DIE MESSAGE
Ich habe mir die linke Schulter totgetippt
für dich.
Ich habe mir den linken Arm und meine
linke Hand
für dich, ich schwöre. Ich bin des
Schreibens nicht
mehr mächtig, darum höre, was es von
meiner
totgetippten linken Schulter auszurichten
gibt,
an meine tote linke Hand, an meine
rechte Hand,
an meine Speiche, meine Elle, an meinen
Ellbogen,
an dich, an mich: Ich stehe in der Welt
wie eine
krankgeschriebene Sekretärin, mit einem
Büschel
Zittergras im Kopf und Moos im Blick.
Ich nehme
Schmerzen auf wie andere ihr eigenes
Gesicht im
Badezimmerspiegel. Ich möchte Flechte
von den Tasten
lecken und vom Fleck. Der Tod spielt
Oldies, bis
ich kotzen möchte, doch kotzen kann ich
nicht, weil
ich nicht mehr der Alte bin. So staut die
Kotze sich
in meiner totgetippten linken Schulter
an, Lady In
Red und Dancing Queen und In The Air
Tonight
und Hotel California und Rocket Man.
Ansonsten
gehts mir prächtig. So weit die Message.
So weit, was ich
von meiner totgetippten linken Schulter
melden kann.
wird etwas aufgeführt. Hildegard Knef steigt ins Auto. Rudolph Moshammer trägt seinen Yorkshire Terrier durch München. S.T. Coleridge macht einen Witz über Köln. Kunstwerke verschwinden. Etwas rüttelt am Fenster. Morgens, mittags, nachts. Der Amselpapst. Die Leute fangen an, Sachen zu reden. Am Wertstoffhof läuft Musik. Elvis fegt noch einmal die Einfahrt. Ich lese nur noch Pferdekrimis und suche die Sprache im grauen Bereich. Das Schlaflabor am Potsdamer Platz. Weißdorn, Majoran, Ginster…
Unerhörtes trägt sich zu in den lange erwarteten neuen Gedichten von Marcel Beyer. In jedem einzelnen der exakt vierzig Verszeilen langen Poeme nimmt sich eine andere Figur jede Freiheit, die die strenge Begrenzung ihr lässt, erzählt Geschichten, paraphrasiert Übersetzungen, stellt Reihungen an – kurz: Sie treiben es bunt, manchmal auch wild, so dass am Ende gesagt werden muss: Es wird ernst! Es wird Zeit, den Dämonenräumdienst zu rufen.
Suhrkamp Verlag, Klappentext, 2020
– Die Stuttgarter Lyriknacht eröffnet an diesem Freitag im Literaturhaus mit Autoren und Gesprächen die literarische Saison. Es geht um Dämonen, Raben, Vögel und allerlei Gezwitscher. –
Wir leben im Zeitalter globalen Gezwitschers. Aber was die Sprache der Vögel dem entgegenzusetzen hat, was die Twitter-Spatzen alltäglich von den Dächern pfeifen, lässt sich in der anbrechenden Stuttgarter Lyriknacht erfahren.
Jedes Jahr wird die literarische Saison mit einem Hochamt der Sprache eröffnet, bei dem sich die drei wichtigsten Institutionen der Stadt auf diesem Gebiet zusammentun, Literaturhaus, Stadtbibliothek und Schriftstellerhaus, um die Sinne zu schärfen für das, aus was Literatur in ihrer reinsten Form besteht. Und was dieses Mal geboten wird, könnte man getrost unter dem Titel Birdwatching fassen.
(…)
Den Büchnerpreisträger Marcel Beyer, mit dem die Stuttgarter Lyriknachnacht endet, könnte man einführen als jemand, der Romane über Fledermäuse und Vögel schreibt. Doch in seinem neuen Gedicht-Band Dämonenräumdienst nach einem ornithologischen Einschlag zu suchen, hieße die Suche nach Gemeinsamkeiten zu weit zu treiben.
Eher begegnet man hier dem unheimlichen Yorkshire Terrier Daisy des Münchner Modezombies Rudolf Mooshammer („ein Hund, / und sei er noch so klein, kann / lebendige Wesen zerbeißen“), Bambi („der Dichter arbeitet als Reh im Innendienst“) oder dem Hai der bei Damien Hirst Modell gesessen hat. Wenn man jedoch die aus allen kulturellen Sphären eindringenden Dämonen, die sich wie Grotesken durch die strenge Ordnung der aus jeweils zehn Vierzeilern bestehenden Ordnung winden, generell der luftigen Sphäre zuweisen würde, wäre man wieder nah am Vogelwerk. Und siehe da, schon fliegt ein Amselpapst vorbei:
Ich sah den Amselpapst, man konnte
ihn nicht übersehen, ich
sprach das Stoßgebet, doch es war
schon um mich geschehen.
– Der Dichter Marcel Beyer wirft mit Dämonenräumdienst die große Wörterzentrifuge an. –
Keine tollkühneren ersten Sätze als die von Marcel Beyer. „Mein Daumenabdruck steckt in / einer schweren Krise“, bekennt er in seinem neuen Gedichtband Dämonenräumdienst. Oder:
In meiner Hasenzeit habe ich so häufig
mit Joseph Beuys geschlafen
Oder:
Der Dichter arbeitet als Reh im
Innendienst
Oder mit Gruß an Paul Celan:
Der Tod ist ein Arschloch aus Strehlen
Wer da erst einmal Bahnhof versteht, hat völlig recht. Anschließend wird es nur nicht unbedingt besser. Wie heißt es programmatisch in einem anderen ersten Satz?
Ich brauche morgens viel zu lange,
bis ich mich fremdgeschrieben
habe
Vielleicht lohnt es sich angesichts von so viel Fremdheit, mit dem bloßen Staunen anzufangen.
Auch mit einer Portion Angstlust kommt man weiter als mit dem krampfhaften Versuch, den Schlüssel zu dieser Welt des Zwielichts zu finden. „Dunkelheitsattacken / lugen Dunkelheitsreserven an“, steht da warnend. Und so tastet man sich eher blind als sehend durch die Kabinette des Absonderlichen hindurch, die der Büchner-Preisträger hier aufgestellt hat.
Freirhythmische Texte im Einheitsformat von zehn mal vier Zeilen, die sich über 160 Seiten hinweg eingeweckt wie die Formaldehyd-Präparate im medizinhistorischen Museum der Charité aneinanderreihen, nur dass es hier im Inneren noch leise zuckt und zittert. Sprachliche Mischwesen werden hier aufbewahrt, Wortmissbildungen, formvollendet deformierte Fügungen:
Ich zerstöre
noch ein Gedicht und mache
für heute Feierabend.
Dichtung bewegt sich seit jeher zwischen den Polen des Erlebten und des Gedachten, eines Wirklichkeit nachbildenden und eines Wirklichkeit erzeugenden Schreibens. Wenn sich der Magnetismus seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr in Richtung textlicher Autonomie verschoben hat und in den lautpoetischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts seinen Höhepunkt fand, so ist das eine doch nie ganz ohne das andere zu haben.
Es gibt kein in Wörtern und Sätzen organisiertes Schreiben, das nicht auf bestehende Lexika zurückgreifen müsste. Und niemand kann sich dabei so fremd werden, dass sich darin nicht winzige Reflexe des eigenen Lebens und der eigenen Zeit finden würden.
So stolpert man auch in Marcel Beyers Gedichten, die sich mit aller Macht in ein jenseitiges Buchstabenland begeben wollen, in dem nichts herrschen soll als das Gesetz der Schrift, über Wirklichkeitsreste, auch wenn diese bloßes Spielmaterial einer ersten Personal Singular sind, die sich als fest umrissenes Ich nicht mehr versteht. Im Wechsel von Hoch- und Popkultur melden sich hier Johnny Cash, Elvis Presley und Brian Eno zu Wort, Céline, Dion und Billie Holiday. Helden und Heldinnen aus Beyers persönlichem Universum, die diesen Gedichten Farbe verleihen.
Auch der von einem Strichjungen schmählich erdrosselte Münchner Modedesigner Rudolph Moshammer („ein Wort wie Baggerblut“) und sein Yorkshire-Terrier Daisy haben einen Auftritt. Figuren, von denen man, da sie als bloßer Name vorkommen, eine bildliche Vorstellung haben muss, damit sie die ihnen zugewiesene Wirkung erzielen. Dennoch sind auch sie nur Bedeutungsgischt im großen Signifikantenrauschen.
Marcel Beyer, den seine Essays und Romane als wachen, auch durchaus politisch hellhörigen Zeitgenossen ausweisen, richtet seine ganze Neugier auf die Prozesse, in denen Sprache sich selber fortzeugt, in denen sie gutartig und bösartig vor sich hinwuchert und alles Gegenständliche verschlingt.
Das ist natürlich kein völlig unbewusster Vorgang. Der Schriftsteller stellt immerhin den Schädel zur Verfügung, durch den Sprache hindurch muss, bevor sie ihr Eigenleben entfaltet. Aber als kontrollierende Instanz nimmt er sich so weit wie möglich zurück und rückt stattdessen in die Rolle des musikalischen Direktors, der mit grimmigem Humor beobachtet, was ihm aus den Fingern quillt.
„Ich sah der Metaphernanrichte in / ihre Eingeweide“, schreibt er und entdeckt, wie „die Sprache ein Bäuerchen macht“. Mit kühlem internistischen Blick nimmt sich Beyer dieses linguistischen Verdauungstrakts an, im Wissen, dass es von dort aus nur noch tiefer ins Bodenlose geht, wo jeder Sinn zerstiebt, oder zurück in die trügerische Sicherheit eines festen sprachlichen Grunds.
Bei alledem wird hemmungslos zitiert, paraphrasiert, verwurstet und gegen den Strich gebürstet. Mit Evergreens wie dem Proust’schen „Eines Tages werde ich sehr früh / aufstehen“, aber auch mit Raritäten wie „Coleridge, in Köhln“, der Überschreibung einer Köln-Erinnerung, die der englische Romantiker 1838 während einer Deutschlandreise festhielt:
In Köln, a town of monks and bones,
And pavements fang’d with murderous stones
And rags, and hags, and hideous wenches;
I counted two and seventy stenches,
All well defined, and several stinks!
Bei Beyer beginnt das so:
In Köln, einer Stadt der Knochen
und Kutten, mit Kopfsteinpflaster
zum Schädelknacken und
Möhnen und Ollen und hässlichen
Putten, da roch es, als wären alle
am Backen. Samuel Taylor
Coleridge zählte zweiundsiebzig
Miefe, und jeder ausgeprägt, jeder
ein unvergleichlicher Gestank.
Eine ganze Weile ist das ein großes Vergnügen, weil es von einer Überraschung zur nächsten führt, bis sich in dieser stab- und schüttelreimenden Wörterzentrifuge durch die pure Textmasse der in vier Abteilungen und einen Zyklus gegliederte Sammlung eine ermüdende Mechanik einstellt. Da wird aus der Schattenküche erst die Schamanenküche, dann die Schlammküche, die Schamküche und schließlich die Wahnküche: ein viele Gedichte bestimmendes Verfahren der geradezu algorithmisch nachstellbaren Metamorphose.
