fassung erhalten sind. Abgerundet wird diese Sektion durch eine Selektion verstreuter Gedichte, Fragmente und Skizzen, die dem Leser Einblick in die poetische Werkstatt Manfred Winklers und den von tief gehenden Einschnitten und Wenden begleiteten kreativen Prozess geben. Der Blick in die erhaltenen Manuskripte offenbart ein poetologisch reflektiertes Schreiben und eine bemerkenswerte ästhetische Sensibilität: Auf die erste, meistens in einem Zug entstandene Fassung eines Gedichts folgte ein oft tage-, wochen-, ja sogar jahrelanges Feilen an der Sprache, das wohl am treffendsten mit dem Gestalten des Bildhauers vergleichbar wäre, der Winkler ja auch war. Von etlichen Gedichten sind zwei, von anderen bis zu acht Fassungen erhalten. Das Verhältnis zwischen dem vom Dichter zur Publikation autorisierten Werk und dem unveröffentlicht gebliebenen Material dokumentiert den hohen Anspruch, den er an seine Lyrikproduktion gestellt hat. Unpublizierte Gedichte, Skizzen und Fragmente sind aus allen Schaffensphasen erhalten; da Winkler aber entschieden mehr ein kreativer als ein ordnungsbeflissener Geist war, bedeutet das unpublizierte Verbleiben von Texten im Wust seiner Schubladen nicht unbedingt, dass er sie verworfen hätte, nur hat er diese nicht einer Bearbeitung für die Publikation unterzogen und somit letztgültig autorisiert. Anders wiederum, im Falle von Gedichten wie „Mein Amen steht am Anfang der Vergangenheit“ oder „Seltsame Wiederbegegnung“, hat er einzelne Strophen oder Sektionen der ersten Fassung als eigenständige Gedichte publiziert. Da viele der Texte in Sektion IV weder datiert, noch durch die Art der Überlieferung exakt datierbar sind, wurde, soweit erkennbar, die zyklische Anordnung der Texte in den Nachlass-Konvoluten als Orientierungshilfe genutzt. Die hier gewählte Reihenfolge kann also keine verbindliche Aussage über den Entstehungszeitpunkt der einzelnen aus dem Nachlass publizierten Gedichte darstellen. Den Gedichtkorpus begleiten eine Einleitung und eine editorische Notiz von Monica Tempian wie auch ein Nachwort von Jan Kühne. Einleitung und Nachwort führen zum Autor und seinem mehrsprachigen Lyrikwerk hin. Ein erheblicher Teil des Bandes besteht aus noch nie gedruckten deutschen Selbstübersetzungen, Nachdichtungen und Bearbeitungen Winklers aus dem Hebräischen. Wo der Autor deutsche Nachdichtungen nach den zuvor hebräisch verfassten Gedichten in seinen sparsamen Eigenannotationen als solche kenntlich gemacht hat, wurde das mit in die Sammlung aufgenommen. Ebenso, in den wenigen Fällen, wo der Autor den umgekehrten Weg begangen hat, d.h. eine deutsche Originalfassung ins Hebräische übersetzt und mit der entsprechenden Anmerkung erkennbar gemacht hat, wurde die Eigenannotation des Dichters am Ende des hebräischen Textes erwähnt. Bemerkenswert für Winklers Selbstübersetzungspraxis ist das Vorkommen sowohl der verzögerten als auch der simultanen Selbstübersetzung. Das Ergebnis ist ein facettenreiches Spektrum an Variationsmöglichkeiten in den deutsch-hebräischen Fassungen, das im Nachwort zu dieser Edition eingehend erläutert wird.
Wenn der Dichter dasselbe Gedicht in mehrere seiner hebräischsprachigen Bände aufgenommen hat, bisweilen auch unter verändertem Titel, haben wir es im zyklischen Kontext seiner Erstveröffentlichung belassen, also der früheren Version den Vorzug gegeben. Von den zahlreichen Varianten, die von den deutschsprachigen Texten überliefert sind, wurde – mit Ausnahme der Texte in Sektion IV „Späte verstreute Gedichte, Skizzen und Fragmente“ – der erkennbar letzten von Winkler autorisierten Fassung der Vorzug gegeben. Die Mitteilung von Varianten – damit auch der Wiederabdrucke in den späteren Bänden – die eines ausführlichen Kommentars bedürfte, muss einer historisch-kritischen Ausgabe vorbehalten bleiben. Für insgesamt vier vom Autor selber als deutsche Nachdichtungen annotierte und in der großen kommentierten Edition Manfred Winkler. Haschen nach Wind. Die Gedichte aus dem Nachlass veröffentlichte Gedichte, konnte die hebräische Originalfassung nicht ermittelt werden. Die Texte („Als die Frau vor ihm stand“, „Komm, lass uns wieder Bäume sehen“, „Meereslippen“ und „Schreiber von Gedichten, Dichter“) wurden daher im vorliegenden Band ausgelassen.
Die Rechtschreibung und Interpunktion des Autors wurde in der Leseausgabe im Grundsatz beibehalten, auch wenn sie von den gegenwärtigen Regeln abweicht. In Fällen uneinheitlicher Rechtschreibung im Deutschen (bisweilen innerhalb desselben Gedichts), wie z.B. „ss“/„ß“ und „t“/„th“ wurde der heutigen Norm der Vorzug gegeben. Offensichtliche Irrtümer und Druckfehler in den veröffentlichten Texten wurden stillschweigend korrigiert. Ebenso wurden in den hebräischsprachigen Texten Diakritika, sogenannte Niqqud-Zeichen, ergänzt oder korrigiert. Da Gedichttitel im Hebräischen gemeinhin nicht punktiert werden, wurden in den Titeln keine Niqqud-Zeichen benutzt.
