ENDREIMSTIMMUNG
1
Sankt Petersburg, im Juli, gegen
zwei Uhr früh, 2007.
An der Eremitage herrscht, wie
im Rest der Welt, gepflegte
Endreimstimmung unter allen, die
noch auf der Straße sind.
In dieser kurzen Nacht genügt ein
Schritt, und die Vokalpaare,
Aufnahme nachgestellt, werden
über die Uferkante, werden
weit über die Versgrenze
hinausgetrieben. Hier nichts als
Wasser. Stein. Wer auch nur ein
Wort spricht, geht mit.
Baumelnde Füße, fehlende Köpfe,
jedes Bild ein Verbrechen. Und
jede Bewegung zielt auf das dritte
Bild, auf den Schnitt. Vokale,
Konsonanten – Unbekannte.
Drüben die Tafel, knapp über
dem Wasserspiegel: An dieser Stelle
schwamm in seinem letzten
Sommer Sergej Eisenstein.
Soweit die Petersburger Szenerie.
Marcel Beyer liest aus Graphit.
Marcel Beyer liest aus Graphit zur Frühjahrstagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung am 16.5.2015 in London.
Marcel Beyer legt einen neuen Gedichtband vor. Mit dem Titel ist der Hinweis auf die motivische Klammer gegeben: Materialität. Dinge, ob Blume, ob Feder, ob Scheiße oder Abendland, die sich bei den Kollegen aus allen Zeiten finden und neu integrieren lassen; die Körnung der unterschiedlichsten alltäglichen wie politischen Stimmen. Solche Mehrstimmigkeit ist für Marcel Beyer das einzig wirksame Gegengift gegen den ganzen monolithischen, den fanatischen, den faschistischen und chauvinistischen Schwachsinn in der Poesie und das Reden darüber.
Materialität als unterscheidendes Merkmal der anderen Künste, deren Echowirkung diese Gedichte einfangen: das von Photographien angeregte Schreiben, das Schreiben mit der Perspektive, dass ein entstehendes Gedicht von einer fremden Stimme vorgetragen werden wird, und dazu gesungen.
Materialität als besondere Konstellation einer Kunstgattung: Die bis in das Jahr 2001 ausgreifenden Gedichte („Tigerschminke“) haben etwas Szenisches: Eine Figur erhält Materialität durch ihre Verkörperung im Bühnenraum. Marcel Beyers Souveränität im Umgang mit seinem Material, mit den Kollegen, mit der Zeitgeschichte, dem Zeitgeist und den in ihm hampelnden Menschen ist unvorsehbar-überwältigend: Der Materialist unter den Lyrikern kombiniert das Gewesene und Anwesende zu Nie-Dagewesenem.
Suhrkamp Verlag, Klappentext, 2014
– Vom Indikativ der Geschichte: Marcel Beyers Gedichte führen zurück in die Tiefen der Erinnerung und steigern die Welt zur Konkretheit. –
Lyrik ist heute nicht mehr die Gattung, in deren Tiefe wir nach einem von den Wörtern verschlüsselten Sinn suchen und nach einer entscheidenden Auslegung unserer Existenz. Wir lesen Gedichte kaum als Metapher der Wirklichkeit oder als Orientierung für unser Leben. Eher hoffen wir, in ihnen der Konkretheit einer Welt neu zu begegnen, die uns ferngerückt ist – und zerfallen in eine überwältigende Vielfalt der Möglichkeiten. Denn alles soll ja möglich sein in unserem Alltag, nichts scheint notwendig oder unmöglich, wir leben hinter den Vorzeichen von Konjunktiv und Kontingenz, so dass wir uns nach dem Indikativ des Konkreten sehnen und nach einer Sprache, deren Verbindlichkeit die Dinge präsent macht. Der Lyrik – und oft auch den Erzählungen – von Marcel Beyer gelingt es in der Mitte seines Lebens und in der Reife seines literarischen Werks immer wieder, eine solche Sprache zu finden.
Unter dem Titel „Mein Blauhäher“ setzt gegen Ende des neuen Gedichtbandes Graphit eine Folge von sechzehn Texten ein:
Mein Blauhäher hört auf den
Namen Ezra. So hab ich ihn
genannt, wie mich
lauten die ersten beiden Sätze, und bevor man sich noch im Lesen die Spezialistenfrage beantworten kann, wohin denn die Anspielung auf den großen Dichter Ezra Pound als Selbstverweis wohl führen soll, wird der Blauhäher gegenwärtig – im Indikativ und den Variationen eines Wochen-Programms:
Am Montag
füttere ich ihn mit Brot
von gestern. Am Dienstag gebe
ich ihm seine Medizin.
Am Mittwoch will er seine
Lieblingsplatte hören.
Und jeden Donnerstag verlangt
er nach Salat. Am
Freitagmorgen fülle ich ihn
ab. Dann bringe ich ihn rüber
zu den Schwestern. Am Samstag
gibt es endlich ein paar
Blätter. Am Sonntagnachmittag
Besuch. Am Sonntagabend
wird der Kerl von mir geduscht.
Die Nacht auf Montag – schwierig.
Jeden Wochentag und jede der angekündigten Szenen füllen die folgenden Texte aus, mit vielen Ungewissheiten, Varianten und Details, aber immer im Indikativ:
Den einen
Dienstag will er partout
ein alter Sänger sein, den
anderen niemand außer dem
Duce.
Bis der Eichelhäher endlich am Sonntagabend geduscht wird, ist seine Gegenwart beim Lesen bunt und vertraut geworden:
Sie können
sich ja vorstellen: Das geht nicht
gut. Ich singe ihm was von
Neapel, aus der Bucht.
Und:
spätestens beim Frottieren hat er
sich beruhigt. Er plustert sich. Ich
streiche ihm den Scheitel glatt.
Diese gelassene und eher freundliche Stimme des „Ich“ klingt durch die meisten Gedichte von Graphit, und sie wendet sich gestisch an jemanden, der hört oder liest, an „Sie“ oder „Du“. Dabei nimmt die Sprache des „Ich“ verschiedene Rhythmen an, deren Regelmäßigkeit nur selten durch Reime vervollständigt wird. Die lyrische Sprache von Marcel Beyer vollzieht sich in diesen Prosarhythmen, betont und verstärkt von den Strophenformen, mit denen sie auf die Seiten kommt. Als rhythmische Sprache bleibt seine Lyrik immer eine Sprache der Wiederholungen, welche die linear fortschreitende und alles verändernde Zeit unseres Alltags durchbricht. So bildet sie für jedes einzelne Gedicht – und am Ende für den ganzen Band – eine eigene Gegenwart außerhalb der Alltags-Zeit, eine eigene Gegenwart, in der all die beschriebenen Dinge aus ganz verschiedenen Zeiten und Orten nebeneinandertreten, um uns präsent zu werden, greifbar nahe und verbindlich.
Es mag diese Emphase des Nebeneinanders und der Variationen sein, die Marcel Beyer zum poetischen Meister der Komposita gemacht hat, zum Meister jenes besonderen Potentials der deutschen Sprache für die Erfindung immer neuer komplizierter Wörter: Knackelverse und Knochenlicht, Fleischerhund, Polsterhimmel und Slawenglück. Weil die Dinge in seinen Wörtern und Gedichten so greifbar werden und anscheinend verbindlich, verwandeln Beyers Texte eine Welt, in der alles möglich und nichts notwendig ist, in eine Gegenwart des Indikativs, in eine eigene Gegenwart, wo ganz individuelle Vorstellungen so konkret und real sein können wie die Beschreibung von Wirklichkeiten.
Die erste Textfolge des neuen Gedichtbands Graphit, die diesem auch seinen Titel gegeben hat, führt durch Szenen von Schnee und Eis, „künstliche“, fiktionale und wirkliche. Am Beginn steht die Fiktion eines Schneehangs auf den „Runkelrübenäckerweiten“ von Neuss. Danach erscheint unversehens der Regisseur Sergei Eisenstein, wie er im „Hochsommer ’38“ einen „zugefrorenen See, / verschneit“ für seinen neuesten Film braucht und deshalb „die halbe Landschaft asphaltieren“ lässt, um zuletzt den „Schneeauftrag, ein / lichtaufsaugendes Gemisch / aus Naphtalin und Kreide“, auf den Asphalt zu legen.
Die nächsten Bilder sind eine „Skihalle“ mit „Windstille / dreihundertfünfundsechzig / Tage im Jahr“, dann die „Winterschlachten“ des Zweiten Weltkriegs mit „Guderians Panzerdivisionen“ und auch eine „Salzburger Hochalm“. Im letzten Gedicht der Sequenz erscheint der Schnee als „ein schwindendes Objekt“, weil man „zu spät / kommt, jedesmal zu spät, wenn / man ihn filmen will“. Doch am „Pistenrand“ ist sichtbar „eine Schattenspur: Graphit“. Wie Graphit unter schmelzendem Schnee, so wird die indikativische Gegenwart der Gedichte von Beyer zur Kontur des Konkreten in unserer Welt aus Kontingenz und Konjunktiven.
Es sind Namen, Daten, spezifische Orte, Dialekte oder auch Schriften, welche diese verbindliche Gegenwart heraufbeschwören. In der zweiten der neun Textsequenzen von Graphit nähern sich die Gedichte dem „Rheinland“, von dem „Jungfrau“ genannten alpinen Bergmassiv aus bis nach Köln, von der „oberdeutschen Mundart, / Handschrift vermutlich / in der Schweiz entstanden“ hin bis zur „Mundart vorwiegend ripuarisch. / Sehr schöne zierliche Schrift“. Später ruft „Sankt Petersburg, im Juli, gegen / zwei Uhr früh, 2007“, einen Strom von Bildern aus der sowjetischen Geschichte auf, in dem Eisenstein wiederkehrt (solch meist unverhoffte Effekte der Wieder-Erscheinung von Namen und Bildern binden die zentrifugalen Teile dieses Bandes zusammen), dann die frühesten Satelliten, die ersten Kosmonauten und auch noch die Mode, welche ihre Uniformen nachahmte:
Kosmonautenjäckchen, -traum mit
Reißverschluss, doch kaum
von Dauer
Die Konkretheit steigert sich bis zur Drastik von bestimmten Extremmomenten in den verschiedenen Stimmungen und Welten. Einer der extremen Momente ist die Tötung des SS-Obersturmführers Heydrich:
Prag
zweiundvierzig, der
Wagen kommt mit
offenem Verdeck, die
Waffe in der Tür
ist nicht geladen. Heydrich
hat Polsterfüllung in
der Milz.
Ein anderes extremes Datum verweist, ebenso historisch genau, auf Jamaika, fünfunddreißig Jahre später:
Don Drummond, der Posaunist von
Weltbedeutung, den man hier nur Don
Cosmic nennt, ersticht am ersten
Januar Neunzehnhundertfünfundsechzig
Vor Tagesanbruch, gegen drei
Seine Geliebte, Margarita,
Die Limbotänzerin, und stellt
Sich kurz darauf der Polizei.
Es gibt Passagen in Graphit, wo das „Schlachtgemälde“ als Bildgattung einen Fluchtpunkt für Gedichte abzugeben scheint, deren Aggressivität offenbar keine Grenzen kennt:
Gedichte
müssen wie ein Schuss ins
Auge sein.
Doch am Ende und insgesamt macht die Drastik bloß eine von den ganz verschiedenen Stimmungen aus, in denen Marcel Beyer die Welt konkret werden lässt. Zwischen den Bildern von Blut und zerfetzten Organen aus den Ereignismomenten historischer Wirklichkeit weckt ein Gedicht, nur wenige Seiten entfernt, einen Kindheitsmoment in einer ganz und gar anderen Modalität von Konkretheit. Er kommt mit einer Erinnerung an den Sandmann des DDR-Fernsehens, ironischerweise an die vielleicht einzige Ikone der ostdeutschen Medienproduktion, welche die Wiedervereinigung überlebt hat:
der Sandmann, der nachts
neben deinem Kissen lag und
dich ansah, mit tiefschwarzen
Augen, als wisse er seine
Reime nicht mehr, die er jeden
Abend im Fernsehen aufsagte
Und käme der Sandmann in Marcel Beyers Gedicht zur Sprache, dann klängen seine Wörter gewiss sächsisch:
Heute
weißt du, sein Zungenschlag
hätte dich befremdet
Ein
undurchsichtiger Kerl – doch sein
Spitzbart hat ihn verraten. Er
kam aus dem Nachbarland.
Nicht alle Texte des Gedichtbands Graphit haben diese – goldige oder drastische – Intensität. Es gibt Seiten, wo ich dachte, die Kraft seiner Imagination hätte Marcel Beyer verlassen. Vielleicht war das aber auch nur die Wirkung eines Spiels mit dem Leser, das ich naiv mitgespielt habe, Zum Beispiel tragen die harmlosesten Texte dieser Sammlung den Titel „Die letzten tödlichen Gedichte“. Aber das bedeutet wenig angesichts der Präsenz und Konkretheit, zu der so viele Fragmente aus einer Wirklichkeit der Kontingenzen und Konjunktive durch diese Texte versammelt werden. In einem bemerkenswerten Anhang von einer halben Seite nennt Marcel Beyer Texte, Bilder, Postkarten, Gespräche, Fragmente der Wirklichkeit also, die einzelne seiner Gedichte inspiriert haben. Statt eine bloße Erinnerung oder eine verblassende „Darstellung“ jener Alltagsfragmente zu sein, haben sie ihre Wirklichkeit fast immer gesteigert.
Vielleicht ist es nur Einbildung, weil man schon so lange keine Gedichte mehr gelesen hat von Marcel Beyer: Aber es scheint, da schwinge ein neuer Ton mit in diesen Versen, die Worte würden sich zu lockeren Rhythmen fügen und entspannter sei der erzählerische Gestus geworden und zugleich kühner das Spiel mit den Motiven. Am ehesten noch erinnern die neuen Gedichte Marcel Beyers an den Zyklus „Der westdeutsche Tierfilm“ aus seinem bisher letzten Lyrikband (Erdkunde, 2002). Auch dort fügte er den Stoff mit erzählerischem Schwung (und freilich auch noch mit deftigem Witz) zu Quartetten. In dem neuen Band Graphit stellt das Quartett aus lauter Kurzversen die vorherrschende Strophenform dar. Das gibt den Gedichten ein fulminantes Tempo und zwingt zu harten Zäsuren am Versende und selbst über das Ende der Strophen hinaus. Solche Beschleunigungen im Sprachduktus wiederum begleitet Marcel Beyer mit abrupten thematischen und motivischen Schnitten.
Und vielleicht liegt darum hier das Neue dieser Gedichte: Sie sind freier geworden im Umgang mit ihrem Stoff, spielerischer und zugleich ernster. In vielen Gestalten geht der Tod um in diesen Versen (man liest etwa ein stilles Requiem auf den Freund Thomas Kling). Zudem gibt Beyer der Sprachreflexion einen grösseren Raum als je zuvor (vergleichbar nur mit den Aufsätzen in Putins Briefkasten, 2012). Nicht dass er zweifeln würde am Vermögen der Sprache (dazu liebt er das Schreiben und Sprechen zu sehr), aber er weiss, dass die Sprache im Fluss ist, dass sie nie vollends verfügbar ist. So macht sich Beyer in diesen Gedichten auch auf die Suche nach der Sprache. Er findet sie, wen wundert’s, in Wörterbüchern (man scheue sich darum nicht, seinerseits diesen Gedichtband mit einem möglichst dicken Wörterbuch zu lesen, denn wer weiss schon, zum Beispiel, dass „Queckholder“ niederdeutsch für „Wacholder“ steht?).
„Man pokelt, / man baggert an der Sprache“, liest man in dem Gedicht „Im Westen, auf dem Platz“. Das beschreibt aufs Genaueste den Impetus dieses Schreibens. Es tastet sich fast blindlings durch das Dickicht der Worte und Bilder (darum auch gelegentlich die etwas disparat anmutende Mischung der Motive), es fördert verschüttetes Sprachmaterial zutage, und es bringt alles Belebte und Unbelebte zum Sprechen. Nur wenige Verse später heisst es im nämlichen Gedicht: „Und ich achte // still auf die Tiere“. Es ist gewiss einer der entscheidenden Sätze – und es ist zugleich die innere wie die äussere Scharnierstelle. Hier verbinden und überkreuzen sich die unterschiedlichen Motivstränge aus Graphit – und hier laufen gleichsam die erzählerischen und lyrischen Fäden aus Marcel Beyers Schaffen seit seinen Anfängen zusammen: Die Sprache der Kreatur – von den Distelfinken über die Dohlen bis zu den Flughunden (allesamt emblematische Tiere in Beyers Werken) – gilt ihm als die verlässlichste Tonspur in der Welt. Auf sie hört Marcel Beyer, als ihr Magier bringt er sie in seinen Versen zum Klingen.