In seiner mal mehr, mal weniger herrlichen Albernheit grenzt das manchmal an die humoristischen Exerzitien von Max Goldt. „Ich möchte hastig schreiben, / unterkühlt und lichterloh, / unbemerkt und ungeimpft“, heißt es bei Beyer. Nicht nur des Vokalstands wegen ist das nah an Goldts „Ungeduscht, geduzt und ausgebuht“. Trotzdem hat fast jeder einzelne von Beyers Texten eine Dichte, die in den übervölkerten Breiten der zeitgenössischen Lyrik nur die Wenigsten herzustellen vermögen.
– Bewusstseinsarchäologie eines poetischen Spürhundes: Marcel Beyers neue Gedichte. –
Die Obsessionen Marcel Beyers lagen seit jeher in seiner bundesdeutschen Kindheit, als im Fernsehen neue Mythen geschaffen wurden und Zeitschriften wie Der kleine Tierfreund ein trauliches Behütetsein vermittelten. Auch in seinen neuen Gedichten blitzen Chiffren dieser scheinbar überschaubaren Welt auf: da gibt es die „Tchibo-Taschenlampe“, das Maggifläschchen, den Resopaltisch oder das Rattansofa. Aber das Unheimliche, das in diesen Objekten steckt, wird mehr und mehr beredt. Beyer ist in den Urknall der modernen Pop- und Konsumwelt hineingewachsen, er hat sich bereits mehrfach als Virtuose im Umgang mit diesen Einflüssen gezeigt und etwa den Effekten des Reggae und des Dub glitzernde Farben abgewonnen. Doch auch die dunklen Seiten verkennt er nicht:
So staut die
Kotze sich
in meiner totgetippten linken Schulter
an, Lady In
Red und Dancing Queen und In The Air
Tonight
und Hotel California und Rocket Man.
Beyer verwirbelt in ausgefeilten Improvisationen das Inventar seiner Sozialisation, die Einrichtungsgegenstände, die Tier- und Fabelwesen sowie die popkulturellen Prägungen, und es entstehen ganz neue Muster und Textwelten. Der Humor, der da am Werk ist, verweist in Abgründe, die mit Plüsch ausstaffiert und deshalb umso horrender sind. Dieser Lyriker vermengt das Schöne und das Schreckliche zu etwas ganz Neuem. Die Vätergeneration des 1965 geborenen Beyer war vom Zweiten Weltkrieg und von Elvis Presley geprägt, und entscheidend ist dabei, wie das vielfach gebrochene „Ich“ dieser Verse in eine spezifische Las-Vegas-Atmosphäre hineingeboren worden ist, „Elvis in / seiner späten Gospelphase“. Und wie es diese „Sacropopjahre“ imaginiert, die „kleine Fischbude des toten King“ und in „Elvis Presleys letzte Fischbulette“ beißt: das ist wirklich ein vielschillerndes Identitätsnetzwerk. Was dem diese Zeit inhalierenden Heranwachsenden bleibt, ist neben den Tierfilmen und Bernhard Grzimeks Sendungen aus dem Zoo der „Gospelhase“, der „über die Bühne hoppelt“, und dazu ein paar „Sacropopnoten, denn alles andere / wäre mir zu radikal.“
Zu den frühen Medienerfahrungen, die das Bewusstsein imprägnieren, gehört auch das „fusselnde Gruselfilmmaterial“, als das sich der Flokati-Teppich entpuppt, oder der „Stummfilmhimmel“, mitsamt allem „Schriftschrot, Schriftgranulat, // das auf dem Zelluloid zerfließt“. Und damit wird das konkrete Zentrum dieser Gedichte benannt. Die „Schrift“ ist das Medium, mit dem das Gedicht sich selbst reflektiert, und deshalb geht es hier nicht um bloße Erinnerungsfragmente, sondern um die Art und Weise, wie das alles zu einer Kunstform gerinnt. Das erste Gedicht des Bandes mit dem Titel „Farn“ führt dies programmatisch vor. Der Farn ist hier zu einer Torflandschaft geworden, „ein Buch, in unentzifferbarer Schrift verfaßt“, und der dichterische Vorgang erscheint dann so:
ich knipse was an: Wildsein,
Erinnern, der Versuch einer
Schwarztorflektüre – schwarz auf
schwarz.
In die Bestandsaufnahme dessen, was die eigene poetische Landschaft ausmacht, die Kunst- und Medienwelten der frühen Jahre, mischen sich Zeilen, die benennen, was in diesen Texten passiert: „Schreib es auf, sonst mußt du es / am Ende noch erleben“, oder:
Ich brauche morgens viel zu lange,
bis ich mich fremdgeschrieben habe.
Beyer schließt an die Selbstreflexionen an, die seit Beginn der Moderne das Schreiben ausmachen und es gleichzeitig in Frage stellen. Den Gegensatz zwischen Hoch- und Populärkultur, der lange Zeit als selbstverständlich definiert wurde, hat es für diesen Schriftsteller von Anfang an nicht gegeben. Aber das Charakteristische an ihm ist, wie er diese Erfahrung verschiebt und seinen Umgang mit Populärkultur zu ästhetischen Reizen vorantreibt, die an die lyrische Tradition hinterrücks wieder anschließen. Es ist deshalb mehr als ein bloßer Budenzauber, wenn er seinen Amanda-Lear- oder Micky-Maus-Imaginationen auch Anspielungen auf Dichter unterjubelt, die dem Hausbuch deutscher Poesie entstammen. Gerade identifikatorisch wird es bei einem alten König des Absurden:
Lesen Sie Günter Eich. Das
Spätwerk. Zweiunddreißigmal.
Oder, in einer irrwitzig kalauernden Anrufung Gottfried Benns:
In meinem
Elternhaus lagen keine Marlboros,
wurde kein Dujardin serviert.
Hier werden den Gemälden „Gainsboroughs“ bei Benn neue Mängel in der Generationenerfahrung entgegengestellt, und auf Benns heroische Welten zielt in der Folge auch die Erkenntnis:
und zugleich ist es
unendlich schwer, an Orten wie
diesen ein Mann ohne Laserschwert
zu sein.
Natürlich merkt man im aktuellen Hölderlinjahr besonders auf, wenn ein Gedicht den Titel „Weh mir“ trägt, den berühmten Ausruf des schwäbischen Weltenzerreißers aus dessen Gedicht „Hälfte des Lebens“ zitierend. Und die Umspielungen dieses Gedichts tragen noch weiter, auch Marcel Beyer sieht sich zweifellos in der Hälfte seines Lebens angelangt, aber er liest das alles gegen den Strich:
und wo
nehmt ihr, ihr holden Schweine, wenn
es Zeit ist für euch, für die Hölle, den
Sonnenschein, Marienkäfer und
süße punktierte Haut, und wo das
tüchtige Wasser, eure heillosen
Schädel zu tunken und die heillosen
Birnen und Rosen.
Die Gedichte in Dämonenräumdienst haben eine klassische Anmutung: sie bestehen allesamt aus zehn Vierzeilern, die hübsch geordnet anzusehen sind, auch wenn sie sich nicht reimen. Aber innerhalb dieser strengen äußeren Form geht es kreuz und quer, überlagern sich die Zeiten und die Assoziationen. Die Anfänge wirken dabei oft wie hitverdächtige Tracks: „Wie unter milden Drogen geht / der Tag dahin“, oder:
In meiner Hasenzeit habe ich so häufig
mit Joseph Beuys geschlafen, ich
weiß wirklich nicht mehr, wann er
endlich schwanger war
Die Bilder werden jedes Mal konsequent weiterentwickelt, so dass ein flirrender selbstreferenzieller Rahmen entsteht. Am meisten groovt wahrscheinlich die Eingangssentenz: „Der Dichter arbeitet als Reh im / Innendienst“ – was daraus dann wird, ist ein Meisterstück aus Autorpoetik, Hochkomik und Gesellschaftsanalyse. Rezeptionsgeschichtlich unübersehbare Figuren wie Hildegard Knef oder Rudolph Moshammer erweisen sich im Nachspüren ihrer Bedeutungsfacetten als besonders ergiebig, wobei „Daisy“, der Yorkshire-Terrier des letzteren, äußerst effektvoll die Tiermotivik fortsetzt.
Den Schluss dieses bezwingenden Bandes bildet der sechsteilige Zyklus „Die Bunkerkönigin“, der den Hintergrund der Gedichte noch einmal ausleuchtet: es geht um die Nachkriegstraumata, die in diesen Kindheitsbildern mitschwingen, um das Unbewusste in den Aufschwungphasen der alten Bundesrepublik und um den Dämonenräumdienst, um das Zerschreiben der Märchenwelten und Fabelwesen, die sich früh festgesetzt haben. Die Wohlstandsfassaden zeigen Risse, die erst heute richtig sichtbar werden. Diese Gedichte sind die Bewusstseinsarchäologie eines poetischen Spürhundes:
ich lasse (…)
die Bunkerlauge, den ewig
nachtropfenden Bunkerschweiß,
lasse das ganze faule Gebräu sich
mit Kriegs- und Nachkriegsdreck
vermengen, lasse Betondecken
Moorboden sein: Ich räume
auf vor meinem inneren Auge.
Das vierzigzeilige Gedicht hat keinen lyrischen Nimbus wie etwa das Sonett. Doch als ein Zehnfaches des Quartetts kann es zumindest Anspruch auf eine klassische Anmutung erheben, und Marcel Beyer als mit allen Wassern der Theorie, aber auch der Phänomenologie gewaschener Dichter weiß das nur zu genau. So hat er für seinen Lyrikband Dämonenräumdienst zwei Jahre lang lauter Vierzigzeiler, jeweils gegliedert in zehn Quartette, zusammengetragen, insgesamt deren 76, und dann in fünf Abteilungen geordnet, von denen zwei schon vorab publiziert wurden – eine Abteilung als bibliophile Liebhaberausgabe, die andere als Begleit- oder besser Bereicherungstexte zu einer Serie von Bunkeraufnahmen des Fotografen Boris Becker. Wenn ein Autor wie Beyer einen solchen Werkblock auftürmt, hat er noch andere Interessen als formale Geschlossenheit.
Inhaltlich bietet Dämonenräumdienst ein Wechselbad der Gefühle und Beobachtungen. Buchstäblich Anschauliches („Der Tod in den Büschen“ über einen Blick im Vorbeifahren auf eine am Straßenrand liegende Leiche: „Er trug keine / Schuhe. Fast frage ich mich, / ob er noch beide Füße hatte. Keine / Sprache mehr setzte ihm zu“, heißt es da am Ende des Gedichts) wird unmittelbar gefolgt von Lyrisch-Reflexivem („Schrot“ mit dem Anfang: „Manches muß man zerschreiben, / muß man ermüllern, damit / es – als Schrot oder Mehl oder / schmutziger Schnee – einen // opaken, einen in alle Richtungen / fließenden Bildgrund ergeben / kann. Dunkelheitsatttacken / legen Dunkelheitsreserven an“). Diese Beispiele zeigen, dass es keinen poemübergreifenden rhythmischen Zusammenhang gibt: Die Hebungen wechseln bisweilen noch im Gedicht selbst, und auch wenn Beyer das Enjambement über die Quartettgrenzen hinweg besonders schätzt, gilt das doch, wie das zweite Beispiel zeigt, nicht als feste Regel. Es ist vielmehr der freie Fluss der Formen, der den Reiz ausmacht, und das schließt auch Gedichte ein, die ungeachtet des Verzichts auf Schlussreime zumindest unreine Binnenreime und Assonanzen als markante Elemente aufweisen (wie sie auch Jan Wagners Lyrik charakterisieren). Beyer beweist damit, dass der Reimverzicht für ihn nicht etwa Bequemlichkeit oder gar Beliebigkeit bedeutet.
