– Zu Georg Heyms Gedicht „Der Gott der Stadt“ aus Georg Heym: Werke. Mit einer Auswahl von Entwürfen aus dem Nachlaß von Tagebuchaufzeichnungen. –
GEORG HEYM
Der Gott der Stadt
Auf einem Häuserblocke sitzt er breit.
Die Winde lagern schwarz um seine Stirn.
Er schaut voll Wut, wo fern in Einsamkeit
Die letzten Häuser in das Land verirrn.
Vom Abend glänzt der rote Bauch dem Baal,
die großen Städte knieen um ihn her.
Der Kirchenglocken ungeheure Zahl
Wogt auf zu ihm aus schwarzer Türme Meer.
Wie Korybanten-Tanz dröhnt die Musik
Der Millionen durch die Straßen laut.
Der Schlote Rauch, die Wolken der Fabrik
Ziehn auf zu ihm, wie Duft von Weihrauch blaut.
Das Wetter schwelt in seinen Augenbrauen.
Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt.
Die Stürme flattern, die wie Geier schauen
Von seinem Haupthaar, das im Zorne sträubt.
Er streckt ins Dunkel seine Fleischerfaust.
Er schüttelt sie. Ein Meer von Feuer jagt
Durch eine Straße. Und der Glutqualm braust
Und frißt sie auf, bis spät der Morgen tagt.
(1) DER GOTT DER STADT steckt auf den Seiten 42/43 in einem Verhältnis von 2 : 3 (5 x 4 Zeilen) zwischen „Verfall“ und „Berlin“ (je von Johannes R. Becher) in der besagten, in diesem Fall mattweichen Taschenanthologie, die wohl jeder, der das hier liest, irgendwo stehen hat. Ihre schlecht geklebte Falz zieht gewissermaßen einen Knick durch seinen Leib, etwa in Höhe des Magens (goldener Schnitt).
(2) Demütig, zerkleinernd (vgl. Kaubewegung, Verdauung o.ä.) ist die Wirkung auf den zweiten Blick, da der Leserin gewahr wird, daß „Verfall“ und „Berlin“, sowie fast jedes andere der sich in dieser Sammlung befindenden Gedichte Heyms, über jeweils mehr als eine Seite sich strecken dürfen, der DER GOTT DER STADT jedoch eher kauernd zwischen besagten Großtexten seines Aufgeschlagenwerdens harrt. Um ihn herum erstreckt sich dennoch allgemeine Unterlegenheit. Die Stadt, zu Städten angeschwollen, kniet: ein in den Farben schwarz, rot, blau gehaltenes, jeder Pointe enthobenes Emblem urbaner Devotionalien, dumpfen Partypulses, Arschlöchern, Indifferenz, Empörungsspaces, Think Tanks, Parolen, Haß, SUVs usw.,
(€) im Zeichen der allbekannten Schlote.
(4) Heym wiederum, Georg Heym, sein Schöpfer, taucht nur über dem Titel auf, sonst gar nicht, nicht einmal mehr als ICH, was völlig ungewöhnlich ist, zumal in unserer heutigen Zeit, dem Zeitalter der Delfine Selfies. Daher hier ein kurzer Exkurs über Heyms Äußeres. Untersetztheit und Ungeschick sind ihm durch seinen Zeitgenossen Heinrich Eduard Jacob attestiert worden, dabei aber doch, spöttisch: „rassemäßige“ Schönheit. Viel beschrieben auch seine frischen Wangen, seine „nicht im geringsten aufgedunsen(en)“ „roten Backen“, nachdem er aus dem Eis gezogen und in der Leichenhalle des Selbstmörderfriedhofs Schildhorn aufgebahrt worden war. „Naturbursche“ der von ihm gewünschten Außenwirkung nach, „eher Metzgergeselle“ als „Ästhet“, so sein Verleger Rowohlt unter der Hand zu Walter Jens. („Am besten könne er arbeiten nach einem tüchtigen Beefsteak.“ (Lily F.)) Führt man sich einmal vor Augen, mit welch kräftigem Selbstbewußtsein dieser nicht naiv gestorbene Dichter seinen Karrierestart zu entfachen trachtete, könnte man glatt verleitet sein, sich viele diesbezügliche Zaudereien und Zaghaftigkeiten als vollkommen unverhältnismäßig abzutrainieren.