Zu den herausragendsten Gedichtzyklen dieses Bandes zählt „Wacholder“; er bringt freilich auch am prägnantesten Beyers Selbstverständnis zum Ausdruck. „Wacholder“ schöpft aus der Botanik eine ihr eigene Poesie (der Namen) und führt das Gedicht vor als ein privilegiertes Instrument der (Natur-)Erkenntnis. Mit einem wilden Ritt durch die vielen Namen für den Wacholder und seine Beere erschliesst die Sprachgeschichte einerseits eine Kulturgeschichte (an den Bezeichnungen lässt sich ablesen, was die Menschen mit den Pflanzen gemacht haben), und anderseits gewinnt das Naturgedicht jenseits des Beschreibungsfurors eine durch sprachliche Intensität gestiftete Sinnlichkeit zurück.
Beyer lässt das Gedicht in eine Pointe münden, die wiederum sein lyrisches Credo – dass alles mit allem verbunden sei – aus einem tiefempfundenen Respekt für das Kreatürliche als der Quelle alles Humanen hervorgehen sieht:
Wir sind ja verbunden,
wir sind ja, Wacholder
im Mund, den Tieren verbunden
Soll man den kulinarischen Hinterhalt, in den hier die Leser gelockt werden, ausbuchstabieren? Den erlegten Tieren pflegen die Jäger als letzte Äsung einen Wacholderzweig in das Gebiss zu stecken, während die Wacholderbeere zum Würzen des Wildfleisches dient. So ungleich kann die Verbindung von Mensch und Tier also sein. Darum hüte man sich davor, Beyers Gedichte sentimental zu lesen. Denn unversehens kann ein solch munteres Naturgedicht, in dem wir uns Pflanzen- und Tierfreunde nur allzu gerne wiedererkennen möchten, ins unerwartete Bild kippen, aus dem dann nicht etwa wohlfeile Anklage hervorgeht, aber immerhin eine Vorstellung von der Widersprüchlichkeit des Daseins.
So bleibt die Verbindung zur Kreatur vielleicht eine Aufgabe, jedenfalls eine Suche, aber sie ist des Dichters ureigenes Feld, weil er hier seine Sprache neu kalibrieren kann und muss. „Tierlaute – Wörter, die uns / zerreissen“, lautet eine markante Stelle. Und in dem Zyklus „Sanskrit“ wird das Horchen auf die Tiere ganz unmittelbar mit der Dichtung in Zusammenhang gebracht:
Und ich, vom
dunklen Tier geleitet, vertiefe
mich in meine Schriftrollen
Freilich auch die Selbstironie des Dichters und das Unbehagen an der Sprache finden zu drastischem Ausdruck:
Die
schwarzen Ränder unter
meinen Nägeln: Schriftsprache
vom Papier gekratzt.
Und nur ein paar Verse weiter verschärft sich das Bild:
Sprachangst, na klar. Die Sprache
ist dies: eine Zange
So bleibt hier alles offen im Widerspruch: Die „schwarzen Ränder“ mögen von Schreibkrisen erzählen und vom Tod (was vielleicht dasselbe ist), und wiederum weiss Marcel Beyer nur zu genau um die Macht der Sprache und ihre festgezurrten Bedeutungen.
Gegen solche Verkrustungen schreibt er an. Indem er sich in Versen an die Gegenstände herantastet, indem er diese mit Worten abtastet und ihnen Konturen vermittelt und dabei ein Doppeltes schafft: Die Phänomene schälen sich aus der Sprache, mit Wörtern und ihren Namen werden sie enthüllt und sichtbar. Und zugleich lernt der Leser hier einiges über die Sprache: wie sie der Welt, ihren Gegenständen und den Kreaturen, immer neue Namen gibt und wie sich die Sicht auf die Dinge im Prisma der Sprache verwandelt – nichts, weder die Sprache noch die Welt, von der sie erzählt, ist etwas Feststehendes. Alles ist im Fluss.
Nicht notwendig und nicht immer muss falsch sein, was unser Auge täuscht. Davon erzählt der titelgebende Zyklus, der diesen Gedichtband eröffnet. Von zweierlei künstlichem Schnee ist in Graphit die Rede: Da wird die Winterstimmung in der Skihalle in Neuss am Rhein hart gegen die Bilder eines zugefrorenen Sees geschnitten, den der sowjetische Regisseur Sergei Eisenstein mitten im Sommer 1938 für seinen Film Alexander Newski auf einem plattgewalzten Acker mit viel Kreide und Naphthalin herstellen liess. Künstlich ist beides, Kunst freilich ist nur eines der beiden.
Marcel Beyer denunziert abermals nicht. Er stellt bloss die beiden Schauplätze nebeneinander. Und entdeckt darin eine doppelte Melancholie: Künstliche Welten sind Wunschbefriedigungsmaschinen, die ihre Versprechen nur zu leicht einlösen – die Welt der Kunst ihrerseits bleibt sich ihrer Künstlichkeit stets bewusst: Nie erreicht sie ihr Vorbild. Von der traurigen Differenz, die zwischen der Welt und dem Grafit, zwischen dem Vorbild und seinem Abbild bleibt, und von dem Glück, wo beides im Kairos des Gelingens in eins fällt, erzählt dieser in vielen Farben schillernde und auf vielen Schauplätzen des Daseins spielende Gedichtband.
– Dem in Dresden lebenden Romancier und Dichter ist mit dem Band Graphit ein großes Kunststück gelungen. In seinen Gedichten wird das Wissen um die Kniffe der poetischen Moderne mit wacher Zeitgenossenschaft verquickt. –
Romanschriftsteller Marcel Beyer (49) besitzt beste Autorenreferenzen. In Neuss am Niederrhein aufgewachsen, gehört der heute in Dresden Lebende zu denjenigen Dichtern, die Natur und Kultur auf unerhörte Weise ineinander verschränken.
Wer Beyer sagt, musste bis vor kurzem auch Kling sagen. Thomas Kling (2005 an Krebs verstorben) und sein geringfügig jüngerer Kollege sind bzw. waren Archäologen. Gedichte wie die 37 meist langen in dem Band Graphit markieren, um mit Brecht zu sprechen, technisch höchsten Standard. Vorbei die Zeiten des Experiments. Beyer, der Kleist-Preisträger, behilft sich mit der einfachsten Form des Strophenbaus. Vier Verse bilden einen Abschnitt.
Der Zusammenhang, der die einzelnen Bild- und Lautströme vorantreibt, wird nicht metrisch hergestellt, sondern durch knappe Fügung. In Sankt Petersburg herrscht, wie Beyer schreibt, etwas wie „Endreimstimmung“. Das ist natürlich ein Witz, weil sich hier – mit wenigen, gut versteckten Ausnahmen – gar nichts reimt. „Komm ins Offene“, ist man versucht zu sagen, weil Marcel Beyer die Geheimniskrämerei nicht scheut. Dichter sind natürlich Schamanen, die mit okkultem Wissen Schabernack treiben. Wer kennt schon die Lebensgeschichte der Heiligen Wilgefortis, der bärtigen Jungfrau, die hier auf kurzen Versfüßen den Rhein hinauf bis in die Schweiz und weiter nach Südtirol wandert (im Gedicht „Timide, timide“)?
Der Schnee, schreibt Beyer im titelgebenden Eröffnungstext, ist ein „schwindendes Objekt“. Wer sein Vorkommen bezeugen will, muss sich rätselhafter Artefakte bedienen. Als Regisseur Sergej Eisenstein 1938 Alexander Newski dreht, braucht er Schnee, viel Schnee, und „einen zugefrornen See“. Mit Schneekanonen kann die stalinistische Kulturbürokratie nicht dienen. Also lässt Eisenstein einen ganzen Wald roden. Die kahle Landschaft wird asphaltiert, den Schneeauftrag bildet ein „lichtaufsaugendes Gemisch / aus Naphtalin und Kreide“.
Beyer aber spricht die Spur an, die der Präparator Newski hinterlässt. Der Dichter zeichnet sie mit dem Graphitstift nach:
Durch einen Schneesturm keucht
sie hier, die Schrift? Auf der
Leinwand sehen wir Newskis
Truppen, Lumpenproletariat
durch Mottenpulverwolken waten
Newskis Filmgesicht ist „eisern“. Noch fehlt der Vision das Wichtigste: der Atem. Vor Newskis Mund kein Hauch.
Hier werden Winterschlachten
grundsätzlich auf die Musik
geschnitten. Sollen Guderians
Panzerdivisionen kommen.
Das ist atembenehmend klug gedichtet. Man hat die Musik von Sergej Prokofjew augenblicklich im Ohr. Die tote Landschaft – das Waste Land des Sowjetkommunismus – wird durch die deutschen Invasoren einer neuerlichen Verwüstung ausgesetzt, einer solchen, die alle vorherigen aufhebt.
Die Lyrik darf sich von allen Literaturgattungen den geringsten Zuspruch erwarten. Magier wie Beyer fallen keineswegs hinter den Stand der Dinge zurück. Sie überschreiben zum Beispiel Georg Trakl lautlich („An die Vermummten“) und finden plötzlich Platz für Osama Bin Laden und dessen Tötung:
RASEND PEITSCHT GOTTES ZORN den Heli übers Anwesen,
Stroboleuchten ertasten zwei braune Augen, mehr nicht.
Es ist die Poesie, die die Spuren sichert.
– Marcel Beyer ringt in seinem neuen Gedichtband mit hermetischem Furor um die Sprache. –
Nach zwölf Jahren lyrischer Abstinenz legt der 1965 geborene, mittlerweile in Dresden lebende Marcel Beyer mit Graphit wieder einen Gedichtband vor. Mit Verweis auf die mitunter kaum zu entwirrende Polyphonie seiner meist in Quartetten, also Vierzeilern verfassten, mitunter zu Zyklen verklammerten Gedichte heißt es im Klappentext:
Solche Mehrstimmigkeit ist für Marcel Beyer das einzig wirksame Gegengift gegen den ganzen monolithischen, den fanatischen, den faschistischen und chauvinistischen Schwachsinn in der Poesie und das Reden darüber.
Das ist starker Tobak für die Einführung in einen Gedichtband, und man fragt sich, wer solche starken Verbalinjurien und in welcher Absicht aussendet. Wer sich der Sinn suchenden Beyerschen Vielstimmigkeit beim Schreiben entzöge, wäre bereits „fanatisch“, „faschistisch“ und „chauvinistisch“? Mir scheint, da wird mit populistischem Sprachkanonen auf Spatzen geschossen.
Und welches Ziel steckt wohl dahinter? Soll da etwa ein Autor von vornherein über alle ideologischen Grabenkämpfe erhoben und auf dem Altar der hohen Kunst kanonisiert werden? Das wäre dann sehr deutsch. Und Beyers Gedichte verweisen durchaus auf Romantik, Expressionismus, unser Verhältnis zur Natur, auf serielle Kunst, aber auch Sprachphilosophie: In wieweit bildet Sprache die Wirklichkeit ab, oder wird Wirklichkeit erst durch Sprache erschaffen? Der alte scholastische Streit zwischen Nominalismus und Realismus lebt, postmodern gewendet, in ihnen fort.
Im Titel gebenden Zyklus „Graphit“ zu Anfang des Bands ist von zweierlei künstlichem Schnee die Rede. Da ist zum einen die ganzjährig betriebene Skihalle in Neuss am Rhein:
Keinerlei Alpenanmutung. Die
Webcam zeigt: Es schneit.
Und es wird schneien,
die ganze Nacht…
Und zum anderen der Film Alexander Newski. „Hochsommer ’38. Schnittmeister / Eisenstein braucht dringend / einen zugefrorenen See, verschneit…“.:
der Schnee ein schwindendes
Objekt, weil man zu spät
kommt, jedesmal zu spät, wenn
man ihn filmen will…
Einmal quer durchs
Jahrhundert führt, am Pistenrand
hier eine Schattenspur: Graphit.
Zwei künstliche Welten, eine zur Konsumbefriedigung, die andere, um Kunst zu erzeugen.
Der Gedichtband ist voll von solch gegeneinander gestellten Wirklichkeiten, und immer sucht der Autor ihn ihnen nach Sprache:
am künstlichen Hang dreht
das Kettenfahrzeug, in deinem
Sprachzentrum dreht sich
ein flinkes Kettenfahrzeug auf
der Stelle…
Es sind Kopfgedichte, sinnlich sind sie kaum einmal. Und auch in denen geht es dann um Sprache. Beyers Poeme sind auch „intraliterarische“, also hermetische Gedichte. Wer, nicht vertraut mit beider Oeuvre, in dem Zyklus „Wacholder“ eine Hommage an den toten Freund Thomas Kling erkennen soll, bleibt mir ein Rätsel. Da hilft auch die lange Liste von Verweisen auf Fotografien, Kompositionen und Autoren am Ende des Buchs nicht weiter.
Beyer ist ein Poet der Dekonstruktion, der in der mit Furor betriebenen Vivisektion von Wirklichkeit und Sprache sein poetologisches Heil sieht. Ein Lyriker der poetischen Synthese ist er nicht. Auch kein Autor der Leselust, des beim Leser durch poetische Artistik erzeugten Erkenntnisgewinns. Damit steht er in der postmodernen deutschen Dichtung allerdings keineswegs alleine da.
– Marcel Beyers Gedichte sind Lichtspiele, Kamerafahrten und O-Ton-Protokolle zugleich. An seinem neuen Gedichtband Graphit hat er zwölf Jahre lang gearbeitet. Was er sucht: die Sinnlichkeit der Wörter. –
Der Dichter Marcel Beyer ist ein gewiefter Medientechniker. Seine Gedichte sind Lichtspiel, Kamerafahrt, O-Ton-Protokoll und Wörter-Konstellation zugleich. Sie gehen aus von der unmittelbaren sinnlichen Begegnung mit Klängen, Stimmen und visuellen Reizen – und öffnen dann einen geschichtlichen Raum, um ihn akribisch auszuleuchten. Graphit, sein neuer Gedichtband, an dem Beyer 12 Jahre lang gearbeitet hat, erkundet die Materialität von Dingen, um die in ihnen abgelagerte Geschichte freizulegen. Bereits das Titelgedicht führt beispielhaft die Verflechtung unterschiedlichster Wahrnehmungsperspektiven, Schauplätze und Schlüsselwörter vor.
Die sechs Teile von Graphit inszenieren meisterhaft die Entstehung von Poesie als „schrift die durch einen schneesturm watet“. Dieses Thomas-Kling-Zitat wird hier zum Nukleus eines langen Gedichts, das „den Übergang von Weiß zu Grau zu Schwarz“ als schöpferischen Prozess darstellt. Der Blick des Dichters erfasst zunächst eine Kunstschneehalle in Neuss, dann folgt ein Schnitt und ein Filmset am Rande Moskaus wird imaginiert, wo der legendäre Sergej Eisenstein die Szene einer Winterschlacht drehen will.
Beyers Stoffe und Motive sind stets geschichtlich aufgeladen, genaue Bildbetrachtung verbindet sich mit historischer Recherche. Lyrische Mikro-Biografien, wie die narrativ strukturierten Gedichte zu Ezra Pound („Mein Blauhäher“) und Karl May („Sanskrit“), wechseln mit kühlen Verschaltungen epochaler historischer Momente („An die Vermummten“).
„Graphit“, das meint hier nicht nur das grauschwarze Mineral, sondern auch das Handwerkszeug des Schreibens, den Bleistift und die Grapheme der Schrift. „Ich muss hinunter in die Dialekte / steigen“: Diese Verse markieren Beyers poetischen Imperativ. Sein lyrisches Subjekt steigt hinunter in die Dialekte, ein Spracharchäologe, der fremde Wörter, Begriffe und Namen abtastet, die dann mit ihren Klangwerten und ihren Morphologien zum Resonanzraum seines Schreibens werden. Als verlässlichen Begleiter erfindet der Dichter dabei einen „Sprachhund“, dessen „Appetit auf unbekannte Sprachen“ zur poetischen Antriebsenergie wird. Die Gedichte ziehen uns sofort hinein ins Sprachgeschehen, sie rufen in gestischer Direktheit ihre Sprachstoffe auf, Momente der Zeitgeschichte werden manchmal fast beiläufig erzählerisch, dann wieder fragmentarisch in schroffer Fügung evoziert. Im ersten Teil von Graphit durchqueren Beyers Ich-Stimmen das heimatliche Rheinland, mit emphatischen Reminiszenzen an seinen verstorbenen Dichterfreund Thomas Kling.
Danach folgen Expeditionen in östliche Regionen: ins bulgarische Rustschuk, dem Geburtsort Elias Canettis; nach Tomis ans Schwarze Meer, dem Verbannungsort Ovids und zugleich Sehnsuchtsland des russischen Weltpoeten Ossip Mandelstam; schließlich nach Sankt Petersburg und Moskau, zum grübelnden Präsidenten Putin, der dem Untergang des Atom-U-Bootes „Kursk“ nachsinnt.
Im Langgedicht „Sanskrit“ verwandelt der poetische Stimmensucher Beyer den berühmten Karl May, das Sprachengenie aus dem sächsischen Radebeul, zu seinem poetischen Stellvertreter. Das Gedicht, das anlässlich einer Karl-May-Oper entstand, führt alle Passionen des Lyrikers Beyer zusammen – seine Sprachbesessenheit, seine Erkundung des menschlichen Artikulationsapparats und schließlich seine Fähigkeit, die Position des lyrischen Ich auf viele Stimmen zu verteilen:
Sprache – ist zwischen Radebeul
und Ernstthal, ist heute
Nacht ein dunkles Tier mit
sanften Augen, ist Geheul.