Bleibt noch der Dank, den die Herausgeber all denen aussprechen möchten, die das Vorhaben tatkräftig, ideell und auch finanziell unterstützt haben. An erster Stelle danken wir dem Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) an der Ludwig-Maximilians-Universität München, seinen früheren und heutigen Mitarbeitenden. Manfred Winklers Sprachkunst wäre wohl lange unentdeckt geblieben ohne den Einsatz seines als Schriftstellerkollege schon 1956 bekannt gewordenen Siebenbürger Freundes Hans Bergel. In seiner Rolle als Vorstandsmitglied des Südostdeutschen Kulturwerks und des IKGS hat Bergel sich darum bemüht, Winklers Dichtung in Zusammenarbeit mit den Verlagen Rimbaud und Noack Block/Frank & Timme dem deutschen Publikum näher zu bringen. Auch war er der Initiator der Überführung von Winklers Vorlass ins Archiv des IKGS. Die postume Bergungsaktion des Nachlasses wurde anschließend von seinem langjährigen Freund Prof. em. Dr. Hans-Jürgen Schrader in Gang gebracht. Sie war zweifellos nur dank seiner unermüdlichen Bemühungen wie auch des engagierten Einsatzes der Dichterkollegen und -kolleginnen im Jerusalemer LYRIS-Kreis, namentlich der Maler-Poetin Yvonne Livay, und des gemeinsam mit der Witwe und Enkelin des Dichters, Herma Winkler und Maja Hoffman, um Sichtung, Packen und Versand besorgten Lyriker-Wissenschaftlers und Mitherausgebers dieser Ausgabe Dr. Jan Kühne möglich. Am IKGS haben, ideell oder durch Bereitstellung der erforderten Mittel, Dr. Florian Kührer-Wielach, Dr. Enikő Dácz und Helene Dorfner mitgeholfen, das Winkler-Archiv im Jahr 2016 auf über 5.000 Dokumente zu vervollständigen. Monica Tempian hat sich dank zweier Forschungsstipendien des IKGS, bzw. des DAAD mit der Nachlasserschließung befasst. Ein University Research Fund der Victoria University of Wellington hat anschließend ihre Zusammenarbeit am hebräischen Gedichtkorpus mit dem hebräischsprachigen wissenschaftlichen Mitarbeiter Rick Sahar an der Victoria University of Wellington maßgeblich gefördert. Wir danken den Kollegen und Kolleginnen an der National Library of Israel, an der Victoria University of Wellington und im Archiv des Münchner IKGS, ebenso der wissenschaftlichen Mitarbeiterin Nora Guzu für die Erstellung digitaler Forschungsmaterialien und deren Bereitstellung während der Corona-Pandemie. Weiterhin danken wir den freundlich anteilnehmenden Verlegern von Edition Faust in Frankfurt am Main und den Kollegen und Kolleginnen im IKGS München, insbesondere Dr. Florian Kührer Wielach, Jana Augustin und Helene Dorfner, für ihre engagierte Beratung. Für das Lektorat der hebräischsprachigen Gedichte in Sektion IV danken wir Associate Professor Shimon Adaf von der University of the Negev in Beer Sheva. Für Hilfe und geduldig-engagierte Beratung danken wir Prof. em. Dr. Hans-Jürgen Schrader von der Université de Genève. Weiterhin möchten wir den Nachwuchswissenschaftlerinnen an der Victoria University of Wellington, Courtney McDonald und Mariama Diallo, für wertvolle Anregungen danken. Dem israelischen Verlag Carmel Publishing danken wir für freundliches Entgegenkommen bei der Abgeltung der Lizenzrechte an den Gedichten.
Nicht zu ermöglichen gewesen, wäre die Ausgabe ohne großzügige finanzielle Unterstützungen. Dafür danken wir der Victoria University of Wellington, der Irene Bollag-Herzheimer-Stiftung in Basel sowie, ein weiteres Mal, dem IKGS in München.
Monica Tempian, Nachwort
Sehnsucht weckende Stimme erklingt in der Lyrik Manfred Winklers, erregt Neugier, wirbt um Verständnis.
Winklers Verse schöpfen sowohl aus seiner reichen verinnerlichten Lebenserfahrung als auch aus dem Arsenal zahlreicher Kulturen und Literaturen. Erinnerung und Abwehr des Vergessens, Krieg und politische Wirren, Ortswechsel und das unruhige Suchen nach Orientierung, Nähe und Gemeinsamkeit, menschliche Endlichkeit und immer wieder: die Grenze als kritische Größe des Lebens – das sind Themen, denen sich der Lyriker mit unerbittlicher Aufrichtigkeit stellt.
In dieser Jubiläumsausgabe anlässlich des 100. Geburtstages des Dichters, Übersetzers und Kulturvermittlers erscheinen in zweisprachiger Form erstmalig im deutschsprachigen Raum seine auf Deutsch und Hebräisch verfassten Gedichte.
Edition Faust, Klappentext, 2022
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