Vielmehr ist hier alles so durchdacht, dass auch die eher erzählerischen Partien in den Abteilungen als Flaschenpostsendungen erscheinen, mit denen lyrisch-programmatische Aussagen eingeschmuggelt werden. So etwa im Fall von „Am See“, eine von gleich zwei (auf zwei Abteilungen verteilte) Hommagen an die Deutschland-Reisen des englischen Romantikers Samuel Taylor Coleridge. In der ersten sitzt der Dichter im Winter 1799 am Ratzeburger See und notiert sich deutsche Vokabeln:
Diese Sprache heißt Schlittschuh
laufen und zugleich hinterm
Fenster im Warmen sein, um die
Schlittschuhläufer draußen auf
dem See zu betrachten. Die leise
Luftnot im norddeutschen
Winter, der Knoten im Hals, diese
Sprache, der Duft und die
herrliche Eisigkeit diese herrlichen
eisdeutschen Lüfte. Das Textband,
der Schal – da flattern sie hin.…
Natürlich evoziert das Thema das berühmteste deutsche Gedicht darüber: Klopstocks Ode „Der Eislauf“. Coleridge hatte in Begleitung Wordsworths vor seinem Ratzeburg-Aufenthalt Klopstock in Hamburg besucht. Germanistische wie anglistische Forschung – zuletzt vor zwei Jahren Jeremy Adler – sehen wichtige Einflüsse des deutschen Dichter-Doyens, doch Beyer fährt fort:
Der
alte Mann Klopstock dagegen,
mit seinem zahnlosen Oberkiefer
und seiner schrecklichen
Mufflonperücke: ein Deutsch
ohne Hüfte. …
Sprachliche und formale Beweglichkeit ist es, der Beyer hier mit der Stimme des lyrisch denkbar flexiblen Coleridge gegen den hüftsteifen Klassizismus Klopstocks das Wort redet. Und solche geradezu sportliche Beweglichkeit ist denn auch das zentrale Merkmal von Dämonenräumdienst, explizit gemacht in „DDT“:
Ich möchte hastig schreiben,
unterkühlt und lichterloh,
unbemerkt und ungeimpft, ich
möchte hastig schreiben,
unzivil und unbestimmt, von keiner
Schriftsprache beschirmt.
Derartige Unberechenbarkeit als Prinzip lässt aber auch Heikles zu wie „Ginster“, in dem Beyer vielfach auf das berühmteste deutschsprachige Gedicht der Nachkriegszeit anspielt.
Der Tod ist ein Arschloch aus Strehlen,
er hockt dort, wo der Ginster
blüht. Ich seh ihn am frühen Morgen,
ich eh ihn an meinem Weg,
wie er mit seiner schwarzen Zunge
die Blüten des Ginsters berührt.
Die Kronblätter, die behaarten, ich sehe,
wie er sie leckt, und ich flüstere
bei jedem Schritt: Er will mich ja gar
nicht haben, er will mich ja
nur quälen, wenn ich zur Straßenbahn
gehe. Der Tod ist kein Mann,
auch kein Junge, die Gärtner haben ihn
gern. Sie geben ihm Wasser, sie
geben ihm Sand, sie geben ihm Licht,
sie geben ihm Stein, und ich
flüstere immer für mich: Halte dich
von den Gärtnern, halte dich von
den Heckenscheren und dem finsteren
Grinsen fern. Der Tod ist ein
Arschloch aus Strehlen, ich weiß es,
er hält die Gärtner in seiner
Gewalt. Er leckt immer dieselben
Stellen, das weiß ich, denn ich sehe
jeden Morgen, wie er seine steife Zunge
tief in die Ginsterblüten steckt.
Wenn ich morgens zur Straßenbahn
gehe, flüstere ich bei jedem Schritt:
Bitte nicht ich, nur bitte nicht ich, ein
Gärtner soll der nächste sein.
Denn wenn er mich einmal entdeckt,
dann weiß ich, er schleudert,
sobald sie reif sind, die Schleuderfrüchte
des Ginters nach mir. Der Tod
ist ein richtiges Arschloch, er wechselt
niemals den Ort. Seine schwarze,
steife Zunge schleckt Ginsterblüten ab.
Der Ginster wird überwintern,
und ich, ich gehe ein. Nimm mich
fort. Nimm mich fort.
Was passiert hier? Nicht nur unmittelbare Wortübernahmen und der litaneihafte Rhythmus beschwören Celans „Todesfuge“ herauf; Motive daraus werden assoziativ ergänzt. Der Schwarz-Gold-Gegensatz bei Celan wird nicht explizit gemacht, aber über die Ginsterblüte in den Dresdner Gärten doch vorgeführt. Aus dem Todestrank wird das Schlecken, ein erotisch-morbides Motiv, das aber im lyrischen Spiel mit Celans Gedicht etwas Frivoles bekommt. Natürlich weiß Beyer auch hier genau, was er tut:
ich schreibe diese Gedichte
wie ein Kind, das heimlich
tut und einfach froh ist, wenn
niemand mit ihm schimpft.
Solche Zurückhaltung kann Marcel Beyer aber doch nicht ernsthaft erwarten?
– Im Gedichtband Dämonenräumdienst geht Marcel Beyer auf Geisterjagd. Dabei erkundet das lyrische Ich die eigene Vergangenheit und begegnet Untoten. –
Marcel Beyer hat seine Literatur mal als „unablässiges Wechselspiel“ bezeichnet, in dem der Autor den Abstand zwischen sich und der Welt immer neu vermisst. Beyers literarische Arbeiten, sowohl Lyrik als auch Prosa, sind daher auch keine auf Hochglanz polierten Textblöcke, sondern eher fragile Gebilde, die Löcher aufweisen, Untiefen beschreiben, Räume öffnen.
Mehrstimmigkeit ist hier das zentrale Stilmittel, ein „Gegengift“, wie es in seinem letzten Gedichtband Graphit hieß, „gegen den ganzen monolithischen, den fanatischen, den faschistischen und chauvinistischen Schwachsinn in der Poesie und das Reden darüber“.
So heikel es ist, Literatur auf biografische Erfahrungen zurückzuführen, für das Werk Beyers können sie aber auch ein Lektüreschlüssel sein. So spielen die Wohn- und Schaffensräume Beyers eine wichtige Rolle: Oft ist er umgezogen, hat im Ausland gelebt und gelehrt, und vielleicht haben die vielen Eindrücke an den unterschiedlichsten Orten auch dazu beigetragen, dass die literarische Offenheit zu seinem literarischen Programm wurde.
Geboren wurde Marcel Beyer 1965 in Tailfingen, einer 700-Seelen-Gemeinde im Zollernalbkreis in Baden-Württemberg; aufgewachsen aber ist er in Kiel und Neuss. Er studierte in Siegen, wohnte unter anderem in London, in Berlin und seit 1996 im Dresdner Stadtteil Strehlen. Neben den Bezügen zu diesen Orten ist auch die geistige Landschaft, in der sich Beyer verortet, wichtig für das Verständnis seiner Texte, die von den Arbeiten Friederike Mayröckers und vom französischen Nouveau Roman geprägt sind.
Collage, Zitat, Vielstimmigkeit sind wesentliche Merkmale, die beim Büchner-Preisträger des Jahres 2016 immer auch einen Echoraum für deutsche Geschichte, aber auch für die Popkultur bilden. Der Witz bei all dieser Ambition ist: Marcel Beyer gelingen trotzdem federleichte Formulierungen, so auch im neuen Gedichtband mit dem schönen Titel Dämonenräumdienst, der sich nicht nur mit merkwürdigen Untoten aus der Unterhaltungsindustrie, sondern auch mit schlimmen Ungeheuern der Kindheit beschäftigt.
Schon in den ersten Gedichten des Bandes geht es in das Kinderherz der Finsternis. Bambi tritt auf, und der Dichter fühlt sich „als Reh im Innendienst“. Das lyrische Ich erkundet die eigene Vergangenheit und damit auch die Welt des Vaters, über den es heißt:
In meines Vaters Haus sind viele
Wohnungen. Ich möchte keine
einzige von innen sehn. Parterre
Steht man knöcheltief in Marzipan.
Es ist eine zähe und klebrige Masse der Erinnerung, durch die hier gewatet wird. Vom Knabenchor geht es zum Dentallabor, und daheim, im „ersten Stock / greift einem etwas in den Schritt“. Marcel Beyer macht nicht den Fehler, die Zumutungen, Ungeheuerlichkeiten und Übergriffe in der Kindheit auszubuchstabieren. Mit wenigen Zeilen ist alles gesagt.
Geister sind das, hier in deiner
Bude, deren letzte Winkel
die Tchibo-Taschenlampe nicht
erfaßt.
Das dunkle Kinderzimmer wird „Blutbude“ genannt, etwas Freiheit und begrenztes Glück gibt es nur außerhalb. Das Gefühl aber, dass an jeder Ecke seltsame Figuren lauern, wird diese Dichterstimme, die an so vielen Orten unterwegs ist, ein Leben lang nicht mehr los.
Der merkwürdige und schon zu Lebzeiten ziemlich untote Modeschöpfer Moshammer („Ein Wort wie Baggerblut.“) trägt bei Beyer immer noch sein Hündchen Daisy durch München, in „Köln, einer Stadt der Knochen / und Kutten, mit Kopfsteinpflaster / zum Schädelknacken“ riecht und mieft es auf mal betörende und dann wieder ekelhafte Weise. In diesen Versen scheint das ganze Leben, wo auch immer es stattfindet, dem Tod nah zu sein:
Die Tage gibt es, an denen man
als Zombie durch die Szene
wanken muß, über den Wertstoffhof
am Rand der Stadt, bei zwei
Grad Außentemperatur, mit Dunst
im Blick und kaltem Staub.
Genau vierzig Zeilen ist jedes Gedicht lang, in übersichtlichen Viererpäckchen zusammengeschnürt. Der strenge Rahmen der fünf Zyklen im „Dämonenräumdienst“ erinnert auf formaler Ebene an das Haus des Vaters, dem es zu entkommen gilt. Nicht nur das ständige Umherziehen, sondern auch das Schreiben, das „unterkühlt und lichterloh“ sein möchte, wird zur Fluchtbewegung, die doch immer wieder von der Kindheit eingeholt wird:
[…] ich schreibe diese Gedichte
wie ein Kind, das heimlich
tut und einfach froh ist, wenn
niemand mit ihm schimpft.
Was Beyers sprachliche Such- und Fluchtbewegungen auszeichnet, ist die schonungslose Offenlegung der lyrischen Perspektive, die keineswegs naiv ist, in den besten Momenten aber eine kreativ-kindliche Lust am Sprachspiel zeigt. Die Dämonen haben diesem Dichter den Schalk jedenfalls nicht austreiben können:
Irgendwer sollte endlich einmal
HAAR auf GEFAHR reimen,
oder GEFAHR auf ein keimiges
Rattansofa, und sei es
auch nur um den Klang in den
Abgrund gleiten zu lassen.
Marcel Beyer sucht die Abgründe, die seelischen und sprachlichen. Zuweilen ist es mühsam, dem Dichter auf allen Poesie-Pirouetten in die Düsternis zu folgen. Einige Wortneuschöpfungen, manche Metaphern wirken auf eher routinierte Weise verspielt. Insgesamt geht er ein hohes literarisches Risiko ein, wenn er beispielsweise mit „Ginster“ Paul Celans „Todesfuge“ reformuliert. Der Tod ist hier kein „Meister aus Deutschland“, sondern ein „Arschloch aus Strehlen“, der „mit seiner schwarzen Zunge / die Blüten des Ginsters berührt“.