Das Gedicht, wie fast alle Texte des Bandes in vierzeilige Liedstrophen gefasst, hebt an als Kontrafaktur von Allen Ginsbergs Howl, als große Klage über den Untergang einer Generation. Danach formuliert der lyrische Protagonist ein Selbstporträt, das sich wie ein poetisches Credo des Dichters Marcel Beyer liest:
Ich
bin ein Mann, der sich in
alle Zeit verzweigt, ein Mann
der tief in Schützengräben
blickt und nichts vergessen kann…
Dazu finden sich im zweiten Teil des Bandes viele Gedichte, die angetrieben sind von jener eminenten Musikalität, die schon immer Beyers Poesie inspiriert hat. „Und wichtig ist immer die Rhythmizität“, hat schon der junge Dichter vor einem Vierteljahrhundert gegenüber Thomas Kling bekannt – und diese Rhythmizität hat sich nun auch in „Liedpostkarten“ und Gedichte wie „Lambadamaschine“ eingeschrieben, einer modernen Form der Ballade, die von der Sozialisation des Ich durch bestimmte Sounds handelt. Der „Beat“ ist auch in einer Überschreibung des Trakl-Gedichts „An die Verstummten“ da, ein Text, der die Erschießung Osama Bin Ladens mit der emphatischen Beschwörung des drogensüchtigen Georg Trakl, dem „Slim Shady vom Waagplatz“, verknüpft. Die altehrwürdige Metapher hat der Sprachmaterialist Marcel Beyer durchweg vermieden, sein Graphit konfrontiert uns direkt mit der Sinnlichkeit der Wörter. Wer nach Grundbüchern für eine zeitgemäße Dichtung der Gegenwart sucht, muss bei diesem Band beginnen.
„Gebt Rillen, Höllenyards, gebt uns den Groove“: In seinem neuen Gedichtband Graphit fährt Marcel Beyer mit der Kölner U-Bahn über Dresden nach Jamaika – und Gottfried Benn fährt mit. –
Dieses Buch ist bleistiftfarben, es stellt seine Materialität grau heraus. Und so zeigt uns Graphit schon von außen, wohin die Reise geht: in die Art und Weise des Schreibens, in die Schichten der Schrift, in die Schichten der Geschichte. In diesen Gedichten ist vieles enthalten, doch Marcel Beyer führt seinen Stift mit leichter Hand. Die Sprache bleibt oft nah beim Alltag, manchmal setzt sie gar zu einem Kalauer an. Man sollte sich aber nicht täuschen lassen. Natürlich sind hier Popkultur und die tradierten Formen des hohen, literarischen Sprechens keine Gegensätze mehr. Aber das vermeintlich Niedrigere wird in diesen Gedichten in ungeahnte Höhen gehoben.
Ein Musterbeispiel für Marcel Beyers kulturarchäologische Suchbewegungen ist das Gedicht „Don Cosmic“. Das bezieht sich zunächst auf einen Titel des legendären jamaikanischen Posaunisten Don Drummond, der für den Höhepunkt der Ska-Musik in den Sechzigerjahren steht, in einem psychotischen Schub seine Geliebte in der Neujahrsnacht 1965 ermordete und einige Jahre später im Gefängnis Selbstmord verübte.
„Don Cosmic“ lässt sich aber auch, und damit setzt das mehrteilige Gedicht virtuos ein, auf Gottfried Benns Briefpartner F.W. Oelze beziehen, dessen Bremer Handelshaus sich auf den Rum-Import aus Jamaika gründete. Wir sehen ihn im ersten Bild, wie er sich in die Hauptstadt Kingston versetzt, wo seine Mutter zur Welt kam und im Hintergrund ein Pianist auf den schwarzen Tasten improvisiert, über den Standard „Dinah“. Diese Dinah versetzt den Kaufmann in Trance, in eine deutsche Trance der Dreißigerjahre:
Gebt Rillen, Höllenyards, gebt
uns den Groove, laßt endlich die ganze
Geschichte kippen, alles ins
Zwischenreich, alles in Moll.
Beyers Gedichte bestehen meist aus strengen Blöcken mit drei oder vier Zeilen, die aber durch Binnenreime und rhythmische Verweise aufgelockert werden und durch ihre Blue Notes bestechen, Akkorde, die sich dem abendländischen Tonsatzsystem entziehen und nicht nur den global agierenden Handelsmann F.W. Oelze aufputschten, sondern ebenso seinen Freund Benn. Auch dieser pflegte seinen deutschen Rausch, träumte davon, die Geschichte zu „kippen“, und er tritt zum Schluss selbst in das eh schon weit aufgefächerte, vielfarbige Licht- und Schattenensemble mit Oelze und Don Drummond. Aus späten Gedichtfragmenten kurz vor seinem Tod flirrt die Zeile „Eingenistet in die Sommerstunde“ direkt von Benns Schreibblöcken in Beyers Gedicht hinein.
Und wenn allein schon diese „Sommerstunde“ eine Art jamaikanischen Reflex auslösen könnte, dann vor allem auch die von Benn danach hingekritzelten Wortfetzen „Was bist Du? Ein Symptom ein Affe ein Gnom“. Das verdämmernde Europa und der verdämmernde Dichter werden mit exotischen Reizen konfrontiert. Beyers Gedicht spielt mit dem „Affen“ und dem „Gnom“, setzt ihm einen „Tropenhelm“ auf und hört nach „Westindien“. Es bleibt ein „Dauerton“, mit dem das Gedicht endet und der seinen Ursprung in „Dinah“ hat.
Dieses Gedicht zeigt exemplarisch Beyers Verfahren. Er spürt verborgene Verbindungen in der Geschichte auf, er zeigt Zusammenhänge, und er verfährt musikalisch. Es ist kein Zufall, dass das Gedicht, das auf „Don Cosmic“ folgt, in einer Zeile einen geheimen Nachhall birgt: „Stunden im Dämmer, plötzlich en face“ – das wirkt wie ein gefaktes Benn-Zitat, mit seiner Vorliebe für Schlagermelancholie und perlende französische Schaumweinworte.
Marcel Beyer legt seit seinen Anfängen großen Wert auf die Intonation seiner Gedichte, auf die orale Tradition. – er knüpft damit an die Zeit vor dem Buchdruck an, als die Lyrik vor allem auf Mund und Ohr angewiesen war, auf den Performancecharakter. Wenn man seine Gedichte laut spricht, bemerkt man Wortverbindungen, Wiederaufnahmen, Anspielungen, die in erster Linie dem Rhythmusgefühl geschuldet sind. Gedichte wie „Deine Silbe Grimm“ gehen alliterierend vor, von „Knicklauten“, die die berühmten Brüder im neunzehnten Jahrhundert gesammelt haben, hin zu „Knastbrüdern“ – und das waren die Grimms ja auch, die den Schreiber der aktuellen Zeilen nun schon „seit Jahrzehnten vor Morgengrauen / in die Zange nehmen“: Ihr Wörterbuch ist heute noch ein wesentlicher Bestandteil des Schreibhandwerks.
Und natürlich gibt es auch direkt autobiografisches Spielmaterial. Immer wieder tauchen die Städte Köln, wo Beyer prägende Jahre verbracht hat, und Dresden auf, wo er jetzt wohnt; Der Einsturz des Kölner Stadtarchivs war für Beyer ein paradigmatisches Ereignis: Der Text „Das Rheinland stirbt zuletzt“, schon im Titel eine ironische Umspielung des kölschen Lebensgefühls, wird zu einer groß angelegten „Spurendichtung“: Durch den Bau der U-Bahn stoßen die verschiedenen Zeiten aufeinander, RTL-Kameramänner und Fetzen von mittelalterlichem Minnesang. Die Altersgedichte des Lyrikers Muskatplüt, „hätt ich mich doch besser an die Jungfrau gewandt“, bekommen in dieser Umgebung eine ganz eigene Färbung.
Durch Dresden kommt der östliche Resonanzraum ins Spiel, die sowjetische Prägung, der Regisseur Eisenstein, die russische Film- und Fotokultur. Die Zeile „Ich trete die Flucht in den Endreim an“ führt zum Titel des nächsten Gedichts: „Endreimstimmung“. Es erfasst in mehreren Facetten eine Szenerie in St. Petersburg. Ausgangspunkt ist die Aktion eines Künstlers, der zufällige Passanten zu fingierten Familienfotos überredet. Durch die Zusammenstellung – ein Kadett, eine Vorstadtfrau im glitzernden Kosmonautenlook, ein Junge und ein Fleischerhund – ergeben sich vielfältige Assoziationsfelder. Eisensteins Filme, der Matrosenaufstand, das untergegangene U-Boot Kursk und die verfehlte Katastrophenpolitik des Präsidenten Putin: das lässt einen mal gestauten, mal brausenden Bilderfluss entstehen, „einmal quer durchs Jahrhundert“.
Das Schreiben, der Umgang mit den Wörtern wird in diesen Gedichten immer wieder selbst thematisiert. Und das geschieht mitunter sehr selbstironisch – ob in der Selbstbefragung „Bin ich der Mann vom History Channel?“ oder in den Zitaten aus einer behüteten Kindheit im Einkaufs- und Fernsehschlaraffenland Westdeutschland. Den Klagen über das Ende der DDR wie auch dem Pathos der deutschen Einheit nach 1989, den historischen Mänteln und Strickjacken, wird da sanft entgegengehalten:
Ich stehe da, im
Nicki der Geschichte, und
winke freundschaftlich
über die Sprachbarriere hin.
Der eigene Ort im stürmischen Lauf der Zeiten, der Kriege und Revolutionen, der großen Gefühle und der gewaltigen Kammhöhen der Kunst ist ein getarnter, verschwiegener und vermeintlich unscheinbarer. Umso feiner und raffinierter sind die Linien, die von ihm aus gezogen werden. Es ist nicht nur Gottfried Benn, der hier gecovert und mit einem völlig anderen Arrangement zeitgenössisch wird. Dasselbe geschieht auch mit Georg Trakl, Ezra Pound, Karl May oder Robert Musil. Das ist literarisch hoch aufgeladen, und es hat Groove. Wahrlich: eine „Zungensensation“
– Marcel Beyers Gedichtband Graphit ist auch eine Verbeugung vor Thomas Kling. –
Der Niederrhein ist eine recht prosaische Landschaft. Schaut man von der ehemaligen Nato-Raketenstation in Hombroich bei Neuss hinunter auf die Ebene, sieht man vor allem flaches Land und, als solle damit das Fehlen der Berge kompensiert werden, eine Skisprunganlage. Das hier ist nicht Tübingen, denkt der Betrachter, nicht Weimar, nicht Wien. Nicht einmal Berlin. Das hier ist eigentlich kein Dichterland. Es muss also einem eigenartigen Zufall zu verdanken sein, dass gerade hier zwei der wichtigsten Dichter unserer Zeit zusammengetroffen sind – Thomas Kling, der auf besagter Raketenstation lebte, und Marcel Beyer, der in Neuss aufwuchs und mit seinen 49 Jahren inzwischen älter ist als der eigentlich acht Jahre ältere, 2005 an Lungenkrebs verstorbene Kling.
Eine enge Freundschaft verband die beiden; Gleichgesinnte, die tief in die Geschichte des Ersten Weltkriegs eintauchten und Gedichte darüber schrieben, bevor äußere Jubiläen dazu Anlass gaben. Lyrische Mikroskopierer beide, die einen genauen Blick auf die Schnittstellen von Natur und Kultur warfen, lange bevor sich Exzellenzcluster damit befassten. Musiker und Archäologen der Sprache zudem, die den neuesten Argot und die Rhythmen und Gesten der Popmusik für ihr Werk fruchtbar machten, zugleich aber stets den Grimm zur Hand hatten, das Plattdeutsche liebten, verschüttete Wörter ausgruben.
Dass all das für Marcel Beyer immer noch gilt, kann man in seinem neuen, überwältigend umfangreichen Gedichtband Graphit nachlesen. Gleich im ersten, titelgebenden Zyklus begegnet man der Schneekatze,
die ihre Bahnen
zieht. Der Schneimeister
persönlich dirigiert den
Pistenbully am künstlichen
Hang. Ein Mann mit Strickmütze
und Daunenjacke ein
Mann mit Zungenschlag, eine
Flachlandgestalt, ein Mann
aus Neuss.
Gerade in der ersten Abteilung dieses Gedichtbandes wird diese Gegend, die eben auch Thomas-Kling-Gelände ist, zum eigentlichen Gegenstand des lyrischen Sprechens. Die vermeintlich arme Landschaft offenbart dabei ungeahnten Reichtum, einen menschengemachten Reichtum namens Wortschatz. So rührt die Faszination für den unscheinbaren Wacholder – im explizit auf Thomas Kling rekurrierenden Zyklus „Wacholder“ – nicht allein vom eher unscheinbaren Äußeren des Gewächses her, sondern von all den Namen und Zuschreibungen, die er trägt und erfahren hat:
Ja, beutel das: Kadix und Jidlinka,
die Judenkersche. Beutel das
Mischwort ein, wo sich der Mund
vom Auge trennt, die Schlehe, Holler,
die Vogelbeere. Du sollst auch
Knirban, Ebern, Katsel, Kranebitter
beuteln, wo Hand und Zunge einfach
nicht zusammenfinden. Pflück
mir den schwarzen Flieder. Streife
die Beeren mit dem Handschuh von
den Zweigen ab. Knister und
Knirk stellen hervorragende Beutelware
dar. Jangel, Einbeer, Kniederlock. Und
Palma pflück. Du beutelst
Todausbäumchen mit ruhiger Hand.
Der Wacholder – dessen zahlreiche Namen hier in den Sprachbeutel gesteckt werden – wird bei Beyer zu einem magischen Gewächs: „Todausbäumchen“ – weiß man, dass „Wacholder“ kurz vor Thomas Klings Tod geschrieben wurde, ist der Beschwörungscharakter, das Zauberspruchartige unverkennbar – treibe den Tod aus, Bäumchen, „mach mich gesund“.
„Mach mich gesund“ – so heißt es in „Wespe, komm“. Darin ist es die Wespe, die beschworen wird, dem Dichter in den Mund zu fliegen, ihn anzustacheln, ihn vielleicht überhaupt erst zum Dichter zu machen. Auch hier ist Hintergrundwissen hilfreich: Der wespenbegeisterte Thomas Kling trug in den achtziger Jahren über lange Zeit keinen anderen als seinen schwarz-gelb gestreiften Wespenpullover. So stellt „Wespe, komm“ die wohl tiefste Verbeugung vor dem Freund dar, erklärt ihn zur unerschöpflichen Inspirationsquelle. Aber auch der, dem die Freundschaftszusammenhänge und die Tiersymbolik unvertraut sind, wird sich dem Bann dieser irisierenden Verse kaum entziehen können:
Halt die Außensprache
kalt, innen sei Insektendunst, mach
es mir, mach mich gesund,
Wespe, komm in einen Mund.
Die niederrheinische Dichterwelt also wäre schon reichhaltig genug, mehr brauchte es eigentlich nicht für einen Band. Doch ist es Beyer damit längst nicht getan. Auch der Erste Weltkrieg taucht in Reverenz an Robert Musils Kriegserlebnisse wieder auf, der Einsturz des Kölner Stadtarchivs („Das Rheinland stirbt zuletzt“) wird in Graphit zu einem bitteren Lehrstück über die Vernichtung auch von Dichtungsgeschichte. Gottfried Benns Briefpartner, dem Rumfabrikanten Oelze, ist ein wunderbares Jamaika-Stück gewidmet („Don Cosmic“). Und dann findet sich noch, im Jahr des Trakl-Jubiläums – aber auch das mag Zufall sein –, eine hochvirtuose Trakl-Überschreibung und -Aktualisierung. Laut für Laut hat sich Marcel Beyer Georg Trakls Gedicht „An die Verstummten“ vorgenommen und es in ein ebenso schlüssiges wie schillerndes Stück über den 11. September und die Hinrichtung Osama bin Ladens verwandelt. An die Vermummten heißt es und beginnt wie folgt:
So der Wahnsinn Abbottabad, da sich alles
an schwarzem Material überlagert: Asche
von Türmen, nordpakistanische Nacht.
Schwarz steht auch Graphit auf dem grafitgrauen Umschlag dieses Bandes. Grafit freilich ist nicht nur Bleistiftstoff, Grafit braucht es auch, um atomare Kettenreaktionen in Gang zu setzen. Die Halbwertszeit dieser Gedichte, denkt man, dürfte ähnlich hoch sein wie die manch radioaktiven Stoffes.
Spätestens mit seinem zweiten Roman Flughunde hat sich Marcel Beyer zu einer maßgeblichen Stimme der deutschen Gegenwartsliteratur gemausert. Das war 1995. Es folgten zwei Romane, mehrere Gedichtbände, Essays und Erzählungen und Opernlibretti. Die Liste seiner Auszeichnung ist sehr lang. Eigentlich fehlt nur noch der Büchner-Preis. Aber der kann ja noch kommen. In diesem Jahr kamen der Oskar Pastior Preis und der Kleist-Preis hinzu.