(5) Viel ist beschrieben worden, wie bildgewaltig, brutal und leuchtend klar sich Heyms dystopische Visionen auf dem Papier ausnehmen. Womöglich genug. Daher sollen die letzten noch verfügbaren Zeilen hier seiner Inkarnation gewidmet werden. Auf dem Schreibtisch der Leserin liegt neuerdings das Buch Aus Mangel an Beweisen und fixiert, mit seinem Hardcovergebiß die Seiten 0–42 der Menschheitsdämmerung, damit sie „ihre Stelle“, „ihren“ Heym, nicht während sie sich damit beschäftigt, nonstop mit der linken Hand aufhalten muß. Schlägt man aber dieses ebenfalls auf, ergeben sich wunderliche Analogien. Z.B. kann man lesen, wie der Herausgeber Michael Braun sein Nachwort beginnt:
Lyrikanthologien sind sehr vergängliche Gebilde.
Kurt Pinthus’ erster Satz:
Der Herausgeber dieses Buches ist ein Gegner von Anthologien; deshalb gibt er diese Sammlung heraus.
(Jetzt muß ein Buchgebiß aber auch den Braun aufhalten, und, was ist es? Leider nur der Stuttgarter Abfallkalender.) Viel klarer noch als beim Blättern durch die Menschheitsdämmerung steht der Leserin beim Blättern durch Aus Mangel an Beweisen vor Augen, wie niederschmetternd wenig autonom ein Textkörper in einem ihn umringenden anthologischen Zusammenhang funktionieren kann. Je autonomer seine Gesten sich gebaren, desto trostloser seine im Umfeld des Wettbewerbs völlig unklärbaren Bedingungen. („Anthologien“, denkt sie, „sollten heutzutage wirklich auf ihre Funktion als dreidimensionales Inhaltsverzeichnis beschränkt und nicht auf gelungene und nicht gelungene Konzepte abgesucht werden, auch wenn das natürlich der ganze und einzige Spaß unserer zutiefst kompetitiven Szene ist.“) Ist unsere Leserin also durch ihre eigenen Erfahrungen bereits zu deformiert, um DER GOTT DER STADT aus seiner Gedrucktheit herauszulösen, ihm selbstlos zu huldigen? Mißgönnt sie gar den Expressionisten ihre viel robusteren Formationen? Etwa wie selbstverständlich Heym seine Splattermotive [„Ihr Schoß klafft rot und lang, / Und blutend reißt er von der Frucht entzwei. // (…) Das Kind hat keinen Kopf (…)“ („Die Dämonen der Städte“) oder das Bild einer gewissermaßen aus dem Darm eines Dampfers gekoteten Frauenleiche in „Die Tote im Wasser“: „Die Leiche wälzt sich ganz heraus. Es bläht / Das Kleid sich wie ein weißes Schiff im Wind.“] in ebenmäßige Vierzeiler zu packen sich nicht zu fein ist? Sie läßt den Blick durch ihr Arbeitszimmer schweifen. An einem von zartestem Tesafilm gerahmten Andachtsbildchen bleibt er hängen. Es zeigt die in einen tiefschwarzen Strich übersetzte Kopie der Falz des mit dem Pritt-Stift zusammengeklebten DER GOTT DER STADT. Gerade will sie sich vom Schreibtisch erheben, um den Staub vom Blatt zu tupfen, da stürmt Georg Heym plötzlich durchs Fenster, streckt seine Fleischerfaust ins Dunkel und aktiviert seine bisher kleinste Satzeinheit:
Er schüttelt sie.
Und wie das Reibrad am Feuerzeug setzt das ihren Schrein der verlorenen Poetovisionen komplett in Brand.
Mara Genschel, Schreibheft, Nr. 92, Februar 2019
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