Die Pflanze ist bekanntlich giftig. Wenn Beyer sie nun in den Vorgärten des Dresdner Vorortes Strehlen üppig wachsen lässt und die Bildwelt der „Todesfuge“ paraphrasiert, dann ist das auch als politischer Fingerzeig zu lesen, hat der Autor in zahlreichen Interviews doch oft auf den wachsenden Alltagsrassismus in seiner Wahlheimat hingewiesen.
Im Titelgedicht, das in der Mitte des Bandes platziert ist, lässt Marcel Beyer endlich den „Dämonenräumdienst“ kommen, der auch nötig ist, um die vielen Untoten zu stellen, die in diesen Versen herumspuken. In gewisser Weise ist Marcel Beyer so etwas wie ein Geisterjäger der deutschsprachigen Lyrik, der weiß, dass die Ghostbusters der Poesie letzten Endes nicht erfolgreich sein können. Denn kaum ist ein Zombie erkannt, vielleicht sogar niedergestreckt, irren sensible Helden schon wieder „in einem anderen Wald“.
Das ist schillernd, funkelnd, oszillierend zwischen Postmoderne und Tradition – ist lyrische Echokammer mitten hineingestellt in die und ausgeliefert der Informationsgesellschaft: Marcel Beyer, den meisten eher bekannt durch seinen Roman Flughunde, legt mit Dämonenräumdienst (Suhrkamp) lang erwartete neue Gedichte vor. „Der Dichter arbeitet als Reh im / Innendienst“, heißt es an einer Stelle, die Kontextwelten aufeinanderprallen lässt. Beyer zieht den blütenweißen, wollenen Faden „Sprache“ durch den Bilderhageleintopf aus Alltag, Konsum, Kapital und Ennui, schaut, was daran hängenbleibt, und übernimmt als Erziehungsberechtigter der Impulsreihen die Fügung ins Gedicht.
Dabei trifft Popkultur auf unvermindert hohen Ton der Lyrik, Alltagspartikel wie die Tchibotaschenlampe auf hochartifizielle Formkunst. Dämonenräumdienst ist ein Gedichtband, in dem sich Amselpapst, das Buch als Rauschraum, Eiweiß-Verben, Metzgerhandy, Tintenstimme, Disney, Hildegard Knef, eine Welt voller Dackelhälften surreal aneinanderreihen. Beyer gelingt es, einem so unglaublichen Motiv wie Daisy, dem Schoß- und Tragehündchen Rudolph Moshammer, ein Gedicht abzuringen; mit gewaltiger Sprache – „Moshammer. Ein Wort wie Baggerblut.“ Bei all dem hat Beyer dem ozeanischen Sprachfluss ein strenges Korsett gesetzt: Jedes Gedicht ist in exakt 40 Verszeilen gesetzt. Was Buch und Lesen rhythmisiert, manches Gedicht endet im Kreisschluss.
Beyers Sprache selbst beginnt immer wieder ihren eigenen Assonanzen zu lauschen. Beyer hört und bewegt sich mit der Zunge in die Klangbilder der Worte, greift auf, verhört und verliebt sich – und spricht und schreibt weiter. Den Prozess des Versprechens – und Verlesens: Blutliter statt Butterfly – greift er im Gedicht auf:
Eine bodenlose, eine
vollkommen wortlose Blutliter –.
ich wollte sagen: Butterfly-
Literatur, wie sie vor dir zu
Boden geht…
Das ist nicht minder als großartig. Tongue-in-cheek-Sprachspiel bettet sich ein in komplexe Metaphernspiele. In Fünf Rezepte gegen Krötigkeit, dem dann doch schwächsten Gedicht, paart sich Dada-Nonsens mit kryptischem Kinderlied, der hohe Ton aber, irgendwie, bleibt. Wer dieses Jahr auch nur einen Lyrikband lesen möchte, der lese, als zarte Zumutung, diesen.
– Der Lyriker und Romancier Marcel Beyer verknüpft in seinen neuen Gedichten, was nicht zusammengehört. –
Man könnte annehmen, Gedichte entstünden aus dem Inneren, in der eremitischen Klause des Ich. Nicht im Falle von Marcel Beyer. Damit ein Poem gelingt, muss er sich „fremdgeschrieben“ haben. Losgelöst vom eigenen Selbst, „generiere [ich] mich heute // halb Honig, halb Einbauschrank“ zu sein. Für die Sätze des Poeten gilt: Everything goes. Und so fließt die Sprache unentwegt, schlägt Volten, dringt in entlegene Bildbereiche vor.
Ein paar finstere
Manuskriptseiten weiter wimmert
das Holz, wimmert Gestein.
Was der 1965 geborene Büchner-Preisträger mit seinem neuen Band Dämonenräumdienst präsentiert, ist eine unstete Dichtung. Wir wechseln zwischen der realen und der „Märchenwelt“ und denken uns von einem Raum in den nächsten – geleitet von einem grenzenlos befähigten Textsubjekt. Denn „der / Dichter schläft als Hoch- / und Mittel- und Niederwild im Nebenkeller“. Kurzum: Er kann im lyrischen Text alles sein und werden. Beyers Lyrik verhandelt daher die Möglichkeitsvielfalt poetischen Schreibens selbst. Seine Entwürfe streben dabei nicht nach Vertiefung, sondern nach der Vermehrung von Perspektiven.
Nicht zuletzt aus diesem Grund finden sich in seinen Miniaturen immer wieder nicht zusammengehörige Begriffe. Wenn der Dichter etwa von Natur schreibt und sich als Reh definiert, so befindet er sich im „Innendienst“. Romantik trifft also auf Bürokratie. Gerade Letztere inszeniert Beyer auf ironische Weise als Produktionsmaschine für unbekanntes Vokabular. Von „Schlampenstempel“ bis zum „Vorfahrengummistimmenecho“ reichen die vielen Komposita, die stellenweise durchaus Lesevergnügen bereiten. Eine Beschränkung legt sich der künstlerische Freigeist allerdings durch das rigide Design auf. Jeder noch so dynamische Text besteht aus exakt zehn Quartetten.
Ästhetisch mag das Ringen mit der Form zweifelsohne überzeugen. Aber genügt dieses Spiel? Kann man sich mit der Selbstreflexion des Dichtens abfinden? Woran es Beyers neuem Buch mangelt, ist schlichtweg Bedeutsamkeit. Zu viele Sujets werden gestreift. Wenn ein Text vom „Gastropop“ zur „Schulter“, die ein „Facettenauge“ sein soll, ferner zum „Gospelhase[n]“ und dem „Kommando Backenbart“ springt, stellt sich der Eindruck einer beliebigen Aneinanderreihung neuer Wortkreationen ein.
Die hübsche Sprachakrobatik vermag jedoch nicht über die thematische Leerstelle des Bandes hinwegzutäuschen. Die Poeme rufen keinen innerlichen Widerhall bei den Lesern hervor. Kaum hat man die Seiten gewendet, sind die meisten von ihnen wieder vergessen. Verse, die haften bleiben – darin besteht die Wirkmacht dichterischer Präzision. Das Fließen der Sprache in Dämomenräumdienst birgt hingegen einen traurigen Nebeneffekt, nämlich die Verflüchtigung.
– Marcel Beyer schickt in seinem abgründigen und gewitzten Gedichtband den Dämonenräumdienst auf den Weg. –
Solange man von Dämonen heimgesucht wird, ist ihre Anwesenheit kein Vergnügen. Aber sobald sie aus der Distanz betrachtet werden können, sieht die Sache anders aus. Diese Erfahrung bestätigt Marcel Beyer in seinem Gedichtband Dämonenräumdienst nachdrücklich. Denn was hier erspäht und aufgespießt wird, ist abgründig, gewitzt und unterhaltsam. Um bei den Dämonen zu bleiben: unheimlich gut.
Beyer unternimmt in diesen Gedichten einen Ritt durch Zeiten und Räume. Seine Ausflüge in die meist jüngere Kulturgeschichte führen zu Elvis, Moshammer und Pferdekrimis:
Ich lernte, noch in der friedlichsten
Idylle lebt ein Homöopath – ein
Homöopath, dem alles zuzutrauen ist.
Manchmal scheint es, als triebe die populistische Gegenwart durch die Verse, wenn es um den „Bürgerkrieg in diesem Gesicht“ geht. Dann wiederum meint man, dass mancher Vers für einen Refrain in einem Edel-Popsong taugte:
Schlaf ein, bleib wach, ruh aus.
Der Sound kommt an.
Vor allem aber geht es in diesem Band um die Dämonen beim Schreiben:
Ich zerstöre
noch ein Gedicht und mache
für heute Feierabend. Bis dann.
Das rührt wohl daher, dass man jedes Wort auf die Goldwaage legt:
ich schreibe, ich schleife, ich
streife die Sprache
Ja, die Sprache ist es, die alles zusammenhält. Mit ihrer „Tintenstimme“ gibt sie den Ton an. Da ist es womöglich ein Glück, wenn man sich eine Hütte „aus verramschten Rechtschreibduden“ gezimmert hat.
Immerzu ist der Autor beziehungsweise das lyrische Ich auf der Jagd nach starken Vokabeln, nach Grützensauerstoff und Möhrenmampf, Baggerblut und Herzkammerbowle, Gummiwasser und Waschbärenpolka. Er/es wirft die Wörter in die Luft und schaut, so scheint es, welche am hellsten funkeln: Steinhirsche und Scheinhirsche, Glutnischen und Wutnischen. Bei alledem wechselt Beyer Tempi und Tonlagen, geht die dämonische Sache mal melancholisch und mal satirisch an.
In die spitzzüngige Abteilung gehört vieles. Auch das Gedicht „Coleridge, in Köhln“ (ja, mit einem h im Ortsnamen). Der englische Romantiker (der in dem Band – wie auch Hölderlin – mehr als einmal auftaucht) war mit feiner Nase unterwegs. Er soll bei einem Besuch in der rheinischen Stadt, „wo man, seitdem die Römer weg sind, nicht mehr lüftet“, 72 Miefe registriert haben, „jeder ausgeprägt, jeder ein unvergleichlicher Gestank“. Doch noch bemerkenswerter scheint eine weitere lokale Besonderheit zu sein:
Man atmet Sprache,
hier in Köln, wo einer austrinkt,
was der andere gesprochen hat, wo
einer aufschlürft, was der andere
verspricht, wo man beim
Reden also immer an der Sprache
nippt
Allemal sind es zupackende Monologe von unbenannten, nicht identifizierbaren Sprechern. Sie kommen stets mit 40 Zeilen aus, jeweils dargereicht in zehn handlichen Strophen. Mit einer leichten Variante: „Die Bunkerkönigin“, gemünzt auf Fotografien von Boris Becker, wartet auf mit sechs Mal 40 Zeilen (und ist, wie wenige weitere Gedichte des Bandes, bereits einmal in kleiner Auflage veröffentlicht worden).
