− Zu Andrea Mittags Gedicht „o. T.“ −
ANDREA MITTAG
o. T.
meine liebste dekompensation in der badewanne
hocken: kaninchen / chuck berry singt merry christmas, baby
und alles in uns schweige…
nehme die BACHBLÜTENTROPFEN auf zunge (3–5) gehe
aaaaaniemals
nach „da oben“ (psychiatrie) verbrennt etwas kosmisches wimpernglühen
haarriss oberlippe das verletzte wort das kranke wenn nachts die bilder wie dünen…
wanderndes angstgerinnsel weit weg vom HAGION PNEUMA −
durchgeknallt mein herz wegen dir
Jedes Rezept zum Kunst Schreiben ist selbstredend Schwachsinn.
Die Kunst aber, ein sinnvolles Rezept zu schreiben ist selbstredend. Logisch?
Man nehme Doktor Oetker-Einflüsterungen und Listen für den Einkaufswagen, das sind noch eher die zaghaften Varianten.
Nimm: recipe, war den Anleitungen damaliger Doktoren an die Apotheker vorangestellt – und dass sich darin keine Empfehlung ausformt, sondern ein Befehl: das lässt auf einen schon hohen Grad an Unbestech- und Dringlichkeit schließen. Der Auflistung der Zutaten, den Mischverhältnissen und Dosierungsanweisungen muss immer auch eine im Grunde unverhüllte Diagnose eingeschrieben gewesen sein, der es von allen Seiten beizukommen galt.
„meine liebste dekompensation in der badewanne“ ist weder Diagnose noch Rezept. „meine liebste dekompensation in der badewanne“ ist „meine liebste dekompensation in der badewanne“: nur eine Schriftzeile. Sie lässt sich anbinden („in der badewanne / hocken“), aufspalten („meine liebste“), („dekompensation“), rekombinieren („meine liebste – dekompensation – in der badewanne hocken kaninchen“). Aber erst einmal ist sie vor allem da. Nackt, nicht wegen, sondern trotz einer möglichen semantischen Erschließung.
Nähm ich nun bewährte Rezeptionsmethoden zur Hand, müsste ich fragen: welche Funktion hat diese erste Zeile dieses sogenannten Gedichts, dessen Titel o. T. sich sich selbst entzieht? Handelt es sich um einen Hinweis darauf, wie das Folgende zu verstehen sei? Ein Warnschild gar: Was folgt, bitte nur zwischen den Gänsefüßchen einer ausgewiesenen Entgleisung lesen! Keine reinen Badewannengedanken!! Oder soll der Zustand nur behauptet und anschließend pseudoanalytisch durchgespielt werden? Warum dieser medizinische Klartext, der mir von Anfang an die Hoffnung auf assoziativ verbrämte Bejahungslyrik verleidet (die BACHBLÜTENTROPFEN, das HAGION PNEUMA und das herz schürten diese Erwartung beim ersten Blick auf die Textoberfläche… )? Echte Abgefucktheit oder steriler Zynismus?
Nichts davon. Die Zeile stakt und ist einfach sie. Und so kann ich die nächste auch nur nehmen, wie sie sich bietet: „hocken die kaninchen“ oder „chuck berry“ oder „hocken“ alle oder ist „chuck berry“ das „kaninchen“ und „hocken“ nur ein Infinitiv? Falsch gefragt! Dass „alles in uns schweige“, sei hier Appell und enttarne das Vorangegangene als insgesamt fehlgeschlagenen Artikulationsversuch – der dennoch, und hier wird er frech, seine prominente Platzierung als Textstart verteidigt: durch bloßes Dastehen, seine eigentliche Unverrücktheit.
Der Verdacht auf veredeltes Gekritzel drängt sich auf. Die Notiz als Erguss, bar jeder reflexiven Funktion, dafür in sich stimmig weil blühend, weil unhinterfragt: der Verdacht auf sich im Schriftbild verliebt spiegelnde Willkür.
(Geh ich diesem Verdacht gebührend sorgfältig nach, stoß ich aber an nicht weit entfernter Stelle zwangsläufig auf ein vorfixiertes Muster was Gedicht zu sein hat, siehe Rezeptionsmethoden. Willkür sei der Generalverdacht allen Geschreibsels, das aus seinen Verfahren keinen Hehl macht bzw. sie zu verschleiern dann doch nicht hinreichend in der Lage ist. Bzw. in seinen Verfahren abrupt gestoppt wird, überwuchert von dem, was es dann strengstens wegzuschneiden gilt: dem Unkraut Willkür. Will ich das Gedicht „o. T.“ hier also lesen und als eines der stärksten, die ich je las, loben, kann ich den Vorwurf der Willkür unmöglich als Parameter beiseite legen, ohne mich selbst der Willkür schuldig zu machen. Was ich hiermit gerne tu!)
Der Verdacht auf Gekritzel drängt sich trotzdem auf. „nehme die BACHBLÜTENTROPFEN auf zunge (3–5) gehe niemals / nach „da oben“ (psychiatrie)“… An diesem Punkt spätestens müsste sich meine Rezeptthese als sowohl banal wie auch unhaltbar entlarven. Banal aufgrund der eineindeutigen Beipackzettelprosa. Unhaltbar, weil es sich grammatikalisch doch nicht um die Anweisung, sondern die Dokumentation der Befolgung handeln muss: nehme steht im Gedicht, der Arzt schreibt: nimm.