Wespe, komm in meinen Mund,
mach mir Sprache, innen,
und außen mach mir was am
Hals, zeigs dem Gaumen, zeig es uns.
Wenn Marcel Beyer seine Gedichte vorträgt, verändert sich seine Stimme. Sie wird ernsthaft, fast feierlich. Jedes einzelne Bild soll sich dem Hörer einprägen. Denn auch die Stimme ist eine Schrift. Der Titel seines neuen Gedichtbandes spielt, wie die Poesie, mit dem Mehrklang des Vieldeutigen:
Ja, das Graphit spielt natürlich auf beides an. Einerseits auf den Bleistift, auf den Graphit-Stift, mit dem man schreiben kann. Andererseits aber auch, wenn man an das Graphit-Pulver denkt, an Bildende Kunst. Ich weiß nicht… an grau, leicht schimmernde, geheimnisvoll schimmernde Flächen, so Marcel Beyer.
Seit nunmehr 20 Jahren lebt Marcel Beyer in Dresden. So verwundert es zunächst in Graphit immer wieder seiner rheinischen Kindheit und Jugend zu begegnen. Ein Gedicht trägt den Titel „Das Rheinland stirbt zuletzt“.
Plötzlich merkte ich, mir kommen so rheinische Ausdrücke ins Ohr. Ich erinnerte mich an einen Ausdruck, den ein Kind in dem Kindergarten, in dem ich Zivildienst gemacht habe, 85, 86, 87, da hat mal ein Kind gesagt: der aale Drieshannes! Und jetzt, fast dreißig Jahre später habe ich das wieder im Ohr, und es fließt in ein Gedicht ein.
Es sind aber nicht immer Worte oder Klänge, die in die Kindheit zurückführen. Manchmal ist es eine alte Geschichte. In dem Gedicht „Timide, timide“ flackert die Legende der Heiligen Wilgefortis auf, die lieber am Kreuz starb, als sich mit einem Heiden verheiraten zu lassen:
Timide, timide. Wir müssen über
Burschenspucke sprechen,
über Wilgefortis, Kumerana,
Ontcommer, Hulpe, Kümmernis.
Über Nasalstrich. Das Geldrische.
Über Bastarda. Eine Hand. Und
über Schlaf. Das bleiche Licht
vom Niederrhein, Frühsommer
fast, die Ginsterblüte, man hört
den Falken einen Falken
licken, Kaninchenhaar, sagt man,
schmeckt süß. (…)
Bildende Kunst, vor allem Fotografie, andere Dichter wie Thomas Kling, Elias Canetti oder Gottfried Benn sind anspielungsreich in diese Gedichte eingewoben. Und immer wieder Tiere. Von Wespen, Falken und Kaninchen haben wir schon gehört. Aber es sind noch viel mehr. Dürfen wir uns Marcel Beyer als einen Heiligen Franziskus vorstellen, der ja mit den Tieren kommunizieren konnte? Oder was hat es bei Beyer auf sich mit dem Animalischen?
Dann aber währenddessen, also während ich schreibe und die Meise draußen ruft, rufe ich natürlich auch zurück. Und wir verstehen uns prächtig, ja? Und diese merkwürdigen Möglichkeiten, in einer Welt gemeinsam zu leben und dennoch in zwei völlig getrennten Welten – die Meise, die über meinem Laptop im Rüttelflug steht, weil ich schon lange nicht mehr gefüttert habe, weil ich gerade sehr konzentriert arbeite und auf den Bildschirm schaue, die mir also damit zu erkennen gibt: Mann, kann ich mal wieder ein bisschen Nuss kriegen, die weiß nichts davon, was Schreiben bedeutet, was ich da mache, dass ich vielleicht gerade über sie schreibe und trotzdem funktioniert das, dass wir zusammenleben, so Marcel Beyer.
So endet das Gedicht „Wespe, komm“:
Halt die Außensprache
Kalt, innen sei Insektendunst, mach
es mir, mach mich gesund,
Wespe, komm in meinen Mund.
– Frühstücksflocken, Autobahn und Niederrhein: Die Gedichte von Marcel Beyer haben das Gefrierfach verlassen. Graphit, sein dritter Lyrikband, stillt unseren Wörterdurst und übertrifft alle Erwartungen. –
Vor langer Zeit, als Gott sich noch bemerkbar machte, lebte in heidnischen Landen eine christliche Prinzessin, die, als sie verheiratet werden sollte, den himmlischen Bräutigam bat, sie vor der Ehe zu retten, und sei es durch den Tod. Da wuchs ihr ein Bart, worauf der erzürnte Vater sie ans Kreuz schlagen ließ, in Lumpen, aber mit einem goldenen und einem silbernen Schuh. Später wurde die Märtyrerin als Heilige Wilgefortis oder Kümmernis verehrt, ihre Schuhe wanderten hinüber in die Geschichte eines Spielmanns, der vor dem Kreuz musiziert hatte, und auch die Malerei nahm sich der Legende an. Ein mittelalterliches Fresko der bärtigen Jungfrau ist in der Düsseldorfer Lambertuskirche zu sehen, und vielleicht war es also eine Reinkarnation, die/der da beim letzten European Song Contest einen sehr weltlichen Triumph feierte?
Ein paar Jahre früher schickte Marcel Beyer die seltsame Heilige auf eine lange Wanderschaft vom Niederrhein flussaufwärts bis nach Südtirol. Der längst überholten „Wandertheorie“ des Philologen Benfey folgend, zieht sie dahin, wandelt sich zu Sprache, „geht Zeichen machen. / Spricht.“ Das Gedicht heißt „Timide, timide“ und kombiniert Religion, Landschaft und Linguistik, kontrastiert Bastarda (eine spätgotische Schriftart) und Frühstücksflocken, Pilgerschaft und Autobahn – über Mangel an Vielseitigkeit kann sich kein Leser beklagen. Eher schon gerät er ins Grübeln über der Frage: Muss ich all diese Wörter und Personen kennen? entschlüsseln? verstehen? Und was, bitte, gehen sie mich an?
Nichts natürlich. Nichts im Sinne von Empathie, individueller Betroffenheit und existenziellem Schauder, wofür die Lyrik nach allgemeiner Auffassung zuständig ist. Beyers Gedicht demonstriert die hakeligen, grenzenlosen Vernetzungen der Wörter über lokale Traditionen hinaus und fordert zum Mitknüpfen auf. Katholisch muss man dafür nicht sein, nur geduldig und offen für die gedehnte Bewegung des Textes, für den kalkulierten Wechsel von Fluss und Interruptio, Stocken und Beschleunigung. Geht ins Ohr, in den Kopf und bringt gewohnte Bildsortierungen in zarte Unordnung.
Denke ich an Marcel Beyer, sehe ich eine Hand, deren Finger im Rhythmus der Worte über der Tischplatte tanzen, ohne sie zu berühren. Musikerfinger, unruhig und präzise. In lautloser Perkussion takten sie die Lesung eines Kapitels aus Kaltenburg und verdeutlichen die Muster der Betonungen. Die Romane (Flughunde, Spione) machten Beyer berühmt, seiner Lust am mikroskopischen sprachlichen Forschen und Experimentieren folgt er in der Lyrik.
Graphit ist sein dritter Gedichtband. Wie eine karge Notiz im Anhang mitteilt, versammelt er Gedichte aus den Jahren 2001 bis 2013. Langer Atem also, Gelassenheit und Selbstbewusstsein. Da die Romane ihm den Platz im öffentlichen Gedächtnis sichern, muss dieser Autor nicht, wie die meisten Lyriker, in kurzen Abständen erneut um Beachtung kämpfen. Die schiere Zahl der Texte (159, wenn ich richtig gezählt habe) hätte durchaus mehrere sukzessive Publikationen erlaubt. Aber ein Dutzend Jahre, kompakt gepresst, sorgen nun dafür, dass die Waage heftiger ausschlägt. Risikolos ist das nicht: Trägt der eigene Ton über so viele Seiten? Droht nicht Monotonie?
Beim ersten Blättern hielt ich manchmal inne und dachte verblüfft: Kennst du doch, und zwar gut. Standen diese Verse nicht schon in Falsches Futter oder Erdkunde? Natürlich nicht, sondern im Jahrbuch der Lyrik, an dem man das Vergehen von Poesie schmerzlich genau studieren kann. So viele Gedichte, so wenige, die in Erinnerung bleiben. Für meinen Wörterdurst waren es immer die von Marcel Beyer. Obwohl seine Texte oft nur andeutungsweise verraten, wovon die Rede ist, obwohl man nach der Lektüre eher dumpf bewundernd denn berührt dasitzt, prägen sie sich ein, ganz sinnlich. Durch „Timide, timide“ hallen die so verschiedenen Namen der Heiligen, wir sehen, wie Wörter und Zeichen Grenzen überwinden und in neue Gegenden vordringen, ahnen, dass der Falke das Kaninchen schlägt. Aber wer genau wächst hier nach, wer fiebert, wer sediert und warum? Keine Antwort. Vielleicht stellt sie sich später einmal ein, zufällig, unerwartet. Gesichert ist auf jeden Fall der Genuss, wenn Metrum, Zeilensprünge und Pausen internalisiert sind (gar nicht so leicht) und das Gedicht sich wie von selbst vorträgt, laut oder stumm, je nach Neigung. Alle Markierungen passen und halten Stand, während die Assoziationen dazwischen herumsausen, dass es klackert.
Was diesen Autor interessiert, wissen seine Leser lange. Tiere sind ein Thema. Ostdeutschland, wo er seit 1996 wohnt, die östlichen Länder Europas, aber auch historische Ereignisse und Figuren. Kunst, Künstler, andere Autoren und immer wieder und im neuen Band mehr denn je: Sprache. Nachhaltiger als die skurrile Bartträgerin faszinierten Beyer wohl die Namen, unter denen sie angerufen wird. Spricht im Gedicht ein Ich, reflektiert es eigene und fremde Sprechweisen und Redewendungen:
Ich muss hinunter in die Dialekte
steigen, ich bin WIE EIN
PALAST VOM VOLK
ZERSPLITTERT, ich bin
der Hund, der sich vorm PLUS
den Hals verdreht.
Verse, die sich vorzüglich für den morgendlichen Blick in den Spiegel eignen, tonlos rezitiert: Ja. Genau.
Die radikale Subjektivität solcher Texte besteht nicht darin, dass ein Ich sein Innerstes preisgibt, wie man so sagt (und vielleicht auch erwartet), sondern dass der Autor beim Arrangieren des Wortmaterials keine Rücksicht auf andere nimmt. Wer studiert schon Wörterbücher, reist nach Rustschuk, kennt die Biografie von Herrn Oelze aus Bremen? Schroff wirkt das, nah am Hochmut. Andererseits: Was soll der Dichter denn bieten außer den Wörtern, die ihn reizten? Immerhin kann der Leser ihnen nun dank Wikipedia ein wenig folgen. Kreativ gelockert kann er aber auch auf Belehrung verzichten und sich selbst mit eigenen Antworten überraschen. Hauptsache Schwingung, Hauptsache Anklang.
Beyer begann mit fünfzehn Jahren Gedichte zu schreiben, bis zum ersten Gedichtband dauerte es noch einmal so lange. Falsches Futter (1997) hatte einen aggressiven, hingerotzten Ton, Sex war ein deutliches Thema. Die Titel klangen wie Verheißungen: „Leni, tiernah“, „Kalbsdeutscher Rauschzustand“, „Tag des unbeturnten Kindes“, die Gedichte lösten sie ein. Erdkunde (2002), sehr viel gemäßigter, wagte den Schritt vom Einzeltext zu klug komponierten Zyklen wie „Der westdeutsche Tierfilm“, der die poetische Version der Kaltenburg-Geschichte liefert.
In Graphit ist der Ton nochmals milder geworden, viele Gedichte wirken geradezu leserfreundlich. Der einstige Zorn ist reduziert auf „Eine Silbe Grimm“, eine Anspielung auf das Deutsche Wörterbuch der Märchenbrüder. Hübsch, aber harmlos. Die Zahl der Zyklen hat zugenommen, auch das ein zweischneidiges Verfahren. Im Zyklus korrespondiert das einzelne Gedicht mit seinen Nachbarn, die Motive werden gespiegelt und „durchgeführt“ wie in der Musik. Nicht immer entsteht das gewünschte magische Knistern. Der eröffnende Zyklus „Graphit“ etwa gibt dem Band den Titel, zu Recht, weil er darlegt, wie aller Wirklichkeit der Schatten der Schrift folgt. Eine Garantie fürs Gelingen ist das nicht. In sechs Einzelgedichten werden Hombroichs flache Äcker samt der dort installierten, absurd gebuckelten Skihalle und Sergej Eisensteins Filmepos Alexander Newski gegeneinander geschnitten: Der „Schneimeister“ aus Neuss und der revolutionäre russische „Schnittmeister“ und Regisseur produzieren Kunstschnee. Solche Parallelismen wirken bemüht, und manche Verse, selbst als ironisch gemeinte, klingen merkwürdig simpel:
So
führt er uns, der Schneimeister,
mit lässiger Hand vor, wie man
in Neuss am Rhein
Maschinenschnee zu
Schneekunst macht.
Wer will das wissen?
Ziemlich weit weg jedenfalls ist solche Belehrung von den ambivalenten, hingeknallten Rätseln der Jugendverse, diesem ruppigen Sound, in dem Sätze verknappt und Substantive einfach nebeneinander platziert werden, um mal zu testen, ob sie sich dadurch unter Strom setzen lassen. Auch in Graphit gibt es Beispiele dafür, „Alphabet Oberlippe“ funktioniert so, und glänzend. Der Bezugspunkt, im Anhang erwähnt, ist Georg Trakl. Aber man muss gar nichts wissen über Trakls kurzes, schauerliches Leben, um die Schreckensszenerie vor Augen zu haben:
Vers für
Vers kroch ich durch den Saal,
man kratzte sich, man hing
in Scheiben, es wurde operiert.
Alphabet Oberlippe, Alphabet
Unterleib…
In solchen Strophen ist Beyers Kunst einzigartig, kein anderer zeitgenössischer Lyriker erreicht diese Ich-packe-dich-jetzt-bei-der-Gurgel-Intensität.
Gedichte seien „Erkundungen von Nachbarschaften“, schrieb er 2006 in einem Aufsatz, „nicht diffuser Ausdruck diffuser innerer Befindlichkeit, sondern Wörter, die mit größtmöglicher Klarheit in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden… Gedichte sind Forschung – auf einem anderen Gebiet als der Naturwissenschaft, mit anderen Mitteln, einem anderen Gegenstand natürlich, aber in der Bewegung ähnlich.“ Ein inzwischen fast populäres Muster dieses Verfahrens, Kandidat für Lesebücher und Anthologien, ist „Wespe, komm“. Vom Komponisten Enno Poppe vertont, kann der Text dennoch sehr gut mit der eigenen Musik auskommen. Er huldigt dem früh verstorbenen Freund Thomas Kling, der die Wespe zu seinem Wappentier erkor und sich im gelb-schwarzen „Wespenpulli“ fotografieren ließ. Umgehend produziert das Bild der Wespe im Mund Würgereiz, aber das Ich fleht weiter, trotz Erstickungsgefahr, mit erotischem Tremolo und heftigem Duktus: „Mach mir was“ und noch einmal „mach es mir“. Zwischendurch entwirft es die Geschichte einer Generation. Die Kälte der „Außensprache“ ist immer noch in Beyers Gedichten zu spüren, auch wenn sie inzwischen das Gefrierfach verlassen haben. „Insektendunst“ nebelt durch Bilder und Zitate, und dass der Bittsteller und Beschwörer in naher Zukunft daran gesundet, ist nicht zu befürchten.
Diese Graphit-Gedichte erschließen sich nur schwer und man braucht einen langem Atem, damit einem nicht die Luft wegbleibt, bei soviel Geduld, die einem abverlangt wird. Vom Äußeren her ist das Buch eine Wonne, geradezu selbst lyrisch in seiner knappen Art mit dem grauen Leineneinband und monochrom wirkendem Schwarz-Weiß auf grauem Grund. Zwischen Schwarz und Weiß mag es nicht nur Grau geben, sondern hoffentlich auch ein vielfarbiger Regenbogen, den man hier leider wird vermissen müssen. Die Gedichte Marcel Beyers zeugen von Materialität, von kleinen Dingen, von Pflanzen, Betonplatten und Geröll. Die stark szenisch angelegten Gedichte, die vielfach in mehreren Teilen präsentiert werden. Hier stolpern die Worte und Gedankensprünge und fordern zum wiederholendem Lesen auf.
Wacholder. So macht das kleine Vogelauge
sich davon. Dieses
lichtfressende, dies Ding hat
sich vom Fleisch gelöst und…
Das Auge eines Vogels als lichtfressend zu bezeichnen ist genial.