Wurde der Lyriker Beyer von einem Dämon in dieses Strophen-Korsett gezwängt? Soll das fixe Längenmaß für Ordnung sorgen in der Wildnis der Befindlichkeiten? Was man sich so alles zusammenreimt! Die Sache mit den 40 Versen habe er „einfach einmal ausprobieren“ wollen, sagte Beyer jüngst bei einer Lesung, „denn ich hatte das noch nie gemacht“. Dann habe sich der vorgegebene Rahmen als äußerst produktiv erwiesen:
Es war für mich eine sehr intensive Gedichtphase, wie ich sie zuletzt in der Schulzeit erlebt habe.
Weil seine Gedichte keine „Botschaft“ haben, sagte Beyer auch noch, habe er sich erlaubt, eines davon „Die Message“ zu nennen. In diesem Krisenfall hat sich das lyrische Ich „die linke Schulter totgetippt“, hat nur noch „Zittergras im Kopf und Moos im Blick“, ist also „des Schreibens nicht mehr mächtig“. Wie gut ist es da, dass es den Autor Marcel Beyer gibt, der diesem Ich und all seinen Leidensgenossen Stift und Stimme leiht. Der Lyriker als Ghostbuster vom Dämonenräumdienst.
– Gespenster der dunkeldeutschen Geschichte, Quälgeister der romantischen Tradition: In seinem neuen Band führt der Büchnerpreisträger Marcel Beyer einen Exorzismus mit Mitteln der Lyrik durch. –
Sogar Geister lassen sich schöntrinken. Als der Dichter Samuel Taylor Coleridge 1828 Köln besuchte, eine „Stadt von Mönchen und Knochen“, beklagte er in seinem berühmten Schmähgedicht neben dem „mörderischen“ Kopfsteinpflaster und „scheußlichen Huren“ die 72 Arten von Gestank, die man hier unterscheiden könne. Über seine Abreise aber dichtete er weinselig, von dieser „body and soul-stinking town“ verdienten es nur die Kirche St. Gereon und „Mr. Mum’s Rudesheimer“, bekannt zu sein.
Doch zeigt sich die paradoxe Macht der Dichtung daran, dass sie neben dem Rheinwein und der Romanik auch die Kölschen Gerüche unsterblich gemacht hat, als Geistergerüche sozusagen. Man kann sie nicht riechen, aber sie spuken trotzdem im Kopf herum.
Marcel Beyer hat Coleridges „zweiundsiebzig Miefen“ ein Gedicht gewidmet. „Coleridge, in Köhln“, das wie alle Gedichte des neuen Bands 10 Strophen à vier Zeilen umfasst, ist eine Paraphrase, die ausmalt, was das Original mit Alkohol überdeckt:
… Man atmet Sprache,
hier in Köln, wo einer austrinkt,
was der andere gesprochen hat, wo
einer aufschlürft, was der andere
verspricht, wo man beim
Reden also immer an der Sprache
nippt, während man sich das
Kölnisch Wasser hinters Ohr reibt
oder gleich am Morgen in den
Ausschnitt kippt…
So verbindet Beyer das Olfaktorische mit dem Dialektalen und zugleich mit einer distanzlosen Trink- und Mittrinkkultur, deren Teil der zunächst so angewiderte Coleridge schließlich selbst geworden ist:
Und ehe ich verschwinde, köpfe
ich mir noch ein Fläschchen
Mum, ein Fläschchen
Rüdesheimer. Stößchen.
Das Gedicht ist scheinbar eines der leichten, leichtsinnigen dieses Bands, der tatendurstig zum „Dämonenräumdienst“ antritt. Man hat es nicht nur mit einem missgelaunten Dichter auf Reisen zu tun, dem der Lokalkolorit zu nahe rückte. Tatsächlich geht es auch hier ums Ganze einer spezifisch poetischen Weltbetrachtung: In der Lyrik ist die romantische Tradition übermächtig, ein verklärender, verunklarender, beschönigender Sound, der die Wirklichkeit in hohen Ton transponiert und per Reimzwang harmonisiert. Coleridge ist selbst einer der Dämonen, derer sich Beyer erwehren muss, ein anderer ist Friedrich Hölderlin.
In „Hölderlintage“ fragt sich der Dichter: „was machen wir jetzt mit der Flamingopisse im deutschen Gedicht“? Und „Weh mir“ ist eine ebenso virtuose wie rabiate Travestie von „Hälfte des Lebens“:
und wo
nehmt ihr, ihr hohlen Schweine, wenn
es Zeit ist für euch, für die Hölle, den
Sonnenschein, Marienkäfer und
süße punktierte Haut, und wo das
tüchtige Wasser, eure heillosen
Schädel zu tunken und die heillosen
Birnen und Rosen
In „Schlaflabor Potsdamer Platz“ reist das Ich nach Berlin, „in der / Provianttasche meine unaufgegessenen / Butterbrote, vor Sonnenaufgang / bestrichen mit Mayonaise, belegt mit / geräuchertem Hölderlinlamm“.
In immer neuen Anläufen umkreist Beyer seine Poetik, die gar keine selbstgewählte sein kann, weil sie selbst dämonischen Charakter hat. Der Fluch des Lyrikers ist die Sprache selbst. In ihr ist das einschüchternde Erbe der Dichtungstradition ebenso geronnen wie der Schrecken der deutschen Geschichte. „Der Tod ist ein Arschloch aus Strehlen“, heißt es einmal in Anspielung auf Celan und an anderer Stelle:
In meines Vaters Haus sind viele
Wohnungen. Ich möchte keine
einzige von innen sehen.
Die Sprache ist im doppelten Wortsinne das Medium dieser historischen Gespenster. Wie bei einer Seance ruft sie die Abwesenden zurück aufs Papier, das folgerichtig auch blutbefleckt ist. „Ich spucke aufs Buch, und ich spucke Blut“, beginnt „Die rote Schnur“. Aus diesem Blut, „buchstabengenau“ aufs „unwissende“ Papier gespuckt, werden Worte und Satzzeichen.
Klanglich färbt der U-Laut die Verse sozusagen synästhetisch ein, sodass man mit Coleridge das Blut zu riechen meint. (Der Band ist übrigens, selbst für Suhrkamp mittlerweile ungewöhnlich, edel in blutrotes Leinen gebunden.)
Vor allem einzelne Worte, gerne Komposita, sind die Träger dieses Sprachgedächtnisses, dieses „Runkelrüben-Deutsch“, wie es in einem anderen Coleridge-Gedichte heißt. „Ich bin der Frontmann von Kommando Katzendarm“, plappert ein manisches Ich im Gedicht „In der Lauschgrube“. Schweinekamm, Kaltmamsell, Panzerband, Flächenspeck, Möhrenmampfe – Beyers Gedichte sind voll solcher ge- oder erfundenen Wortschöpfungen mit dunkeldeutschem Aroma, die in traditioneller Poesie hervorstinken würden wie Flamingopisse bei Rilke. An Coleridges Kölnisch-Wasser-Mief wird Beyer gerade dieser Naturalismus begeistert haben, ein unromantischer Aussetzer, der auf den frühen Benn oder die Kahlschlaglyrik vorausweist.
Dieses Ideal bringt Beyer auf den Begriff der „Gummistimme“, einer „Sprache im grauen Bereich“. Sein Credo tarnt sich als Anrufung einer höheren Gewalt: „Grammatik, du Schlampenstempel der deutschen Sprache, schütz mich vor meiner Müdigkeit und deiner Zauberei, führe mich auf die Sache hin“. Wieder spielt Coleridge eine Rolle als lyrischer Gegenspieler, diesmal mit seiner berühmten Traumvision „Kubla Khan“, seinen „Wundergärten“ und seinem „Lustpalast“:
halt mir die Zitherspielerin aus Abessinien vom Leib.
Denn Coleridges „Feuerschlünde“ rufen bei dem in Dresden lebenden Dichter zugleich das „Phosphorwort“ ins Bewusstsein, das sich am „Grützensauerstoff“ entzündet. Der „graue Bereich“ ist zugleich der Bereich des Grauens, etwa des Untergangs Dresdens im Bombenkrieg, von dem Beyer schon in seinem Roman Kaltenburg (2008) erzählte.
Der Band, der formal streng einheitlich, aber in der Tonart sehr variantenreich ist, endet mit dem sechsteiligen Zyklus „Die Bunkerkönigin“. Im Bunker halten sämtliche Dämonen des Nachts ihr Stelldichein. Hier ist Dichten ist Vermitteln von Stimmen, „wie das Fräulein vom Amt“.
An diesem Ort, der eigentlich eine Grabkammer, eine „Blutbude“ ist, vermischt sich der „ewig nachtropfende Bunkerschweiß“ mit „Kriegs- und Nachkriegsdreck“. Dämonen zu räumen, das heißt nicht, sie fortzuschaffen oder wegzuzaubern. Sondern aufzuräumen, zu sortieren, sie in eine Ordnung zu bringen, zum Beispiel in zehn Strophen à vier Zeilen, gebunden in weinrotes Leinen.
– Marcel Beyer hat in seinen neuen Gedichtband Dämonenräumdienst erstaunlich viele Namen eingestreut: Elvis Presley, Joseph Beuys, Hildegard Knef, aber auch Coleridge, Klopstock, Mooshammer, Damien Hirst. Er hat den Wahrnehmungswahnsinn, von dem wir leben, in die Gedichte geräumt, „inhaliert“ zur Kräftigung der eigenen Atem-, Klang- und Erkenntniswege fremde Dichter, Bilder, Gedanken und Rhythmen. Und eben: Namen. –
Zu Beginn seines Essays „Aurora“ zitierte Marcel Beyer im Jahr 2006 Ossip Mandelstam: „Dreimal selig wer einen Namen ins Lied einführt“, und gestand, Namen in Gedichten zögen ihn an, sie strahlten eine Kraft aus, auch wenn er sie mitunter gar nicht als solche erkenne. Sein Essay endete damals mit einem Vers von Paul Celan:
Ein Teil aller Teile sein,
in der Größren Zerstreuung,
zerheiligt, zerweiligt,
zernut.
„zernut“, ein rätselhaftes Ende. Stammworte – hier die Worte „heilig“, „weilig“ und „nu“, also ganz hier-und-jetzt – können bekanntlich im Deutschen so einiges tragen, und Vorsilben haben es in sich. Überhaupt kann die deutsche Sprache Aspekte zusammenballen wie sonst kaum eine. Anders als bei der Vorsilbe „ent“, klingt bei der Vorsilbe „zer“ immer Gewalt mit – die Gewalt einer Aufsprengung, einer Zerstreuung. Diaspora eben.
Jeder Mensch ist so gesehen eine Scherbe aus dem Gefäß des Weltganzen, und ein jeder Dichter sowieso. Tatsächlich – es gibt sie nicht, die früher oft beschworene authentische, gar autarke Dichterstimme; Kunst entsteht aus einem konkreten Raum und einer konkreten Zeit heraus, sie agiert in eine konkrete Zeit hinein, und jeder Dichter, der Augen und Ohren hat, „inhaliert“ zur Kräftigung der eigenen Atem-, Klang- und Erkenntniswege fremde Dichter, Bilder, Gedanken und Rhythmen. Und eben: Namen.
In seinem soeben erschienenen neuen Gedichtband Dämonenräumdienst hat Marcel Beyer, der in seinen Essays grandiose Gespräche mit Mayröcker, Celan, Kling und Erb führt, erstaunlich viele Namen eingestreut, darunter: Elvis Presley, Joseph Beuys, Hildegard Knef, aber auch Coleridge, Klopstock, Mooshammer, Damien Hirst. Die Namen ziehen die Aufmerksamkeit unmittelbar auf sich und sie verströmen tatsächlich eine besondere Kraft. Ein Gedicht heißt „Weh mir“ (Hölderlin), in einem anderen titelt Beyer gewagt, frei nach Paul Celan, „Der Tod ist ein Arschloch aus Strehlen“, und wieder ein anderes der Gedichte erinnert im Sprachgestus der ersten Zeile an Brechts „Lesebuch für Städtebewohner“:
Halte die Sprache nass. Und liquidiere.