Genommen, receptum, vermerkt aber der Apotheker, der hiermit auf den Plan tritt. Er hat alle erforderlichen Handgriffe getätigt, überreicht dem Patienten das Mittel und bestätigt pro forma seinen Gehorsam.
nehme ist also das zeitlich mittig platzierte, praktisch jedoch letzte Glied von Anweisung, Ausführung und Anwendung – die stumme Realisation eines von beiden Seiten (hand?)beschriebenen Dokuments. Und hier wird das Gekritzel zum Argument: dadurch, dass nehme nicht praktisch und stumm, sondern schriftlich realisiert wird, greift die Anwendende in den sonst in sich geschlossenen Rezeptvorgang ein und eignet ihn sich an. Sie nimmt buchstäblich, weil sie es schreibt.
Wär dies Gedicht also ein umgeschriebenes, die drei ursprünglich fremdbestimmten Glieder in sich verschmelzendes Rezept – sind dann die Wörter seine Zutaten? „,da oben‘ (psychiatrie) verbrennt etwas kosmisches wimpernglühen / haarriss oberlippe das verletzte wort das kranke wenn nachts die bilder wie dünen…“ Werden da die Apothekerrolle schwer herausfordernde, weil kaum entschlüsselbare Geschosse abgefeuert? Liegt die Anweisung zum Mischverhältnis in den diversen Schachteln der Grammatik verborgen? Und ist der Entzug von Ordnung durch Interpunktion wiederum ein Hinweis auf die Diagnose?
Aber nicht die das Rezept Ausstellende, sondern das wort ist krank und verletzt. Wieder die Falle der bewährten Methode: eine allzu denkungsgleiche Zuordnung bestätigt nur erneut die Sehnsucht nach vertrauten Scharnieren.
Das Wort also wieder als Baustein, der sich selbst negiert und darin einmal mehr existent ist: ragt, stakt, klafft. Fast kreatürlich sich krümmt und trotzdem alles begründet. Wie schon zu Anfang wirkt diese Form der Selbstbehauptung gleichzeitig unterlaufen und dreist. Die ausgestellte Intentionslosigkeit, die allerdings keinesfalls mit automatischen, respektive flattrigen Assoziationsverfahren verwechselt werden darf, läßt den Eigensinn der Wörter wie ungefiltert passieren. Dem liegt nicht Mattheit zugrunde, auch keine blinde Anbetung, sondern formvollendete, höchst sprachsensible Ratlosigkeit.
Das Gekritzel als Gerinnsel. „wanderndes angstgerinnsel weit weg vom HAGION PNEUMA –“ Therapeutisch wirkt das nicht. Und ist auch weit weg von metaphysischer Zuversicht. Immerhin, könnte man argumentieren, verbündet sich das HAGION PNEUMA typografisch mit den diesseitigen BACHBLÜTENTROPFEN. Ob dem einen wie dem anderen aber eine Wirkung zugestanden wird, bleibt sehr zweifelhaft – zumal „da oben“ keine Option ist.
Was ist daran noch Rezept? Ein intentionsloses Dokument von Ausweglosigkeit: so stell ich es dar, so stellt es sich mir da.
Was sind denn die Tugenden eines sinnvollen Rezepts? Exakte Diagnose. Der (durchaus auch ökonomische) Wunsch nach Genesung auf allen Seiten. Die unhinterfragte Bejahung nicht nur der Funktionalität von Wörtern sondern auch der des Lebens schlechthin. Ich aber behaupte: die größte Tugend des Rezepts ist seine Zettelhaftigkeit! Mag man das Heilungsvermögen von Sprache auch in Frage stellen – auf dem Zettel ist sie existent, ist Zeugnis eines noch so schamlosen Bemühens um Präzision, ist der Beweis, dass sie angefasst, nämlich genommen werden muss, um zu sein.
Und anfassen, nehmen lässt sie sich auch. „o. T.“ vollzieht das in äußerster Konsequenz – nicht nur im Titel, der bezeichnenderweise den Bogen schlägt zu den sprachscheuen Lösungen in der Bildenden Kunst.
Bleibt nur „durchgeknallt mein herz wegen dir“ noch unkommentiert. Ich könnte sie anbinden („wegen dir meine liebste“), aufspalten („durchgeknallt mein herz wegen dir“), rekombinieren („durchgeknallt mein herz – wegen dir – meine liebste dekompensation“). Ich will das aber nicht vorgeschlagen haben. Als wär die Herstellung einer Form durch Verknüpfung von Ende mit Anfang vornehmstes Merkmal des überlegenen Geistes.
Ich verweigere mich dem Ende der Besprechung dieses [mit Abstand] überlegenen Textes von Andrea Mittag.
Mara Genschel
Die Texte wurden entnommen aus: die horen, Heft 246, Wallstein Verlag, 2. Quartal 2012
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