Marcel Beyers Gedicht „Die Maus“ greift die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges auf und stellt in bizarrer Weise kontrastierend die Bergwelt und ein verendetes Pferd gegenüber und erzählt dabei nüchtern-sachlich von Verletzungen und Unansehnlichem. Man stoppt im Lesefluss, in dem man nicht baden mag und dem man kein Hochwasser zumuten mag, so unlesbar und ungenießbar sind die Zeilen. Graphit ist keine gut verdauliche Kost, ist eher eine umwegsuchende Sammlung von Eindrücken, von Bildern, von Erfahrungen, denen man nur noch ungern begegnen mag. Und hier liegt die gewaltige Kraft in dem Band, das man hier nicht heraus kann, sondern sich der Auseinandersetzung stellen muss. Diese Lyrik ist anstrengend, ist lohnend, ist herausfordernd. Ein zu erforschendes Sprach- bzw. Wortuniversum tut sich hier auf, das einen mehr als fordert – und manches Mal auch überfordert. Ein anspruchsvoller Lyrikband!
– Der 50-jährige Autor und Dichter Marcel Beyer verarbeitet in seinem jüngsten Gedichtband Graphit seine Hombroicher Beobachtungen und Erfahrungen. Dafür wird ihm der Düsseldorfer Literaturpreis 2016 verliehen. –
Offenbar ist Marcel Beyer einer, den man gerne ehrt. Seit 1991 – also mit seinem Romandebüt Das Menschenfleisch – wurden ihm bislang 25 Literaturpreise verliehen, darunter fast alle namhaften. Nun kommt der 26. hinzu: Marcel Beyer wird Düsseldorfer Literaturpreisträger 2016 und darf sich über eine Preissumme von 20.000 Euro freuen.
Mag sein, dass neben der Qualität seiner Werke auch die literarische Unberechenbarkeit den Preissegen förderte. Beyer begann als Lyriker, dessen Gedichte unverkennbar von den Arbeiten Friederike Mayröckers beeinflusst waren. Über die österreichische Dichterin und Lebensgefährtin von Ernst Jandl hatte Marcel Beyer zudem wissenschaftlich gearbeitet. Sein Durchbruch aber gelang ihm mit Prosa – mit dem Roman Flughunde aus dem Jahr 1995. Der erzählt verwegen vom Ende des Zweiten Weltkriegs, indem die Geschichte aus den Perspektiven eines fanatischen Akustikers in Nazi-Diensten sowie einer Goebbels-Tochter transportiert wird. Schon in diesem Prosawerk ist es Beyer um die Instrumentalisierung von Sprache gegangen.
Das Thema hat ihn bis heute nicht losgelassen. So kritisierte er in seiner Dankesrede zum Heinrich-Böll-Preis 2001 jene Autoren, die sich inflationär zu tagespolitischen Ereignissen zu Wort meldeten. Nichts gegen Engagement und Einmischung; doch würden solche massive Bekundungen von Autoren eine Art Missbrauch der Sprache darstellen. Auch so etwas reicht schon aus, um im eher geruhsamen Literaturbetrieb hierzulande als „Ruhestörer“ zu gelten.
Nach Flughunde ließ Marcel Beyer, der bereits als 15-Jähriger seine ersten Gedichte schrieb, weitere Romane folgen, Erzählungen, Essays, ein Opernlibretto und immer wieder Gedichte – zuletzt mit dem Band Graphit von 2014. Besonders auf dieses Werk beziehen sich jetzt die Düsseldorfer Juroren, die dem 50-Jährigen attestieren, mit seiner akribisch genauen Sprache sowohl Alltägliches als auch Zeithistorisches zu thematisieren.
Spannend an Graphit ist aber auch, dass der in Kiel und Neuss aufgewachsene Autor sich literarisch seinen Wurzeln annähert. Dies geschieht vor allem über einen anderen Dichter, der ihm poetisches Vorbild und als Düsseldorfer Literaturpreisträger auch Vorgänger war: über den vor gut zehn Jahren gestorbenen Thomas Kling.
Dieser hatte Marcel Beyer als jungen aufstrebenden Lyriker 2002 als Stipendiaten des von ihm ins Leben gerufenen Projekts „Fellowship: Literatur“ für zwei Monate auf die Raketenstation geholt. Für Marcel Beyer war das damals auch eine Rückkehr in die Kindheit, denn zu gut erinnerte er sich an die Zeiten, als er noch mit dem Rad um die umzäunte ehemalige Nato-Station herumfuhr. Zur Raketenstation kehrte der heute im Osten Deutschlands lebende 50-Jährige immer wieder zurück. Zu Lesungen und Veranstaltungen unter dem Kling-Nachfolger Oswald Egger oder wie zum zehnten Todestag von Thomas Kling im April vergangenen Jahres zu einem Austausch über die Lyrik des mit 47 Jahren gestorbenen Kling.
In seinem Gedichtband Graphit hat Beyer seine Hombroicher Beobachtungen und Erfahrungen vielfach verarbeitet. Ob es die flachen Äcker rund um die Raketenstation sind oder die Skihalle und deren „Schneimeister“ – in sechs Gedichten zeigt Marcel Beyer in virtuoser Sprache, was Hombroich ihm bedeutet und wie es ihn bewegt.
Dabei ist sein Blick nicht allein zurück aufs Rheinland gerichtet, sondern auch auf Thomas Kling. Dessen Gedicht „vogelherd. Mikrobukolika“ etwa habe ihn tief beeindruckt, sagt Beyer. Mit Klings Tod sei einfach eine Leerstelle entstanden, die seine Gedichte immer wieder umspielen. Mit „Wacholder“ hat er ein Gedicht betitelt, das eine liebevolle Form der Hommage an Kling ist. Und von besonderer Bedeutung, da es im Herbst 2004 entstanden ist, wenige Monate, bevor der an Krebs erkrankte Kling starb.
Schreiben. Zwölf Jahre hat sich Marcel Beyer Zeit gelassen, um die schönsten Variationen,deren seine Sprache fähig ist, in Rhythmus zu verwandeln. Die Wortverbindungen und Worterfindungen, das musikalische Verfahren und der Ton des Ganzen machen aus diesem Lyrikband eine beglückende Begegnung mit der Poesie. Graphit ist sie, wie die bleiglänzende Farbe, wie ein schlichter Bleistift, wie leichtes und flüchtiges Graphitpulver. Abstrakte Ästhetik? Nein. Denn in jedem Vers steckt auch die Erinnerung einer unausweichlich konkreten Existenz-und Alltagserfahrung. Dieser Band erzählt mit Herzklopfen,traurig und sinnlich, aus den Tagen und Jahren einer Lebenszeit.
– Die wichtigsten deutschsprachigen Neuerscheinungen haben viel mit dem Jahrhundertdichter Georg Trakl zu tun. –
(…)
Aber es gibt genauso die Begegnung auf Augenhöhe. Das Renitente in Trakls Sprache findet sich in anderer, nicht minder wuchtiger Gestalt in den Versen des 1965 geborenen Romanciers und Lyrikers Marcel Beyer. Von „Verklirrter Herbst“, Beyers schräger Anverwandlung von Trakls „Verklärter Herbst“, die 1997 in Beyers Band Falsches Futter erschien, führt eine Linie zu Graphit, dem neuen Lyrikbuch von Beyer. Er enthält das in Trakl und wir abgedruckte Gedicht „An die Vermummten“, das auf Trakls „An die Verstummten“ antwortet. Doch auch das dreiteilige „Alphabet Oberlippe“ bezieht sich vermittelt auf den Jahrhundertdichter, genauer: auf eine Fotografie, die Georg Trakl im Sommer 1913 auf dem Lido von Venedig zeigt. Trakl war mit dem Herausgeber der Zeitschrift Der Brenner, Ludwig von Ficker, sowie dessen Frau und Karl Kraus nach Venedig gereist. Venedig, mutmaßt Trakls Biograf Gunnar Decker, muss Trakl ambivalent gestimmt haben. Auf besagtem Foto jedenfalls schaut er ziemlich grimmig drein.
In Beyers Gedicht wird die Fotografie zur Vorlage, ein Verfahren, das sich bei ihm häufiger findet.
Das Leibchen. Ein Salzwasser,
ein Kälteschockgesicht am
Strand, das Schwimmkleid
schwarz. Die Beine und sein
Hals: ein Bauer, der mit Sand
nichts anzufangen weiß.
Schwimmkleid Venedig. Hat
ihn nicht dauerhaft aufheitern
können, dieser Ausflug, nein.
Das Schwimmkleid Limanowa.
Das Schwimmkleid Krakau.
Und das Schwimmkleid Salz.
Dass Trakl nach seinem Venedigaufenthalt in einen Rausch des Dichtens geriet, ehe er 1914 als Militärapotheker ins Heer einberufen wurde und die Schlacht bei Grodek miterlebte, beschreibt Beyer im dritten Teil des lyrischen Triptychons. In Grodek musste Trakl viele Verwundete allein versorgen. Zwei Tage und zwei Nächte arbeitete er im Lazarett. Bei Beyer liest sich das so:
Vers für Vers kroch ich durch den Saal, man kratzte sich, man hing in Scheiben, es wurde operiert. Alphabet Oberlippe, Alphabet Unterleib, und das Gejammer.
Dichten, Wahrnehmen, Bezeugen verschmelzen zu einer Bewegung.
Die imaginierte Wahrnehmung Trakls überlagert sich mit dem erlebten Kriegsszenario und mit der inneren Bewegung seines Dichtens. Beyers Band Graphit verweist schon im Titel, abgeleitet aus dem altgriechischen Wort graphein für „schreiben“, direkt auf die dichterische Arbeit und auf die Materialität der Sprache.
Marcel Beyer liest und spricht mit Michael Braun auf der Leipziger Buchmesse 2015.
Marcel Beyer in Lesung und Gespräch
Moderation: Thomas Geiger
Laudatio zum Bremer Literaturpreis 2015
Dankesrede zum Bremer Literaturpreis 2015
Bremer Literaturpreis 2015 an Marcel Beyer verliehen.
Erich Klein: Gedichte, die Gassenhauer sein könnten
Falter, Wien, 11. 2. 2015
Christina Esther Hansen: Schön in den Sprachbeutel. Gedanken zu Marcel Beyers Gedichtband „Graphit“
Kritische Ausgabe, Heft 28/29, 2015
– Interview mit Marcel Beyer am 30. Juli 2018 in Dresden. –
(…)
Axel Helbig: Wir machen jetzt einen großen Sprung und sprechen über Ihren Gedichtband Graphit. Graphit enthält Gedichte aus den Jahren 2001 bis 2014. Auch die Gedichte greifen, wie der Roman, häufig zeitgeschichtliche Kontexte auf. Sie sagen an mehreren Stellen Ihrer Essays oder Reden, „Geschichte ist, wie das Erinnern, immer auch in der Zukunft angesiedelt“. Wie ist das gemeint?
Marcel Beyer: Warum blicken wir nicht, wie es evolutionsbiologisch vielleicht völlig hinreichend wäre, einfach in den Tag? Ich glaube, daß sowohl das eigene individuelle Erinnern wie auch das Bedürfnis, sich ein Bild von Geschichte zu machen, eigentlich dazu dienen, Werkzeuge für die Zukunft herauszubilden. Wir haben das Gefühl, daß die Zukunft etwas Ungewisses ist. Auch wenn mir jetzt ein versierter Zoologe vielleicht widersprechen würde: Darüber machen sich die Tiere keine Gedanken. Diese reagieren nur, wenn Probleme auftauchen. Wir schauen zwar zurück, aber trotzdem ist das Erinnern ja nichts, was hinter uns liegt. Es handelt sich um eine aktive Tätigkeit. Diese Aktivität entwickelt man doch nur, weil man Werkzeuge entwickeln möchte, um sich in der ungewissen Zukunft orientieren zu können. Und da stellt natürlich Sprache ein wichtiges Moment dar. Zum einen sagen wir, daß Sprache für uns Vergangenheit festhält, teilen die Menschheitsgeschichte geradezu danach ein, ab wann wir auf Indizien für die Sprachentwicklung stoßen, ab wann schriftliche Zeugnisse vorliegen, zum anderen aber tun wir dies stets im Blick auf unsere Zukunft. Erinnern und Entwerfen sind eng miteinander verknüpft: indem ich mich als Wesen mit einer Vergangenheit entwerfe, entwerfe ich ein Bild von mir, mit dem ich in die Zukunft gehe.
Helbig: Gedichte sind Sprachspeicher der besonderen Art. In einigen Gedichten des Bandes Graphit wird auch auf den großen Sprachspeicher des Grimmschen Wörterbuchs Bezug genommen – etwa im Gedicht „Deine Silbe Grimm“. Vielleicht ein Dank an die Brüder Grimm, daß sie das große Projekt vor annähernd 200 Jahren gestartet haben, von dessen Fortschreibung die heutigen Autoren täglich profitieren und diesen Sprachschatz weiter entwickeln. Ein Dichter, mit dem Sie gemeinsam an Sprache gearbeitet haben, ist Thomas Kling, dessen Poetikband Itinerar ich vor wenigen Tagen noch einmal gelesen habe. Kling hat dort vieles festgehalten, was für die Gegenwartsdichtung, soweit diese sich als Spracharbeit definiert, wichtig ist. Vielleicht ist er mit Itinerar so etwas wie ein Sprecher einer ganzen Dichtergeneration geworden. Eine der zahlreichen Forderungen Klings ist es, untergegangene Sprache wiederzubeleben. Ist das auch etwas, das für dieses Erinnern, das in die Zukunft reicht, wichtig ist?
Beyer: Ich bin da ein bißchen zurückhaltend – ich möchte ja nicht im Freilichtmuseum schreiben. Ich möchte auch keine Schatzkästlein für kostbare Wörter schnitzen. Viel eher geht es doch darum, ein Gehör zu entwickeln für verschüttete Traditionen, für das Weiterwirken von sprachlichen Phänomenen bis in die Gegenwart, in teils entstellter Form, in entlegenen Bereichen. Die Konservierungstätigkeit, das sorgsame Protokollieren insbesondere mündlicher Sprachspuren haben im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert Polizisten und Heimatforscher übernommen. Im Gedicht aber gilt es, das vorhandene Material auf seinen Gebrauch hin zu prüfen.
Für die von Tristan Marquardt und Jan Wagner herausgegebene Minnesang-Anthologie Unmögliche Liebe habe ich im vergangenen Jahr zwei Lieder des im späten Mittelalter hoch angesehenen Sängers Muskatblut ins Neuhochdeutsche übertragen. Im einen werden ausführlich Jagdszenen geschildert, eine Hirschjagd wird beschrieben – und verrückterweise halfen mir beim Übersetzen meine Wörterbücher der Jägersprache viel besser als die Vokabelangaben der Mediävisten. Die sogenannte Hohe Jagd war ein Adelsprivileg, und so hat sie sehr früh auch den Weg in schriftliche Quellen gefunden. Wenn nun heute jemand die Jägerprüfung ablegen möchte, gehört neben Waffenkunde und so weiter auch eine Sprachprüfung dazu. Einerseits handelt es sich um Traditionspflege, andererseits geht es um den lebendigen Gebrauch, um Möglichkeiten der äußersten sprachlichen Präzision. Wenn man bei der Jagdprüfung zum Beispiel nach dem weiblichen Hirsch gefragt wird und, wie man das so landläufig poetisch meint, mit „Hinde“ antwortet, bringt man sich dabei womöglich schon in Gefahr, durchzurasseln. Richtig heißt es nämlich: „Stück.“ Von hier aus kann man leicht eine Verbindung zu unserer Alltagssprache ziehen, wenn man etwa an Ausdrücke wie „mieses Snick“ oder „Mistsuick“ denkt.
Das Interesse an historischen Wörterbüchern, der große Erfolg des Deutschen Wörterbuchs der Brüder Grimm unter Schriftstellern hat damit zu tun, daß man über diese Wörtersammlungen, Glossare usw. einen Eindruck davon bekommt, wie vielschichtig die Welt eigentlich immer schon gewesen ist. Wir reden uns gerne ein, daß unsere heutige Welt so ungeheuer differenziert sei. Aber Differenziertheit gab es schon immer. Der Flößer auf dem Rhein hatte ebenso wie der Bergmann im sächsischen Silberbergbau ein sehr differenziertes Vokabular, welches seine Arbeit begleitete. Und ob die einen die anderen verstanden hätten, ist höchst fraglich. Für eine gemeinsame Sprache waren in erster Linie die Händler zuständig. Mit den Waren wandern die Wörter – ein Gedichtband von Thomas Kling heißt ja nicht umsonst fernhandel. Fernhandel ist auch das, was der Dichter betreibt: Er schleust Wörter in neue Zusammenhänge ein, in denen sie sich entweder etablieren oder als Merkmale der Fremdheit stehenbleiben können.