Wo Worte oder Klänge oder Rhythmen bekannt klingen, werden nicht selten Namen assoziiert, so in dem Gedicht „später dann“:
Trachte die
Vernunft zu stillen, die dem Glauben
widerbellt, reinige den argen
Willen von dem Plunder dieser Welt.
Ein Ohrwurm-Rhythmus, noch dazu gereimt, nur hier, ganz modern, über Zeilen und Strophenenden hinweg gebrochen. Unmittelbar hat man beim Lesen den Sound von Schillers „Freude schöner Götterfunke“ im Ohr, dabei stammt das Zitat aus einem (mir bis dato völlig unbekannten) Kirchenlied des Pegnitzer Schäfers Christian Wegleiter. Plötzlich sind Wörter des 17. Jahrhunderts, wie „widerbellen“ und „arger Wille“, in die heutige Sprachwirklichkeit zurückgekehrt. Die Sprache, sie kann „zerheiligt“ werden – und „zernut“.
Noch einmal zurück zum Namen: So assoziativ und frei und von eigenem und fremdem Sound getrieben die Verse im Dämonenräumdienst teilweise daherkommen, schnell ist klar: die Welt ist nicht nur alles, was der Fall ist, sondern auch alles, was wir uns vorstellen können, dass es der Fall wäre – oder sein könnte. So erwähnt das Gedicht „Depot“ lauter bekannte Namen, allerdings mit unbekannten Werken: Schongauers erfrorene Hände, Dürers Meerschweinchenstiche und Kiefers frühe Postkartenformate. Die Namen scheinen Hilfsgeister, sie beglaubigen, was es nicht gibt.
Nahtoderfahrung
Schon lange treibt Marcel Beyer sein Spiel mit der klassischen Strophenform des Vierzeilers – fast immer ungereimt und voller Enjambements, auch über Strophengrenzen hinweg. Der Band Dämonenräumdienst nun ist ausschließlich aus Vierzeilern gemacht und in der Komposition so geschlossen wie keiner von Beyers früheren Gedichtbänden, denn alle 76 Gedichte sind aus zehn Vierzeilern gemacht. Eine sehr feste Form. Ein „Deka-Quartett“, wenn man so will. Alle Gedichte sind dramatische Monologe, deren jeweilige Stimmung im 1. Satz gesetzt ist: Die jeweilige Person hat ihren Auftritt, auf der inneren Bühne des Autors: „Mir glüht der Schädel in allen Fasern“ beginnt einer der Texte, oder „Ruh aus in deinem Plural, wenn du / zermöbelt und zersplittert bist.“ Oder: „Ich habe viel für Damien Hirst / gesessen“ oder auch „Der Nachmittagsgang durch / die dm-Filiale jedesmal / eine Nahtoderfahrung“. Lauter lyrische Ichs, denen Beyer das Wort erteilt und die zahllose Geister zu Hilfe rufen, um mittels dialogischer Sprechhaltungen die Phantasmen unserer Zeit zu beschwören und ihnen Paroli zu bieten. „Schreib es auf, sonst musst du es am Ende noch erleben“, liest man. Die Sprache rettet sich – durch Sprache.
Alle hier versammelten Gedichte inszenieren dramatische Augenblicke. Manche spielen mit Kriminalfällen („Der Tod in den Büschen“), andere scheinen sich aus Fantasy- oder Horrorbildern zu speisen, Musik und Trash inclusive. Es wird deutlich, dass die im vorhinein festgelegte einheitliche Form (der 10 x 4 Zeilen) im Laufe des Schreibens an diesem Buch eine eigene Dynamik entwickelt haben muss. Jedenfalls treiben sich viele der Gedichte durch das Stilmittel der strukturellen Wiederholung (man könnte auch sagen: durch permanente Neuanläufe) voran, so steigern sich Tempo und Eindringlichkeit. Nehmen wir die ersten Strophen des Gedichtes „Bimini“, ein Titel frei nach Heinrich Heine. Doch wo dieser reimte („Kleiner Vogel Kolibri, / Komm mit mir nach Bimini“) treibt Marcel Beyer ein subversives Spiel mit dem „Hakenstil“.
Bin ich denn hier der Brummel
vom Gelände? Bin ich das
Abbild einer zarten Kokosnuss?
Bin ich etwa die Nummer Asche,
Bin ich vielleicht der angefaßte Uhu
im Gebälk, seh ich so aus, als
wäre ich die Nummer Gnadenschuss?
Seh ich so aus als wäre ich
rundum erneuert, bin ich denn hier
vom Herzen her verlaust? Lieg
ich vielleicht jemandem auf
der Tasche, kaue ich maliziös am
Zigarettenstummel? Bin ich etwa
vom Pflanzenschutz und ihr
seid welk? Was immer ich auch
male, es wird kein Wald daraus.
Welch herrlicher Taumel der Assoziationen, der in nicht enden wollenden strophenübergreifenden Enjambements sein formales Pendant hat. Hat der „Brummel“ in der ersten Zeile etwas mit Harry Rowohlts „Lord Brummel“ zu tun? Ist „zarte Kokosnuss„ ein dezenter Hinweis, dass hier der kleine Drache gleichen Namens gemeint ist? Was wissen wir schon? „Nummer Gnadenschuss“, „vom Pflanzenschutz“, „vom Herzen her verlaust“. Das Gedicht taumelt immer weiter. Anspielungen an Redewendungen, Reklameslogans, Rap-Sound und Kindersprüche, durchsetzt von Blödeleien, durchziehen den Text und schaffen, gerade wegen der Rätselhaftigkeit der Assoziationen vielleicht, eine ganz eigene Schönheit. Beyer hat den Wahrnehmungswahnsinn, von dem wir leben, in die Gedichte geräumt. Und „Bimini“ ist vielleicht ein Monolog des Widerstands, auch wenn kein Wald daraus wird und man sich keinen Reim machen kann. Umso größer der Humor, der rheinische, der, wo auch Heine einst herkam. Doch das ist ein anderes Kapitel.
Marcel Beyer erweist sich in Dämonenräumdienst als der große Stilist, der er ist. Seine Gedichte zeigen, welch enorme Kraft der Form innewohnt. Spielregeln (hier: das „Deka-Quartett“) intensivieren offensichtlich die poetischen Möglichkeiten – ein virtuoses Wechselspiel aus Wiederholungen und Abwandlungen, Assonanzen und Alliterationen, reinen und unreinen Binnenreimen. Alles, was die Vernunft ins Irisieren bringt und ein Gegengift zur Sprache der „Reizdeutschen“ bereitstellt. In Wortballungen wie „Strahlungsvollkost“, „Metzgerhandy“ oder „Herzkammerbowle“ spiegeln sich unmittelbar die Zerreißproben unserer Gegenwart.
Die Sprache selbst wird zum Räumdienst in diesen teils traumlogischen Sprachbewegungen. In dem Titelgedicht „Dämonenräumdienst“ etwa begeben wir uns mit dem lyrischen Ich von „Lärchenwäldern“ und „Lärchenwelten“ zu „Märchenwäldern“ und „Hährchenwelten“; hüpfen beim Lesen mit den Lippen von „Wutnische“ zu „Glutnische“ und von „Schein“- und „Steinhirschen“ zu „Blutkirschen“. Am Ende solchen Dämonenräumens „knirscht“ das lyrische Ich „heim“ in die eigene „Märchenwelt“, von der, wie es im Gedicht heißt, „kein Mensch erzählt“. Man muss sie immer wieder teilen, die Welt und die Sprache, Teil aller Teile sein, und sie „zernuen“.
Mit seinen neuen Gedichten bestätigt Marcel Beyer einmal mehr das Votum der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (Georg-Büchner-Preis 2016), die sein Werk u.a. als eines bezeichnet hat, „das die Welt zugleich wundersam bekannt und irisierend neu erscheinen lässt.“ Der Leser kann sich auf eine wundersame Lektüre freuen und Bekanntschaft mit zahlreichen lyrischen Ichs des Autors schließen, die ihm neue Blickwinkel öffnen. Beyer entführt uns in Kindheits- und Märchenwelten, in Tier- und Pflanzenwelten aber auch in Todes- und Angstphantasien. Seine Märchenwälder sind mit Dämonen bevölkert – in der Regel gutartige Geschöpfe, aber man weiß ja nie – weshalb „der Dämonenräumdienst über den Wald herfällt, / über die Lichtung jagt und die Dämonen / stellt.“
Mal schlüpft Beyers lyrische Ich in die Texte anderer Dichter (Samuel Taylor Coleridge, Ulrich von Lichtenstein u.a.) und lässt uns diese neu erleben. Mal stolziert es wie ein ausgeflippter Dandy durch die Stadt und sucht Händel. Im Gedicht „Was meine Feinde singen“ lesen wir – „Ich / bin das Lied, ich bin der Laut, / der Halt, kann sein, ich bin sogar die / Unannehmlichkeit, die meine / Feinde zischen, und ja, ich zappele, / zu ihrer Überraschung immer / lächelnd, irgendwo dazwischen und / weiß zugleich, wer Fliegen fangen / will, darf keine Eile zeigen.“ Beyer führt den Leser in dieses Dazwischen, wo die Phantasie sich ausleben und Privatmythologien ausformen kann. Nebenbei werden auch Rudolph Moshammers Hund Daisy, Hildegard Knefs Leidenschaft für Automobile und Joseph Beuys’ Liebe zu einem Hasen thematisiert.
Die Gedichte des Bandes bestehen jeweils aus zehn vierzeiligen Strophen. Jedes Gedicht folgt einem eigenen Rhythmus. Die Worte erscheinen oft wie Noten in einer Partitur. Einige der Gedichte könnte man Klanggemälde nennen. Sie erinnern an Kurt Schwitters’ Materialbilder. Nur dass Beyer mit Wortmaterial malt. Folglich muss sich das lyrische Ich im Zuge einer Schuhanprobe im Reno an Brian Eno erinnern und sich in Steno versuchen – „am / Ende geht es um den Klang, doch / manchmal sehne ich mich nach / der Leere, nach der Eile“. Marcel Beyer schrieb in den 90er Jahren Beiträge für das Popkultur-Magazin Spex. Auch im Dämonenräumdienst drängt sich der Musik-Freak mitunter in die Gedichte und treibt die Phantasie des Dichters an. Manchmal ereignen sich in den Gedichten kleine Dramen. Im Gedicht „Robbenträume“ phantasiert das Ich den in Billigkinderbüchern ausgemalten Robbentraum, in dem sich jedoch das „Badehosenkind“ als „vergnügter kleiner schwäbischer Faschist benimmt – und der Robbe mit der Plastikschaufel auf die Nase schlägt. In einem anderen Gedicht hält „Der Amselpabst“ Audienz. In „Eines Tages“ hört der morgens am Küchentisch stehende Dichter die jungen Sperlinge nach ihm rufen und verreist mit diesen ans andere Ende des Hofes.