Helbig: Ich hatte vor einigen Jahren die Gelegenheit, den Dichter Wulf Kirsten zu interviewen, der für das sogenannte Landschaftsgedicht steht. Wenn Kirsten ein Gedicht über das Elbtal bei Meißen schreibt, kommt das Vokabular des Naturgedichts mit den Fachsprachen der in dieser Region lebenden und arbeitenden Menschen zusammen. Zu den Naturbeschreibungen treten geographische Fachbegriffe und das Fachvokabular aus Landwirtschaft, unterschiedlichsten Gewerken, Elbeschiffahrt und Arbeit am Weinberg hinzu. Kirsten ist als Student und junger Dichter übers Land geradelt, um diese Begriffe für das Wörterbuch der obersächsischen Mundarten aufbewahren zu helfen. Heute merken wir, mit welch radikaler Beschleunigung Sprache verschwindet, etwa mit der Technisierung der Landwirtschaft und dem Verschwinden traditioneller Gewerke.
Beyer: Daran sieht man, wie eng Sprache an Tun geknüpft ist. Wenn bestimmte Handgriffe nicht mehr ausgeführt werden, bestimmte Routinen nicht mehr existieren, bestimmte Arbeitsabläufe nicht mehr haptisch und optisch wahrgenommen werden, verschwindet auch das dazugehörige Vokabular. Dazu fällt mir eine Geschichte aus dem Wallis ein, aus jenem Schweizer Kanton also, in dem die Sprachgrenze zwischen dem Französischen und dem Deutschen sich im Laufe der Geschichte immer wieder verschoben hat. Bis in die zwanziger Jahre, soweit ich mich richtig erinnere, wurden dort mit großem Aufwand Flurnamen gesammelt, von der Talsohle bis in den Berg hinauf. Jedes Wiesenstück, jeder Hang, der sich für die Viehwirtschaft eignete, hatte ja seine eigene Bezeichnung. Wobei hinzukommt, daß man dort heute noch Menschen begegnet, die ihre Kindheit nomadisch verbracht haben: Den Winter verbrachte die Familie im Tal, den Sommer oben am Berg, wo das Vieh Futter fand.
Es wurden also Flurnamen gesammelt, im Rahmen eines großen Forschungsprojekts, doch zu einer Auswertung oder Systematisierung des Sprachmaterials ist es dann nicht mehr gekommen. Alle diese Kärtchen lagern seitdem im Archiv von Sion. Heute weiß man gar nicht mehr, was man damit machen soll, auch weil es kaum mehr möglich wäre, die zu diesen Namen gehörige Wirklichkeit zu rekonstruieren. Die Siedlungen sind gewachsen, Felder wurden zusammengelegt, Straßenverläufe korrigiert… ein großartiger Sprachschatz, der seinen Bezug weitgehend verloren hat.
Helbig: Aber ich will noch einmal auf Thomas Kling zurückkommen. In Graphit gibt es eine Reihe Gedichte, die einen direkten Bezug zu Thomas Kling herstellen. Etwa das Gedicht „Timide, timide“.
Vielleicht lese ich den Text zunächst einmal, ehe wir darüber sprechen:
TIMIDE, TIMIDE
Timide, timide. Wir müssen
über Burschensprucke sprechen,
über die Wilgefortis, Kumerana,
Ontcommer, Hulpe, Kümmernis.
Über Nasalstriche. Das Geldrische.
Über Bastarda. Eine Hand. Und
über Schlaf. Das bleiche Licht
vom Niederrhein, Frühsommer
fast, die Ginsterblüte, man hört
den Falken einen Falken
locken, Kaninchenhaar, sagt man,
schmeckt süß. Rasch auf die
Autobahn. So wandert sie, die Bärtige,
der Wandertheorie zufolge
den Rhein hinauf
bis in die Schweiz, nach
Südtirol, geht Zeichen machen.
Spricht. Wir sehen ihre
ungenagelten, beschuhten Füße,
Timide, timide – Thomas a Kempis
apokryph. Nein, das sind keine
Frühstücksflocken im Gesicht.
Wir wachsen nach. Wir sind
des Fieberns und Sedierens müde.
Das Gedicht öffnet für mich Welten. Natürlich lassen sich diese Gedichte – und das ist ein charakteristischer Zug des Gegenwartsgedichtes, soweit es Spracharbeit sein will – oft nur unter Zuhilfenahme von Wörterbüchern und Lexika ganz erschließen. Man muß sich diese Gedichte regelrecht erarbeiten, durch Mehrfachlesen und Recherchen. Nicht nur, weil Fach- und Regionalsprachen, Fremdsprachen und Slang hineinreichen, sondern auch, weil in diesen Gedichten oft unterschiedliche Handlungslinien parallel laufen oder sich kreuzen. Ich habe „Timide, timide“ gelesen als ein Gedicht, in dem sich die Freundschaft zweier Menschen niederschlägt, möglicherweise wird berichtet über gemeinsame Wanderungen und dabei geführte Gespräche über unterschiedlichste Themen – Sprache, christliche Mythologie etc. Im Gedicht werden Zeichen gesetzt, denen der Leser nachgehen kann.
Beyer: Mein vorheriger Gedichtband Erdkunde erschien im Frühjahr 2002. Jacqueline Merz, meine Frau, und ich verbrachten im selben Frühjahr als Fellows zwei Monate auf der Raketenstation Hombroich bei Neuss, zugleich Wohnort von Thomas Kling und Ute Langanky. Der Gedichtband Graphit enthält alle Gedichte, die seitdem entstanden sind. Die Monate dort auf der Raketenstation waren eine Zeit der konzentrierten Arbeit, aber auch des intensiven Austauschs – zwei Künstlerinnen, zwei Schriftsteller, und damit die immer präsenten Wechselwirkungen zwischen den Künsten. Einmal in der Woche haben wir gemeinsam gegessen, wir haben Ausflüge gemacht oder auch zwischendurch einfach einen Kaffee zusammen getrunken. Thomas Kling hatte ich bei einer seiner Lesungen erstmals 1986 erlebt. In diesem produktiven Alltagsleben nun, in Laufweite zueinander, habe ich ihn noch einmal ganz neu kennengelernt. Im Literaturbetrieb konnte er unnahbar wirken, auch arrogant, doch hier, im geschützten Bereich, jenseits des Scheinwerferlichts gewissermaßen, erlebte ich einen Menschen, der in erster Linie ein hervorragender Zuhörer ist und so Vertrauen aufbaut. Im Brauhaus dort in Holzheim etwa war er mit allen per „Du“, vom Braumeister bis zu den Thekenkräften. Aus den Gesprächen blieb dann natürlich auch viel regionales Sprachmaterial hängen, das er in seinen Gedichten aufgreifen konnte und das sich in keinem noch so guten Wörterbuch findet. Jetzt, 2018, zurückzudenken und zu rechnen, daß Thomas Kling von jener Zeit an nur noch drei Jahre zu leben hatte, erschreckt mich.
Gerade mit dem Wegzug aus Köln, Mitte der neunziger Jahre, ungefähr um dieselbe Zeit, als ich von Köln nach Dresden zog, war Thomas Kling in eine neue Lebensphase getreten, in der er begann, sich ganz neue Sphären zu erschließen. Mit dem Umzug auf die Raketenstation setzt die intensive Arbeit an Essays ein, in den Gedichten werden weitere, ruhigere Bogen geschlagen als bis dahin. Es war einfach nicht mehr so wichtig, jeden Abend in den Szenekreisen der Kunst- oder der Literaturwelt zu verbringen, um auf dem neuesten Stand zu bleiben, man konnte auch mal drei Wochen in den rheinischen Nieselregen gucken und seine Bücher lesen und arbeiten. Man steht nicht mehr unablässig unter Reaktionsdruck.
Insofern ist es richtig, das Gedicht „Timide, timide“ als eine gemeinsame Reise zu deuten, doch aus dieser kaum eine halbe Stunde dauernden Autofahrt nach Köln wird eine Reise im Geiste: Thomas Klings profundes Wissen zu Kirchen- und Kulturgeschichte, seine Fähigkeit, Kenntnisse äußerst lebendig zu vermitteln, und zwischendurch aber auch der Gestus des „Das-weiß-man-doch“, den Thomas Kling immer wieder in seinen Gedichten zeigt: Hier spricht der Eingeweihte zu Eingeweihten. Diese Haltung greife ich in „Timide, timide“ auf, ohne damit aber jemanden vorführen zu wollen. Daß nun in diesem Gedicht die kulturhistorische Spur einer Volksheiligen, der heiligen Kümmernis, nachgezeichnet wird, ist dabei inhaltlich viel weniger wichtig als der Gestus, mit dem das geschieht. Ich spiele hier einen Fachmann, der ich nicht bin. Ich müßte Thomas Kling fragen, um da Genaueres zu erfahren. Und das geht nicht mehr.
Helbig: Wenn man den Band durchblättert, fällt eine gewisse Geschlossenheit der Form auf. Oft findet der ungereimte viertaktige vierzeilige Trochäus Anwendung. Eine Strophenform, die Heinrich Heine im „Atta Troll“ schon genial zur Anwendung gebracht hat. Welchen Vorzug hat diese Form? Kommt sie einer gewünschten Rhythmik, Musikalität, Bissigkeit und Komik entgegen? Ein schönes Beispiel dafür ist das Gedicht „Im Wörterbuch“, in welchem der Sprachhund heraufbeschworen wird, vermutlich nochmals eine Hommage an die Brüder Grimm, vielleicht eine zweite Verkörperung des Dichters als schnüffelnder Fährtensucher im Wörterbuch, eine Verkörperung des Sprachfurors, der die Arbeit des Dichters begleitet.
Beyer: Dieser Sprachhund hat allerdings einen ganz realen Hintergrund: den Hund des Schriftstellers Peter Weber, mit dem ich mal einen Winterabend lang intensiv gespielt habe, im Appenzell, mit Blick auf den Bodensee hinunter. Wir waren bei dem Fotografen Mäddel Fuchs zu Gast, um ein Buchprojekt zu besprechen, und zwar einen Bildband, zu dem Peter und ich Beiträge schreiben wollten: Fotos von Zäunen im Schnee, wie sie die Landschaft strukturieren, konsequent in schwarz-weiß aufgenommen. Im Zuge der Industrialisierung der Landwirtschaft verschwinden diese alten Zäune nach und nach. Während des Abendessens ging ich hinaus, um eine Zigarette zu rauchen, und Luna, so der Name des Hundes, folgte mir. Katzen, Hunde – wenn sie Spielbereitschaft signalisieren, verliere ich mich sofort in dieser Sphäre und bin nur schwer wieder in die Sphäre menschlicher Kommunikation zurückzubringen.
Der Hund und ich spielten also im Schnee, und ich begann, über Zäune, über überwindliche wie unüberwindliche Grenzen nachzudenken: Das Tier und ich können in einem bestimmten Bereich zusammenfinden, wir können intensiv kommunizieren. Aber was die Sprache angeht, besteht eine unüberwindliche Grenze zwischen uns. Der Hund kann nicht in die Sphäre der Sprechenden wechseln. Dies alles spielte sich zugleich in einem Grenzbereich ab, nämlich im sprachlichen Übergangsbereich zwischen dem Hochdeutschen, dem Alemannischen und dem Schwyzerdütschen. Im Gedicht, das daraufhin zu den Zaunbildern von Mäddel Fuchs entstand, bilden die einzelnen Textteile so etwas wie Zaunpfähle – die quer verlaufenden Latten oder Drähte zwischen den Pfählen existieren allein in der Imagination des Lesers. In Form gedanklicher und motivischer Verbindungslinien, die man von einem Teil zum anderen zieht. Und so beginnen sich irgendwann die Verhältnisse zu wandeln: Am Ende scheint der Hund mich, den Menschen, zum Hund-Sein zu erziehen, während ich, der Mensch, entscheide, daß ich dem Hund Sprechen und Schreiben beibringen werde.
Offenbar empfand Peter Webers Hund unser „Gespräch“ an jenem kalten Januarabend als ebenso intensiv wie ich, denn als wir uns immerhin vier Jahre später wieder begegnet sind, forderte er mich sofort zum Spielen auf. Und es war, als hätte Luna mir beigebracht, die richtigen Dinge zu tun, die man tun muß, wenn man mit einem Hund spielt: Wohin soll ich den Stock werfen? Wie weit soll ich den Stock werfen?
Auf das Arbeiten mit vierzeiligen Strophen bin ich über Seamus Heaney gekommen. Bei der Lektüre seines Gedichtbandes North, den Richard Pietraß auch hervorragend ins Deutsche übersetzt hat, ging mir auf, wie variabel und zugleich strukturbildend sich mit dieser Form umgehen läßt. Die Dynamik, auch das Arbeiten mit Tempo und vermeintlichem Stillstand im Lesefluß, wird für den Leser nachvollziehbar, indem einmal ein Vers mit einer Zeile übereinstimmt, dann aber wieder der Vers über das Zeilenende hinausreicht. Man spürt also, genauer: das Auge vollzieht nach, wie kleine Denk- oder Wortfindungspausen ihren Platz im Gedicht finden. Bei Heaney öffnet die vorderhand schematisch wirkende Abfolge vierzeiliger Strophen das Gedicht außerdem für unterschiedlichste Momente: seinerzeit akute irische Zeitgeschichte, Mythen, archäologische Befunde und die Selbstreflexion des Schreibenden. Gerade in den mehrteiligen Gedichten in Graphit, die manchmal wie ein aufgefalteter Klappaltar mit sechs Flügeln daherkommen, hat sich das als sehr produktiv erwiesen. Der optische Eindruck suggeriert Homogenität, erst beim Lesen merkt man, daß die einzelnen Teile (Flügel) ganz unterschiedlichen Linien folgen. Ein Teil kann Reime oder versteckte Reime enthalten, ein Teil kann sich wie lapidar heruntergesprochene Nachrichten geben. In der gemeinsamen Form vierzeiliger Strophen fügt sich das aber optisch zusammen.
Helbig: Eröffnet wird der Band Graphit mit dem Gedicht „Graphit“ das sich für eine Vorlesung über das Gegenwartsgedicht gut eignen würde, weil es die vorhin angeführten Merkmale enthält. Ein sechsteiliges Gedicht, in dem sich Gegenwartsbezug (der Schneimeister am Kunstschneehang) und Geschichte (Eisensteins Winterschlacht auf dem Peipussee) kreuzen. Beim ersten Lesen solch eines Gedichtes fällt auch ein Spieltrieb auf, der ebenfalls zum Gegenwartsgedicht gehört. Vielleicht ein Erbe von DADA. Kurt Schwitters sagte mal: „Wir spielen, bis uns der Tod abholt.“ In diesen Gedichten (Flügelaltaren) werden verschiedenste Themen, Kontexte und Fachsprachen kunstvoll miteinander verknüpft. „schrift ist durch einen schneesturm waten“ heißt es an einer Stelle, wo das Bild des Schnees mit dem weißen Blatt, das vor dem Dichter liegt, in eins kommt.
Beyer: Diese Mehrteiligkeit gestattet es mir, unterschiedliche Szenerien zu öffnen. Die zwei Szenerien in Graphit sind über den Schnee verbunden, und zwar unter Bedingungen, unter denen es keinen Schnee gibt. Die erste Szenerie beschreibt die Skihalle im Rheinland, auf die man im Übrigen von der Raketenstation aus schaut. Der Schneimeister ist derjenige, der in der Skihalle die Obergewalt über den Kunstschneefall hat. In diese Halle kommen das ganze Ruhrgebiet und halb Holland. In dieser absurden künstlichen Welt übt man für die teuren Schweizer Pisten. Die im Gedicht genannten Kneipennamen findet man alle in der Skihalle in Neuss. Die zweite Szenerie im Gedicht geht auf die Lektüre von Wiktor Schklowskis wunderbarer Eisenstein-Biografie zurück. Schklowski erzählt, daß Eisensteins Film Alexander Newski im Hochsommer gedreht worden ist. Die Frage war: Wie baut man mitten im Sommer eine Schneelandschaft für die Winterschlacht am Peipussee? Im Gedicht erzähle ich das de facto nach. Die Schlacht der Ritter fand bei strahlendem Sonnenschein statt. Es war eine absurde Hitzeschlacht. Zu allem Unglück flog während der Filmaufnahmen ein Flugzeug über den Himmel. Das heißt, alles mußte noch einmal gedreht werden. Diese zwei künstlich erzeugten Schneeszenerien nebeneinander zu stellen, hat mich gereizt. Im Gedicht wird geschnitten, von der einen Szenerie auf die andere und wieder zurück.
Alles dies findet zugleich auf mehreren Spannungsfeldern statt: Eisensteins Film war nicht nur ein filmästhetisch herausforderndes Projekt, es war, mit dem Sieg über die „Teutonenreiter“, auch ein großes Propagandaunternehmen. Im Zuge des Hitler-Stalin-Pakts paßte dieses Bild dann nicht mehr zur zeitpolitischen Ausrichtung der Sowjetunion. Und so sehr ich Eisensteins unschuldigen Sommerschnee liebe – in diesem Hochsommer, Anfang August, wird der Dichter Ossip Mandelstam zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt und stirbt im Schneemonat Dezember in der Nähe von Wladiwostok. Indem geschnitten wird, werden Überlagerungen geschaffen. Es entsteht das von Eisenstein beschworene „dritte Bild“.
Helbig: Es finden noch mehr Schnitte statt. Eisenstein erzeugte seinen „Schnee“ 1938 mit Unmengen Naphthalin. Im Gedicht wird also auch auf den Geruch von Naphthalin als Konservierungsmittel für Totenhemden reflektiert, was einen Seitenblick auf die Stalinprozesse im Jahr 1938 ermöglicht, um „sämtlicher Toter der Revolution, Krepierte aller Länder“, zu gedenken. Man liest das „Proletarier aller Länder“ mit. Diese Seitenblicke lassen mich im Übrigen an Arno Schmidts Etym-Theorie denken, nach der wir in allem, was wir hören und sehen, auch zufällige Gleichklänge und Verschreibungen mit wahrnehmen und dieses mit Aufgenommene auch im Text mitarbeitet. Deshalb kommt zur Winterschlacht am Peipussee im Gedicht auch der Querbezug zu Guderians Panzerdivisionen, was an den Stalingrader Winter denken läßt. Der Einbruch von Zeitgeschichte ins Gedicht kam aber wohl schon mit DADA?
Beyer: Ja, was das akut Zeitgeschichtliche angeht. Ohne den Ersten Weltkrieg hätte es DADA nicht gegeben. Es waren Pazifisten, die ins neutrale Zürich geflohen sind, eine kleine Gesellschaft entschiedener Antipatrioten mit europäischem Hintergrund. Was sie im Cabaret Voltaire entwickelten, wird bis heute gern als „Unsinn“ deklariert – damit können sich Literaturwissenschaftler abgeben, die an der Geschichte des Humors interessiert sind. Ähnlich geht es Kurt Schwitters, der übrigens hier in Dresden studiert hat – das interessiert in dieser Stadt bis heute niemanden. In einem seiner grotesken Zweizeiler: „Die Frau entzückt durch ihre Beine. / Ich bin ein Mann, ich habe keine“, erkenne ich doch aber den kürzesten, besten Kommentar zum Ersten Weltkrieg, der überhaupt denkbar wäre. Aber Schwitters, mit seinem ungeheuren Sensorium für heiße Luft, bricht eben das Pathos, reagiert allergisch auf alle vaterländischen Bestrebungen in der Literatur. Doch nirgendwo sind vaterländische Bestrebungen seinerzeit so präsent wie in der Literaturwissenschaft, die vom späten Kaiserreich bis in die dreißiger Jahre vom Vaterländischen ins Völkische schlittert. Nach 1945 kann die Germanistik vor dem Hintergrund ihrer eigenen Geschichte natürlich mit einem Kurt Schwitters oder mit DADA insgesamt nur um so weniger anfangen: DADA hält ihr seit 1916 den Spiegel vor. Die Kunstwissenschaft, die nach 1945 beginnt, wieder an abgerissene Fäden der Moderne anzuknüpfen, hat den DADA-Interessierten dagegen immer sehr gut versorgt. Das erste Buch, das ich über Kurt Schwitters las, kam nicht aus der Germanistik, es kam aus der gegenwartsaufmerksamen Kunstgeschichte. Und da ist es dann schön, ist es auch eine Erleichterung, zu verfolgen, wie ein Kurt Schwitters zeitlebens nicht anders kann, als die Luft aus dem Planschbecken rauszulassen, in dem die teutonischen Hohlköpfe zusammensitzen. Als ich nach der Schule und nach meinem Zivildienst überlegte, an welcher Universität ich studieren sollte, bin ich glücklicherweise in Siegen gelandet, bei Karl Riha, der unter anderem die weit verbreitete Anthologie 113 DADA-Gedichte herausgegeben hat.
Helbig: Schwitters hatte sich ja sehr zeitig von der DADA-Attitüde der Absichtslosigkeit verabschiedet und sehr bewußt Kunst gemacht. Er schrieb nach dem Ersten Weltkrieg: „Kaputt war sowieso alles, und es galt, aus den Scherben Neues zu bauen. Das aber ist MERZ.“
Bei der Lektüre von Thomas Klings Itinerar war für mich sehr überraschend, wie Kling über Nietzsches „Was ich den Alten verdanke“ („Götzen-Dämmerung“) zu Horaz kommt und diesen als Kronzeugen für das Gegenwartsgedicht aufruft. Nietzsche zu Horaz: „Dies Mosaik von Worten, wo jedes Wort als Klang, als Ort, als Begriff, nach rechts und links und über das Ganze hin seine Kraft ausströmt, dies Minimum in Umfang und Zahl der Zeichen, dies damit erzielte Maximum in der Energie der Zeichen.“ Kling vergleicht „Dichterische Sprache“ an einer Stelle auch mit dem „Zerlegen, Ausüben des Pathologenberufs am Körper Geschichte“. Daran mußte ich insbesondere beim Lesen des Gedichts „Graphit“ denken.
Beyer: Und ich verneige mich in diesem Gedicht ja auch diskret vor Thomas Kling, vor seiner Arbeit als Entdecker, vor seinem Gespür für verschüttete Traditionslinien, indem ich die kursivierte Zeile „schrift ist durch einen schneesturm waten“ aus seinem großen Gedicht „Der Erste Weltkrieg“ zitiere. Am Ende meines Gedichts wird, nach langer, geduldiger Betrachtung der gleichförmig weißen Schneefläche in der Skihalle, irgendwo am Rand eine dunkle Spur entdeckt. Sei es, daß es sich um die Spur des Kettenfahrzeugs, der sogenannten Schneekatze handelt, sei es, daß sie nur aus einem Schattenwurf besteht: Dies ist der erste Strich auf dem weißen Papier, mit dem das Schreiben, mit dem ein Gedicht seinen Anfang nimmt.
Helbig: „Wacholder“, ebenfalls ein Gedicht mit Kling-Bezug, führt den Leser nach Sachsen, in die Oberlausitz. Ein achtteiliges Gedicht, welches unterschiedliche Szenerien öffnet. Ein Gedicht, welches das Interesse an den slawischen Sprachen und an den sorbischen Mythen reflektiert. Man könnte es als Landschaftsgedicht im Sinne Wulf Kirstens bezeichnen. Militärsprache und ornithologische Begriffe drängen in die Szenerie. Latwerge kommt vor, ein nahezu untergegangenes Wort, das für Arznei (zum Bestreichen von Wunden), aber auch für Pflaumenmus steht.
Beyer: In Norddeutschland findet man Latwerge heute noch in jedem Supermarkt: Mit Zucker so lange eingekochte Wacholderbeeren, bis sich eine zähflüssige Masse zwischen Sirup und Brotaufstrich ergibt. Sehr herb. Dieses so fremd, fast fremdsprachig klingende Wort hat mich sofort angezogen. Ausgangspunkt von „Wacholder“ war die Einladung, etwas zu einem Thomas Kling gewidmeten Dossier in der Zeitschrift Neue Rundschau beizutragen, und zwar im Herbst 2004, als sich in der literarischen Szene herumgesprochen hatte, daß Thomas Kling an Lungenkrebs erkrankt war. Unter dem Eindruck der intensiven Lektüre seiner Gedichte, insbesondere des Zyklus’ „vogelherd. microbucolica“, wollte ich in einer Parallelbewegung einen kulturhistorisch sensibilisierten Gang in die Landschaft unternehmen. Wo bei Thomas Kling klassische Vogelfangmethoden, eben das Anlegen eines Vogelherdes, im Zentrum stehen, ging es mir darum, mit dem sehr viel handlicheren Wacholder unterwegs zu sein: Was „hängt“ an diesem Wacholder – am Wort wie an der Pflanze, das sich auf dem Weg von der fernen Vergangenheit bis in die Gegenwart zu einem eingekochten, dichten, herben, schwarzen Brei zusammengeballt hat?
Seit den frühen neunziger Jahren komme ich in solchen Momenten immer wieder auf den „Deutschen Sprachatlas“ zurück, ein Mammutprojekt zur Erfassung der regionalen Sprachunterschiede im deutschen Sprachgebiet. Ein Projekt, das selbst mit Geschichte angereichert ist: Begonnen wurde die Unternehmung im deutschen Kaiserreich, nach und nach kamen weitere geschlossene Sprachgebiete hinzu, in der Zeit des Nationalsozialismus gab es Erhebungen zum Dialektmaterial im Osten, bis Mitte der fünfziger Jahre dauerten die Auswertung und die Publikation. Seit der Jahrtausendwende ist der Deutsche Sprachatlas auch online aufbereitet – hundertdreißig Jahre und fünf politische Systeme stecken in ihm.
Man kann diese faszinierenden Kartenwerke aber auch ganz klassisch in der Sächsischen Landesbibliothek in die Hand nehmen. Das sind Landkarten, auf denen eingetragen ist, welche Wort- und Ausdrucksform in der jeweiligen Gegend vorkommt und wie sich die Begriffe für Gegenstände und Tätigkeiten des alltäglichen Umgangs durch Deutschland hin wandeln. Das, was Wulf Kirsten gewissermaßen als Einmannunternehmen und relativ standorttreu durchgeführt hat, wurde von einer Riesenarmee durchgeführt: mit Fragebogen bewaffnet zogen sie in die hintersten Winkel, in denen Deutsch gesprochen wurde. Und interessanterweise gibt es für keine Pflanze, oder: für keine Beere so viele verschiedene Wörter wie für den Wacholder. Im Gedicht laufe ich also gewissermaßen mit dem Sprachatlas in der Hand über einen ehemaligen Truppenübungsplatz der Nationalen Volksarmee der DDR und kommuniziere gleichzeitig mit Thomas Kling, der auf der ehemaligen Raketenstation in Hombroich im Rheinland seinen Wohnsitz hat. Zwei Stätten des Kalten Krieges, die einander, wäre der Kalte Krieg warmgelaufen, ausgelöscht hätten. Heute hat sich in dieser zerstörten Landschaft um Bischofswerda ein neues Biotop, ein neuer Reichtum herausgebildet – gewissermaßen dank der Kampfmittel, die dort noch im Boden lagern. Ein solcher Erkundungsgang wäre etwas gewesen, das ich gerne gemeinsam mit Thomas Kling unternommen hätte. Aber im Herbst 2004 war er bereits sehr geschwächt und kaum noch in der Lage, hundert Meter zu laufen. Also wird der gemeinsame Spaziergang vor dem inneren Auge, im Gedicht gemacht. Neben dem Sprachatlas trage ich zur Orientierung ein Werk im Gepäck, mit dem auch Thomas Kling ausgiebig gearbeitet hat und das sich in der Bibliothek jedes ernstzunehmenden Schriftstellers findet: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens von Hanns Bächtold-Stäubli, und hier natürlich wiederum insbesondere der Eintrag zu „Wacholder“ im Zusammenhang mit Volksbräuchen und Zauberei.
Helbig: Neben Regionalismen ist es auch Slang, der ins Gedicht drängt.
Beyer: Wenn Slang ins Gedicht hineinfindet, dann ist das bei mir auch ein Signal an den Leser: Aha, dieses Gedicht ist ja in seiner Zeit geschrieben. Diese Zeitbezogenheit ändert sich aber rasant. In einem meiner Gedichte kommt ein PLUS-Markt vor. Filialen des Discounters PLUS gibt es aber heute in Dresden gar nicht mehr. Ich muß mich als Dichter damit abfinden, daß Wörter in meinem Gedicht historisch werden: Sprache wird fremd, schon während wir leben. Oder wenn man an das teils irrsinnige Vokabular denkt, das die DDR bereitgestellt hat: Tote Sprache – dafür muß man gar nicht bis zum Latein zurückgehen.
Helbig: Zum Gedicht „Lambadamaschine“ findet sich im Anhang ein Hinweis auf Robert Walser. Ein Flaneur-Gedicht, das paßt. Dennoch fiel es mir beim Lesen schwer, vom Inhalt des Gedichts (erwähnt werden u.a. die Erotikbar KLAX und das Kino Faunpalast in Dresden) auf Robert Walser zu schließen.
Beyer: Nein, im Gedicht gibt es keinen Bezug zu einem konkreten Text von Robert Walser. Mir ging es um diesen merkwürdigen Gestus, den ich immer wieder in Texten von Robert Walser spüre, ein Gestus aggressiver Niedlichkeit. Er installiert einen schreibenden, beobachtenden Ich-Erzähler, der sich mit großem rhetorischen Aufwand klein macht. Zugleich aber legt er eine gewisse Aggressivität an den Tag, wenn er sich Figuren zuwendet, denen er die Niedlichkeit abspricht, indem er ihre Größe als Blenderei markiert – Robert Walser vermag es wie kaum ein anderer Schriftsteller, große Figuren klein zu schreiben. Das zeigt sich zum Beispiel in der Haß-Liebe, die er Rilke entgegenbringt. Beides Dichter, die sich in einer gewissen Abhängigkeit von Damen befanden. Robert Walser im bürgerlichen, tendenziell kleinbürgerlichen Milieu, Rilke im adeligen Milieu. Der eine lebt im Dachstübchen, der andere auf Schlössern, wenngleich es gar keine großen Schlösser waren. Diese Merkwürdigkeit – eine Aggressivität, die sich mit lieblicher Stimme entwickelt – war mein gedanklicher Hintergrund des Gedichts. Eingeladen, mich für eine Anthologie mit Robert Walser auseinanderzusetzen, wollte ich vor dem Hintergrund meiner „Mikrogramme“-Lektüre eine Figur im Walser-Gestus durch das Nachwende-Dresden flanieren lassen.
Helbig: Das achte Kapitel des Bandes ist ein Zyklus, der sich mit Ezra Pound auseinandersetzt. Die Szenerie spielt im St. Elisabeths Hospital, einem Haftkrankenhaus für geistig gestörte Kriminelle in Washington D.C., in welches Pound nach dem Hochverratsprozeß eingewiesen worden war. In diesem Zyklus wird mit Pound, der ja nach wie vor – wie auch Gottfried Benn nach dem Zweiten Weltkrieg – ein Denkmal der Poesie der Moderne ist, relativ ironisch umgegangen. Kann man diesen ironischen Umgang auch als eine Distanz zu Pound, als einen Abbau des Denkmals Pound auffassen? Sind dieses Idole Pound und Benn durch ihr Verhalten in der Zeit des Nationalsozialismus so stark beschädigt, daß das Werk nur noch ironisch reflektiert werden kann?
Beyer: Gottfried Benn und Ezra Pound sind für mich zwei völlig verschiedene Figuren. Ezra Pound war ein glühender Antisemit, Benn nicht. Benn hat sich zu Beginn mit dem Nationalsozialismus eingelassen und später in der Wehrmacht sein Heil gesucht. Das Seltsame bei Benn ist, daß er immer nach der Formel gelebt hat: Wenn alle Opportunisten sind, Benn wird es nicht sein. 1933 – Machtergreifung Hitlers – ist aber der eine Moment in seinem Leben, in dem er ganz bewußt Opportunist wird. Was er da den ins Exil gedrängten Kollegen an Unflat hinterherwirft, macht den Eindruck, als wolle er mit Vorzeige-Nazis wie Hanns Johst konkurrieren. Dafür, glaube ich, hat er sich nachher geschämt. Denn es war ja offensichtlich, daß die Vorzeige-Nazi-Autoren allesamt nur Dreck geschrieben haben.
Ezra Pound liegt da anders, Pound war, bei allem, was man gegen ihn vorbringen kann, in seinem Leben niemals Opportunist, er hat konsequent auf „eigene Rechnung“ gelebt. Pound ist einer der gebildetsten Menschen des 20. Jahrhunderts. Und trotzdem steigert er sich im Laufe der dreißiger Jahre nach und nach nahezu programmatisch in einen immer fürchterlicheren Antisemitismus hinein. Und das als Amerikaner, der in Italien lebt – das sich im Faschismus nicht, wie das Deutsche Reich im Nationalsozialismus, über den Antisemitismus definiert hat. Bei Ezra Pound spielt auch der Größenwahn eine Rolle, er meinte immerhin, er könne den Zweiten Weltkrieg beenden, wenn er nur fünf Minuten Gelegenheit bekäme, mit Theodore Roosevelt zu sprechen, und er ist fest davon überzeugt, Mussolini könne nicht auf ihn als Hofdichter und Berater verzichten. Zugleich schreibt er an einem Werk – den Cantos – das einzigartig dasteht im 20. Jahrhundert. Diese Spannung ist auszuhalten, ohne das Werk von der Person zu trennen. Und was die Ironie angeht: Pathos zieht Ironie unwillkürlich an.
Helbig: Ihr Zyklus – ich nenne ihn jetzt verkürzt „Mein Blauhäher“ – widmet sich Pound voller Ironie. Der Zyklus tangiert die alte Tradition des Sonettenkranzes, obgleich es keine Sonette sind.
Beyer: Genau! Abweichung vom Sonettenkranz, das war meine Vorstellung. Sechzehn Teile statt fünfzehn, wie es sich für einen Sonettenkranz gehören würde, und jeder einzelne Teil zu je fünf vierzeiligen Strophen. So wie im Sonettenkranz das Meistersonett am Schluß steht, das alle Anfangsverse der vorangegangenen vierzehn Sonette enthält, bildet bei mir jeder Satz des ersten Teils den jeweiligen ersten Satz eines folgenden Teils. Über fünf oder sechs Jahre hinweg habe ich die Ansätze zu diesem Gedicht immer wieder vorgenommen – es war ein langer Weg von einer anfänglichen Bitterkeit, auch Ablehnung der Pound-Figur, hin zu einem Ansatz, der, entgegen der Lebenswirklichkeit Ezra Pounds in der Psychiatrie, einen mir selber ein wenig unheimlichen Galgenhumor möglich macht.