Beyers merkbare Lust, Komposita zu häufen – neben „Dämonenräumdienst“ finden sich „Runkelrübendeutsch“, „Heidelandschaftshaut“ und „Vorfahrengummistimmenecho“ – unterstreicht zusätzlich die oft skurrile Dramaturgie der Streifzüge seiner lyrischen Ichs. In „Folgt mir“ erzählt Beyer die Geschichte vom Rattenfänger zu Hameln neu – mit seinem „Metzgerhandy“ versammelt das Ich mit einer an Amanda Lear geschulten Lockstimme aus den „engelbierverliebten siebziger Jahren“ die Herdentiere um sich. In „Anrichte“ spricht das Ich über die Mühsal des Schreibens:
Ich sah der Metaphernanrichte in
ihre Eingeweide. Schau, hier
diese bukolische Schnitzfigur,
du mußt ihr den Kopf abdrehen,
da steckt die geheime Nachricht
drin. Da steckt das Gedicht. –
Die Lesereise von Marcel Beyer wurde wie so viele durch Corona stark behindert. Ein Grund mehr, den Dämonenräumdienst beim Buchhändler des Vertrauens zu bestellen.
Axel Helbig, Ostragehege, Heft 100, 3.6.2021
– Eine Spurensuche. –
(…)
„Cadavre exquis“ (Köstlicher Leichnam) hieß ein Spiel der Surrealisten. Seinen Namen verdankt es dem Satz „Le cadavre – exquis – boira – le vin – nouveau“ (Der köstliche Leichnam trinkt den neuen Wein). Fünf Teilnehmer des Spiels schrieben auf ein Blatt Papier nacheinander Subjekt, Attribut, Verb, Objekt und Attribut zum Objekt. Das Papier wurde so gefaltet, das der jeweils nächste Spieler das schon Geschriebene nicht sehen konnte. Es gab verbale und graphische Leporellos. Nicht wenige Gedichte in Marcel Beyers Band Dämonenräumdienst erinnern an dieses Spiel. Freilich mit dem Unterschied, dass es sich nicht um eine kollektive, sondern um eine individuelle Erfindung handelt. Wobei Erfinden ein ziemlich bewusstes Tun ist, insofern passt der Begriff nicht recht für Beyers überraschende Wort- und Bildfolgen.
„Schön wie die ungewöhnliche Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf dem Seziertisch“ lautet Lautréamonts oft zitierte Definition des Schönen. Mit derart seltsamen Begegnungen und Kombinationen werden wir in Beyers Texten konfrontiert. „Ein leerer Mayonnaiseneimer fährt die Rolltreppe hinauf im Hauptbahnhof“ („In Gesellschaft“) – „… ich fühle mich an wie die letzte Pailette auf Elvis Presleys letzter Fischbulette“ („Betet für die dunkle Jahreszeit)“ – „… in seinem Kopf ist Sprache ein Hitzebild, ein Himmelsbild aus Qualm und Schweiß und Gespucktem und Staub.“ („In Gesellschaft“)
Beyers Gedichte, das vorangegangene Zitat verweist darauf, sind zuallererst Sprachexercitien in koboldhafter Metaphorik. Und sie summieren sich zu einer Art Handbuch der Schreiberfahrungen: „Halte die Sprache naß. Und liquidiere. / Halte den Honig flüssig. / Liquidiere. Halte die Zunge feucht. / Und folge mir…“ („Saftbühne“) – „Die weißen Worte, // die schwarzen Worte – du kannst / tun, was du willst, irgendwann / finden sie alle zu dir zurück.“ („Der Tod in den Büschen“) – „Dein letztes Wort wird ein Scheißwort / sein. Ein Wort wie Sessel-Zumba. / Ein Wort wie Hooliganwissen. / Auch Eiweißmulke käme in Frage.“ („Mulke“)
Nicht minder vieldeutig wird das geschriebene Wort klassifiziert. Zerschriebenes auf „fließendem Bildgrund“; „Schriftschrot, Schriftgranulat“; „… jeder Schattenwurf und jedes / Staubkorn hier besteht aus/ geschroteter, angespeichelter / schmutziger Schrift.“ („Schrot“) – „Schreib es auf, sonst mußt du es am Ende noch erleben.“ („In Gesellschaft“) – „Ich brauche morgens viel zu lange, bis ich mich fremdgeschrieben habe.“ („November“)
Ein Sprach-Leben wird vorgeführt. „Verben sind Eiweiß, Adjektive sind Zucker, Substantive bilden das Exoskelett.“ („Verben“) Die dadaistisch-surrealistische Wortkunst speist sich aus der Eigenbewegung der Sprache; Worte übernehmen sich, Worte übergeben sich. Das Ich fällt sich ins Wort, fällt ins Wort, es schreibt sich auf, es schreibt sich ab, „unterkühlt und lichterloh“ („DDT“). Es durchquert den von Klängen und Anklängen erfüllten Sprachinnenraum – ein Weltinnentraum.
Irgendwann sollte endlich einmal
HAAR auf GEFAHR reimen,
oder Gefahr auf ein keimiges
RATTANSOFA, und sei es
auch nur, um den Klang in den
Abgrund gleiten zu lassen.
Da stürzt er, von keiner Grammatik
gebremst, von keiner Grammatik
auf eine Flugbahn gelenkt. Haar
und Gefahr rasen gemeinsam
hinab wie im heillosen Wahn, und
dann wirft wie im heillosen Wahn
noch der Nachbar vom Nebenbalkon
sein Rattansofa hinterher…
Beyers Gedichte bieten eine zerstreute Einführung in die Poetik der Moderne und Postmoderne. Das Ich, das in ihnen sich aus-spricht, ist eine Begegnungsstätte von Wörtern und Empfindungen, guten und bösen Geistern. Nicht nur ein Anderes ist es, sondern viele Andere. „… dir bleibt nichts anderes, als deinen Plural zu erkunden.“ („Ruh aus in deinem Plural“) – „Ich bezeuge, ich suche nicht nach dem anderen in mir und nicht nach dem gleichen.“ („Auf niemanden“) – Das Ich tritt auf als „Rädelsführer auf dem Weg ins Blütenmeer“ („Steinstaub“), „ein vor lauter Terpentingeruch übergeschnappter Wochenend-Dali“ („Folgt mir“) usw. usf. Und tritt schleunigst wieder ab, lässt Fest-Stellungen und -legungen hinter sich: „… und bin es auch nicht“ („Steinstaub“) – „Was in dir singt, geht keinen Menschen etwas an.“ („Buchstaben“)
Beyer bringt das Fluide streng in Form: Alle Gedichte bestehen aus zehn Strophen zu je vier (meist vierhebigen) Versen. Das höchst Verwunderliche, Disparate und Hybride wird – im Dämonenräumdienst – nüchtern und lakonisch mitgeteilt. Das Seltsame ist das (prosaisch) Normale (und umgekehrt). Der Dissozation wird leitmotivisch-assoziativ entgegengewirkt. Ein Beispiel dafür ist das „Grubengedicht“, das von der „Akkustation der Psychiatrie“, dem „Rettungshubschrauber der Notfallchirurgie“ und den „hinter der Großküche (hockenden) Kaninchen im Halbschatten“ – vom Neben- und Ineinander von Leben, Krankheit und Tod spricht. Der Titel spielt auf das Kinderlied „Häschen in der Grube“ an. Überhaupt bietet es sich bei der Lektüre der Gedichte an, ihre jeweiligen Titel als Leitfaden zu nehmen. Denn ist es auch Irrwitz, hat es doch Methode.
Jürgen Engler, Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen, Heft 75, 2022
Lang erwartet sei der neue Gedichtband Marcel Beyers, schreibt der Suhrkamp Verlag, und es mag sein, denn: den Büchner Preis hatte man dem bedeutenden deutschen Gegenwartsautor vorrangig wegen seiner Lyrik verliehen.
Marcel Beyer wurde am 23. November 1965 in Tailfingen in Baden-Württemberg geboren, wuchs allerdings in Kiel und Neuss auf. Er machte sein Abitur und studierte Germanistik, Anglistik und Literaturwissenschaft an der Universität in Siegen. Bereits zu Studentenzeiten war er begeistert von der Autorin Friederike Mayröcker, mit der er sich bis heute intensiv beschäftigt. Er schrieb seine Magisterarbeit über sie und gab ab 1989 an der Universität Siegen eine Essayreihe mit dem Titel Vergessene Autoren der Moderne heraus. Zeitgleich erschienen auch seine ersten Gedichte sowie weitere Arbeiten über Friederike Mayröcker. Sein erster Roman Flughunde erschien 1995 und war extrem erfolgreich – das Literarische Quartett mit Marcel Reich-Ranicki, Hellmuth Karasek und damals noch Sigrid Löffler, die sich besonders für die Besprechung des noch sehr jungen Beyers einsetzte, besprach den Roman einstimmig als fabelhaft, was ihm neben seinen hohen Verkaufszahlen auch einen bedeutenden Rang in der Literaturszene verschaffte. Was die Verkaufszahlen und die Einstimmigkeit der Kritik angeht, ist Beyer bis heute nicht mehr auf den Rang der Flughunde zurückgekommen. Mich hat dieser Roman wie wenige andere begeistert und wohl auf Ewig für den Autor Marcel Beyer eingenommen. Die Geschichte von den letzten Kriegstagen, den Momenten in Führerbunker an der Seite der Goebbels Kinder, die von ihrer fanatischen Mutter Magda, die sich ein Deutschland ohne Hitler nicht vorstellen konnte, vergiftet wurden, gehört zu den bewegendsten Texten, die ich jemals gelesen habe. Den Büchner-Preis bekam Beyer dann schließlich 2016 rückblickend für sein Werk verliehen, in dem einige weitere Romane aber vor allem weitere Gedichtbände zu finden sind. Zuletzt erschien die Lyriksammlung Graphit (2014).
Es ist rein formal schon auffällig, was sich Marcel Beyer mit seinen etwa 150 neuen Gedichten, die dem Titel Dämonenräumdienst unterstehen, vorgenommen hat: alle Gedichte haben exakt vierzig Verszeilen, verteilt auf zehn Strophen, und folgen einer reimlosen Struktur. Es sind unterschiedlichste Themen, die Marcel Beyer thematisiert, vom Schreiben als solches, vom Werken des Schriftstellers, über biografisch anmutende Lyrik über reale Personen bis hin zu Traum- und Wahrnehmungsgedichten, in denen nicht von „Handlung“ sondern vielmehr von Assoziationen zu sprechen ist.
Ich habe mir die linke Schulter totgetippt
für dich.
Ich habe mir den linken Arm und meine
linke Hand
für dich, ich schwöre. …
So beginnt das Gedicht „Die Message“ und man ist sofort mittendrin in diesen Gedanken, die mit griffigem Vokabular und meist auch gut durchschaubaren Sätzen den Leser an Alltagssituationen erinnern. Für Philosophie ist in diesen Gedichten wenig Platz. Man geht oft vom Greifbaren aus, verlässt es über den mittleren Teil der ja stets gleich langen Gedichte und fängt es oftmals gegen Ende wieder ein. Die Frage ist: was macht man mit dem, das dazwischen steht? Offengestanden ist es mir bei den meisten Gedichten in diesem Band sehr schwergefallen, einen logischen Zusammenhang zwischen dem Anfang und dem Ende zu finden. Auch der Titel, der sich ja bei Gedichten oft wegweisend zeigt, hat da nicht viel roten Faden geben können. Nehme man als Beispiel das Gedicht „Libelle“ aus dem Zyklus „Aus meiner Schamküche“:
Kannst du Tannenhonig, kannst du auch
Libelle. Kannst du Libelle,
ist dir der Kleidercocktail nicht ganz
fremd, den du dir anrührst,
So beginnt das Gedicht und geht dann erst einmal in eine für mich eher ungreifbare, fast chaotisch wirkende Richtung weiter:
denn dein elektrischer Stuhl ist nicht
mein elektrischer Stuhl,
es sitzt sich einfach anders, die Drähte
sind anders kompliziert
Erst in der letzten Strophe kehren die Motive wieder, „schlau zusammengeschraubt und mit / Tannenhonig verleimt.“ heißt es dort und man erinnert sich an das, was man unlängst am Anfang gelesen hatte, aber während des Gedichts vollkommen vergessen hatte. Nicht nur bei „Libelle“ habe ich mich gefragt, was mir die Zeilen zwischen den meist sehr starken Anfangs- und Endsätzen sagen sollen. Oftmals entwickelten sich neue Gedanken, Gedanken die teilweise auch gut und lesenswert gewesen sind, die eine lyrische Wirkung und Kraft entfaltet haben, aber die eben nicht wirklich harmonisch einhergehen wollten mit dem, was man am Anfang gelesen hat. Die Tatsache, dass die Gedichte (meines Erachtens vorrangig wegen ihrer Länge) oftmals nicht als Ganzes begeistern können ist auch der Grund, warum mich diese Lyrik in diesem Band an vielen Stellen nicht gepackt hat. Was bringt es mir, wenn ich nur strophenweise angetan bin, aber nie das Gedicht als Gesamtkunstwerk anzuerkennen vermag. Es sind vielleicht sechs oder sieben Gedichte, bei denen ich diese zehn Strophen und vierzig Verszeilen angemessen finde, bei den anderen hätte man jeweils in der Mitte teilen können und den Lyrikband somit verdoppelt.
Hier stellt sich mir die Frage: Warum macht Marcel Beyer das, was er macht. Dämonenräumdienst ist in seiner Kunst nur als gesamter Lyrikband zu erkennen: wenn man ein einzelnes Gedicht herausgreift, erkennt man nicht mehr, dass es im Stil von über hundert weiteren geschrieben ist, dass die eigentliche Kunst, die Marcel Beyer hier beweisen wollte, ja eigentlich die ist, mit immer gleichen äußeren Bedingungen stets verschiedene, lyrische Möglichkeiten zu erkunden. Die Gedichte sind unterschiedlich, sie wecken auch unterschiedliche Emotionen beim Leser. Wie könnte man mit einem Gedicht gleichsam warm werden, das mit den Worten „Der Tod ist ein Ar*loch aus Strehlen“ („Ginster“) beginnt, gleichsam warm werden wie mit einem, das die Verse „Manches muss man zerschreiben, / manches muss man zermüllern, damit / es – als Schrot oder Mehl oder / schmutziger Schnee – einen / opaken, einen in alle Richtungen / fließenden Bildgrund ergeben / kann. (…)“ am Anfang stehen hat? Ich denke, dass Marcel Beyer auch die unterschiedlichen Wirkungen seiner Gedichte bewusst gewesen sind, als er sie niedergeschrieben hat, und diese leichte Berechnung, die seinen Versen anzumerken ist, scheint mir ein weiterer Aspekt an dieser Lyrik zu sein, der mich stört. Es ist nicht nur der Punkt, dass er sich selbst ein Schema vorgibt, das manchmal einfach nicht sinnvoll erscheint, eingehalten zu werden, da die Essenz der Gedichte auf einige wenige Verszeilen beschränkt intensiver zum Vorschein kommen würde als in das unabänderliche Schema von 40 gepresst – es ist auch die Tatsache, dass die Gedichte an vielen Stellen sehr konstruiert und wenig empfunden daherkommen. Ich würde nicht behaupten, dass ich beim Großteil dieser Lyrik etwas empfunden habe.
Selbstverständlich schmunzelt man, wenn das Gedicht mit dem „Ar*loch aus Strehlen“ beginnt, das in eine so ganz andere Richtung geht als die, die man von Gedichten erwarten würde. Und auch einige sprachliche Kniffe, bei denen z.B. zwischen den Versen mal noch ein Reimpaar auftaucht, das ganz unverhofft den Leser noch einmal ein paar Verse zurückspringen und den gezielt platzierten Zusammenhang erkennen lässt, sind durchaus auffällig und positiv anzumerken. Dennoch: diese Gedichte wirken im größten Teil geschrieben, konstruiert. Das Schreiben erscheint mir hier als ein mechanischer Prozess, ein bewusstes Sich an den Schreibtisch setzen und ein Gedicht schreiben.
Lyrik ist eine hochkomplexe Sache, doch wage ich zu behaupten, dass gerade die deutsche Gegenwartslyrik und die des 20. Jahrhunderts so gut ist, weil sie sich von dem, was die alten Meister wie Goethe, Schiller und viele weiteren so unfassbar gut beherrscht haben – das schemagetreue Dichten – nicht beirren und leiten lassen. Viele Gedichte, die heutzutage entstehen, folgen nichts als den Wahrnehmungen und Gedanken des Dichters, der sich ganz aufgehen lässt in seinem lyrischen Ich. Da sind auch viele persönliche Empfindungen beteiligt, wenn ich z.B. an die Gedichte von Nadja Küchenmeister oder, eine Nummer größer, Paul Celan denke. Es sind manchmal unauflösbare Metaphern verborgen, die den Leser zwingen, sich bedingungslos auf das Gedicht einzulassen, ihn zwingen, nicht verstehen zu wollen, was da geschrieben ist, sondern es einfach mit den Augen des lyrischen Ichs zu sehen. Beyer regt den Leser allerhöchstens an, eine analytische Tätigkeit aufzugreifen, und jedes seiner Gedichte bis auf den letzten Vers durchzuanalysieren, durchzuinterpretieren, die Gedanken zu denken, die er vielleicht gedacht hat, bevor er sie verborgen hat unter einem Haufen Metaphern, Ellipsen, Hyperbeln, Personifikationen usw., usw. Dabei ist es doch gerade das, was die Lyrik so vielen Lesern fremd macht: das ungreifbare, das anstrengende, das schwermütige. Das dauerhafte Gefühl, etwas nicht zu verstehen was man, wenn man doch nur etwas schlauer wäre, erkennen könnte. Wenn Gedichte so geschrieben sind, dass sie nicht darauf abzielen, im Leser etwas zu bewirken oder gar zu verändern, dann haben sie auch bei mir keine wirkliche Bedeutung. Ich habe einen grundsätzlichen Respekt vor den Autoren, die sich der Lyrik annehmen, noch mehr vor denen, die neben der Prosa zeitgleich auch Gedichte schreiben – es ist mit Sicherheit vor allem eine schriftstellerische Kunst, die Marcel Beyer hier unter Beweis stellt. Doch da Lyrik nicht nur in ihrer Interpretation sondern auch in ihrer Wirkung höchst subjektiv zu verstehen ist, möchte ich hier nicht ausschließlich neutral das beurteilen, was Beyer rein formal geleistet hat, sondern auch anmerken, dass – zumindest bei mir – die Bedeutung der Gedichte nicht wirklich bei mir angekommen ist. Abgesehen von ihrer Weltfremde und Abgrenzung sind der Gedichtband als solcher nämlich auch ziemlich monoton: man weiß immer schon genau, was einen auf der nächsten Seite erwarten wird, wie das Gedicht aussehen und beginnen und enden wird. Das macht auf Dauer wenig Spaß zu verfolgen.
Hätte sich Marcel Beyer weniger selbst in die Pflicht genommen, hätte er vielleicht den Ehrgeiz, hier etwas zu leisen, das davor noch niemand angegangen ist, ausgelassen, wären vielleicht einige Gedichte entstanden, an die ich mich gerne erinnert hätte. Obwohl er stilistisch so viel von seinem Idol Friederike Mayröcker hat, die ich in den meisten Zügen eigentlich auch sehr schätze, ist hier leider nichts von ihrer Spontanität und Radikalität, mit der sie die Normen der Literaturgrenzen zu brechen weiß, zu finden. Der Prosa-Verfasser Beyer ist mir auf jeden Fall heilig und verdient einen Platz in der ersten Riga der deutschen Gegenwartsautoren. Vielleicht versuche ich es einmal mit früheren Gedichten Beyers, in denen er sich möglicherweise selbst noch etwas mehr überraschen ließ und einfach das niederschrieb, was er in dem Moment in der Welt zu sehen glaubte.
Bin jetzt in einem anderen Wald und muss
mir nichts erzählen, nichts mehr
erzählen, nichts, in diesem Lärchenwald,
in dieser Märchenwelt. Hier auf der
Lichtung äsen die Steinhirsche, hier finden
sich Dämonen ein, um gemeinsam zu
weinen, und hier machen die Pferdchen halt,
in Miniaturgestalt, im Märchenwald
ist es zu kalt…
(…)
… An seinem Schritt hört man, es ist
der jüngere, oder der ältere, doch davon weiß
man nichts, davon erfährt man nur, wenn
der Dämonenräumdienst über den Wald herfällt,
über die Lichtung jagt und die Dämonen
stellt, in welche Richtung, frag ich mich, trag
ich den Sack voll Kirschen, wenn ich dann
heimknirsche, dass ich zurückfinde, in meine
Märchenwelt, von der kein Mensch erzählt.
Franz Hofner: Marcel Beyer: Dämonenräumdienst
siganturen-magazin.de
Astrid Nischkauer: „Manches muß man zerschreiben“
fixpoetry.com 16.8.2020
Manfred Klenk: Marcel Beyer, Dämonenräumdienst
raeuber77.de, 7.9.2020
meinolfthomas: Marcel Beyer Dämonenräumdienst
imdickicht.blog, 28.3.2021
Marcel Beyer am 7.9.2020 mit Lesung und Gespräch über seinen Band Dämonenräumdienst im Literarischen Colloquium Berlin. Moderation Thomas Geiger.
Marcel Beyer am 10.9.2020 mit Lesung und Gespräch über seinen Band Dämonenräumdienst im Literaturhaus Stuttgart. Moderation Michael Braun.
Marcel Beyer liest aus und spricht über sein Buch Dämonenräumdienst am 8.9.2020 im Literarischen Colloquium Berlin. Moderation: Thomas Geiger
Marcel Beyer liest aus und spricht über sein Buch Dämonenräumdienst ab ca 8:00 im Heine Haus Literaturhaus Düsseldorf. Moderation: Tobias Lehmkuhl
Der Peter-Huchel-Preis 2021 für Marcel Beyer und sein Buch Dämonenräumdienst
Das Gedicht in seinem Jahrzehnt, Nadja Küchenmeister und Marcel Beyer stellen im Haus für Poesie am 31.3.2021 prägende Gedichte vor.
Literarische Selbstgespräche … keine Fragen stellte Astrid Nischkauer – Von und mit Marcel Beyer
Vier Fragen an Marcel Beyer: Die Sprache ist alt genug, um auf sich selber aufzupassen
Im Gespräch mit Wolfgang Popp. Marcel Beyer und Mayröckers „Zetteluniversum“
Marcel Beyer liest ein Gedicht aus Graphit und macht etwas Werbung für sein Lesungskonzert mit dem Ensemble Modern zur Eröffnung der Frankfurter Lyriktage 2015.
Schreibe einen Kommentar