Helbig: Es ist im Gedicht kein auktorialer Blick, es bleibt sogar offen, ob der Blauhäher nicht am Ende doch nur eine Ausstülpung des dichterischen Ichs ist.
Beyer: Ja, dieser Blauhäher könnte imaginiertes Haustier, imaginierter Kumpan, imaginierter Widerpart des lyrischen Ich sein. Ich hatte gelesen, Ezra Pound habe sich mit dem Dichter E.E. Cummings für den Rest seines Lebens zerstritten, und zwar in einem Gespräch, in dem es um die Sprache der Blauhäher, der blue jays ging. Dieser absurde Streit hatte für mich etwas Slapstickhaftes. So wurde der Blauhäher zur treibenden Figur in diesem Gedicht. Auch in den Cantos taucht der Blauhäher auf, als eine Art Signalvogel. Und ich frage mich, ob nicht E.E. Cummings, wenn er in einem seiner Gedichte von einem „crazy jay blue“ spricht, ein Porträt von Pound zeichnet. Zentraler Auslöser aber war der Satz, den Pound seinen Besuchern im St. Elizabeths Hospital auf die Frage gab, warum er nicht mehr schreibe: „Bird in cage does not sing.“ So lasse ich ihn in meinem Gedicht den Tatsachen entgegen schreiben, sprechen, singen.
Ostragehege, Heft 90, 8.12.2018
Marcel Beyer & Petr Hruška in der Reihe Im Hier und Jetzt: deutsche und tschechische Lyrik im Gespräch
– Morgen wird Marcel Beyer mit dem wichtigsten Literaturpreis des Landes, dem Georg-Büchner-Preis, ausgezeichnet. Der im Zollernalbkreis geborene Autor reiht sich damit in eine illustre Gruppe von Schriftstellern ein – von Gottfried Benn über Paul Celan, Ingeborg Bachmann, Uwe Johnson bis zu Rainald Goetz. Er interessiert sich fürs tagespolitische Geschehen, mischt sich auch mit Reden und in Interviews in aktuelle Debatten ein – sein bereits sehr imposantes Werk aber zeugt von einem großen Geschichtsbewusstsein, blickt unter die Oberflächen und gräbt in tieferen Zeitschichten. –
Ulrich Rüdenauer: Herr Beyer, denken Sie ein paar Jahre zurück: Wenn ein junger Schriftsteller an den Punkt kommt, wo es nicht weiterzugehen scheint, wie wichtig ist dann Ermutigung von außen?
Marcel Beyer: Die Frage ist eher eine andere: Bleibt das Schreiben für einen selber eine Herausforderung, bleibt es für einen selber spannend, gibt es einen dunklen Horizont, auf den man sich zubewegt, der aber immer gleich dunkel bleibt, gleich verlockend? Natürlich braucht man Durchhaltevermögen. Man muss ja auch Zeiten durchstehen, in denen es keine Aufmerksamkeit gibt. Heute glaube ich, dass es gar nicht so sehr die frühen Jahre sind, in denen man ins Stocken gerät. Für viele Kollegen sind eher die mittleren Jahre, das Alter zwischen 45 und 65 problematisch.
Rüdenauer: Wie wichtig war die Lektüre bei der Entwicklung Ihres eigenen Schreibens?
Beyer: Man lernt im Austausch mit Büchern zunächst, welche Möglichkeitsräume es gibt. Man erfährt etwa, dass in einem Prosabuch nicht immer nur langer, fader Dialog über Alltagsquatsch stattfinden muss. Oder dass die gesellschaftliche Sphäre, nach deren Reflexion die Kritik ruft, auch kaltschnäuzig beiseitegelassen werden kann. Und Bücher leiten dich außerdem immer weiter an andere Bücher.
Rüdenauer: Wenn man sich intensiv mit Büchern und Autoren beschäftigt, entsteht ein Sog. Irgendwann muss man dem entkommen, eine eigene Stimme finden. Wie verläuft dieser Prozess?
Beyer: Das hängt zusammen mit dem Durchhaltevermögen beim Probieren. Ich habe 1980 begonnen zu schreiben, und ich könnte Ihnen anhand der damaligen Manuskripte immer bis aufs Buch genau sagen, was ich gerade gelesen habe. Von 1988 an hatte ich dann das Gefühl, dass nicht mehr gewissermaßen meine Lektüre mich treibt im Schreiben, sondern dass ich anfangen kann, eigene Lektüreerfahrungen selber wieder als Werkzeug einzusetzen. Ob das dann eine eigene Stimme ergibt oder was das für eine Stimme ist, spielt erst einmal gar keine Rolle. Eine Rolle spielt jedoch, dass man bei der Arbeit souverän mit den Lieblingen umgeht. Bis heute nutze ich Lieblingsautoren und Lieblingsbücher, um in eine bestimmte Schreibspur zu kommen. Wenn ich an einem Text sitze und das Gefühl habe, ach, die Satzstrukturen und Satzabfolgen sind nicht so, wie ich das will, das ist alles so matt und grau und leuchtet nicht, dann lese ich schon mal zwei Seiten Claude Simon oder Friederike Mayröcker und merke, wie sich da die Satzstrukturen ganz einfach ergeben. Das führt mich dann ins eigene Schreiben.
Rüdenauer: Wie läuft Ihre Arbeit konkret ab?
Beyer: Ich mache mir immerzu Notizen. Und ich freue mich zum Beispiel über die Einladung, einen Vortrag zu halten oder einen Essay zu schreiben, weil ich dann gewissermaßen heimlich bestimmte Konstellationen und Motive auf zehn, 20 Seiten testen kann. Oftmals entsteht so das Gefühl, dass noch nicht alles gesagt ist, dass erst langsam etwas anfängt zu gären. Insofern sind Notizen für kleinere Arbeiten immer wichtig, weil sich daraus größere Sachen entwickeln können.
Rüdenauer: Sie beschäftigen sich öfter mit zoologischen Themen. Wie kommt es zu dieser Nähe zu den Tieren, zu den Naturwissenschaften?
Beyer: Für mich findet sich das Scharnier zwischen meiner Arbeit und der Arbeit eines Naturwissenschaftlers immer dort, wo man ein Forschungsobjekt vor Augen hat. Was mich daran sehr interessiert oder vielmehr erleichtert ist, dass nicht immer dieses blöde Ich im Zentrum stehen muss. Was mir unheimlich gut gefällt im Gespräch mit Zoologen: Sie haben alle keine Schwierigkeiten damit, dass der Mensch nicht im Zentrum der Welt steht. Im Gesamtökosystem gibt es Wesen, die wahrscheinlich viel interessanter und geheimnisvoller sind als der Mensch, und diesen Geheimnissen nachzugehen, um immer wieder auf neue Geheimnisse zu stoßen, und sich Fragen zu beantworten, nur damit man wieder auf neue Fragen kommt, das reizt mich als Lebenshaltung sehr und treibt mich auch an beim Schreiben.
Rüdenauer: Besteht zuweilen die Gefahr, zu viel Wissensballast einzubauen?
Beyer: Ja, ich bin einfach so schreib- und sprachfixiert, dass ich mir das angeeignete Wissen nochmal erschreiben muss: Plötzlich fängt eine Figur an und hält einen komischen Vortrag für Laien. Es können Wochen vergehen, bis mir dann klar wird: weg damit. Es gibt ja sehr schöne Sachbücher, in denen das alles erzählt werden kann. Im literarischen Text geht es aber nicht darum, dass der Autor alles ausbreitet, was er weiß. Bei anderen Autoren fällt mir zuweilen die Tendenz auf, dass verschönerte Wikipedia-Artikel immer mehr Raum einnehmen in Romanen. Figuren und echte Menschen aber erzählen keine Wikipedia-Artikel.
Rüdenauer: Und dann wird gestrichen. Sie können Ihrem eigenen Text gegenüber also skrupellos sein?
Beyer: Ja, natürlich. Radikal und skrupellos. Das ist das Tolle: Weil ich es selber gebaut habe, darf ich es auch kaputt machen. Das ist wirklich etwas ganz Kindliches – was ich aus Lego gebaut habe, darf ich auch zerstören. Jemand anderer darf es nicht, aber ich darf das. Das macht doch Riesenspaß.
Gedichtlesungen sind in aller Regel ein „opakes Performanzereignis“.1Das gilt auch für die Gedichtlesungen von Marcel Beyer, obwohl er sich sichtlich darum bemüht, ein freundlicher, kein enigmatischer Vorleser zu sein. Die Lyrik ist bei Gedichtlesungen vor allem phonisch repräsentiert, man lauscht dem Autor (seltener: einer anderen Stimme) beim Gedichtvortrag, ohne den Gedichttext dabei mitzulesen. Es gibt sehr wohl Besucherinnen oder Besucher von Gedichtlesungen, die den Lyrikband, aus dem vorgelesen wird, dabeihaben – so wie etwa ein Konzertbesucher gelegentlich die Partitur des vorgetragenen Musikwerkes. Aber meine privatempirisch durchgeführten Erhebungen als regelmäßiger Besucher von Gedichtlesungen haben gezeigt, dass Gedichtlesungsbesucher seltener bis gar nicht während des Vortrags das Gedicht mitlesen, sondern das Buch eher mit sich führen, um darin den Autor im Anschluss signieren zu lassen. Gut sichtbar für andere liegt es dann während der Lesung zugeklappt auf dem Schoß. Auch veranstalterseitig wird kaum von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, Gedichte während des Vortrags schriftbildlich zu projizieren, um die Zuhörenden auch zu Mitlesenden zu machen und damit den kognitiven Nachvollzug des Gehörten zu unterstützen. So haben die Zuhörenden einer Gedichtlesung es zumeist mit einer anspruchsvollen Rezeptionskonstellation zu tun: Sie hören ein ihnen häufig vollständig unbekanntes Gedicht exakt einmal – d.h. als unwiederholbares Performanzereignis und ohne die Chance der instantanen Re-Lektüre, wie sie den Erstkontakt Lesender mit schriftbildlich repräsentierter Lyrik nicht selten auszeichnet. Lyrik gilt aufgrund ihrer „Überstrukturiertheit“2 als die am schwersten verständliche literarische Gattung. Viel weiß man bislang nicht darüber, was beim einmaligen Gedichtvortrag eines unbekannten Textes bei den Zuhörenden wirklich hängen bleibt, welche „sonderbare“ Form der „Verständlichkeit“3 das Performanzereignis entbirgt. Obwohl die praxeologische Lyrikforschung jüngst einen größeren Aufschwung nimmt,4 hat sie diese Frage noch nicht wirklich mit letzter Konsequenz erforschen wollen. Vielleicht ja auch, weil hier einiges auf dem Spiel steht. Es könnte sich als Illusion entpuppen, dass der Vortrag eines unbekannten Gedichtes – zumal der einer setlist von vielleicht 20 Gedichten am Stück, aus denen eine Lyriklesung heute durchschnittlich besteht – doch mehr bei den Zuhörenden hinterlässt als die vage Erinnerung an einige Gedichtüberschriften, Verspartikel oder den Eindruck eines sounds, einer Stimmung oder affektiven Tönung ähnlich wie bei der Musikrezeption.
Die vortragenden Autoren und die Veranstalter von Lyriklesungen wissen um diese Komplikation. Deshalb besteht die Praxisform der Lyriklesung eben in aller Regel aus mehr als nur dem Vortrag von Gedichten. Sie beinhaltet einführende Worte des Veranstalters, häufig eine Moderation durch eine dritte, vom Veranstalter bestellte Person, die ein Autorengespräch vor und nach der Lesung durchführt, manchmal werden auch Publikumsgespräche im Anschluss an die Lesung geführt. Misst man die zeitlichen Anteile,5 dann bestehen Lyriklesungen gar nicht überwiegend aus Lyrikvortrag, denn die diesen Vortrag gleichsam umrahmende Kommunikation erweist sich als zeitlich meistens umfänglicher als die eigentliche Lesung. Zu dieser den Gedichtvortrag umrahmenden Kommunikation gehört ganz wesentlich auch das, was die Autorinnen und Autoren zu ihren Gedichten sagen: vor der Lesung des ersten Gedichtes, gleichsam als expositorisch-auktoriale Verlautbarung; vor der Lesung eines einzelnen Gedichtes, nach der Lesung eines einzelnen Gedichtes, dann – nachdem die gesamte setlist des Programms vorgetragen wurde – im Gespräch mit Moderatoren oder Publikum über den Zusammenhang des Gehörten (nicht selten auch über ganz andere Aspekte des Werks, die allgemeinen Zeitläufte oder über Persönliches). Fragt man nach Motiven, warum Menschen zu Lyriklesungen gehen statt Lyrik lieber zu lesen (zeitsouverän und mit erwartbar höheren Verstehenschancen), dann bekommt man im Wesentlichen zwei Antworten: a) das Publikum wünscht die Gedichte zu hören im Medium der Stimme ihrer Autoren – so als ob der auktoriale Werkvortrag einen privilegierten Zugang zum Gedicht eröffnete; b) das Publikum wünscht die Autoren auch als Personen kennenzulernen, die über ihre Gedichte sprechen und somit einen weiteren privilegierten Zugang zum Gedicht eröffnen, der die Vorzüge der einsamen Gedichtlektüre ergänzt, aufwiegt oder gleich ganz substituiert.6
Wenn die Lyrikologie zuletzt in gesteigertem Maße Phänomene des Performativen in den Blick nimmt, dann scheint es geboten, die Untersuchung des Performanzereignises Lyriklesung nicht allein auf den Werkvortrag zu beschränken, sondern die gesamte Sprechszene7 zu analysieren, aus denen die Praxis der Lyriklesung besteht. Davon ist der Werkvortrag stets ein zentraler Teil, aber eben nicht alles. Ein praxeologisches Interesse an dem, was Lyrikerinnen und Lyriker gegenwärtig tun, um als solche literaturbetrieblich erkennbar zu sein (und sich zu reproduzieren), muss auch das von den Autoren im Rahmen von Lesungen öffentlich Gesagte miteinbeziehen, das ihren Werkvortrag umrahmt.8 Hier – wie schon an anderer Stelle9 – wollen wir diese auktoriale Rahmungskommunikation mit einem Begriff bezeichnen, der aus der Paratexttheorie Gérard Genettes10 entlehnt ist: performativer Epitext.
Nur kurz zur Erinnerung an diese bewährte Terminologie, hier bereits veranschaulicht am Werk von Marcel Beyer: Auktorialer Peritext wären die von Marcel Beyer zu seinem Gedichtband Graphit gegebenen Quellen- und Entstehungshinweise am Ende des Bandes, z.B.:
Endreimstimmung: Zu einer Photographie von Alexander von Reiswitz.11
Peritext deshalb, weil materiell mit dem Buchkörper, in welchem das Werk Graphit und als Teil dessen das Gedicht „Endreimstimmung“ versammelt sind, verbunden, aber typographisch deutlich markiert als nicht dem Werk unmittelbar zugehörig – so wie Vorworte, Nachworte, Widmungen. Auktorialer Epitext hingegen wären die mittlerweile mehreren Poetikvorlesungen, die Marcel Beyer gehalten hat und in denen er sich zu seinem Werk und dessen Entstehung äußert: zunächst mündlich vorgetragen, aber auf der Basis einer schriftlichen Vorlage, dann ausgearbeitet als veröffentlichter Buchtext.12 Epitext deshalb, weil nicht mit den Buchkörpern, in denen das Werk zirkuliert, materiell verbunden, sondern gleichsam werkextern eine Aussage über das Werk machend (die bei Beyer erkennbar dazu tendiert, ihrerseits Werk sein zu wollen, also nicht auf ihren Status als Epitext reduziert zu werden). Es gibt aber auch den spontan-mündlichen Epitext, bspw. wenn Marcel Beyer während der Buchmesse einer Rundfunkanstalt ein Live-Interview zu einem neu erschienenen Werk gewährt. Zum spontan-mündlichen Epitext gehört auch solcher, der hier als performativer bezeichnet wird: das bei Lesungen vor und nach dem Werkvortrag öffentlich Gesagte, das bei Gedichtlesungen einen Gutteil des Performanzereignisses ausmacht. Der performative Epitext wird mündlich vorgetragen, ob er aber immer nur spontan erfolgt, das wird noch zu sehen sein.
Im Folgenden soll anhand von drei vom Autor selbst im Rahmen von Lesungen vorgetragenen Gedichten aus Beyers Band Graphit der Zusammenhang von öffentlichem Gedichtvortrag und performativem Epitext untersucht werden. Die Arbeitshypothese, die es dabei zu untersuchen gilt, lautet vorerst: Der performative Epitext Beyers dient in erster Linie dazu, die Rezeption des Werkvortrags anzuleiten und in mancher Hinsicht zu steuern. Er hat Instruktionscharakter und offeriert den Zuhörenden eine Art Hör-Vorschrift:
Ich als der Autor des sogleich vorzutragenden bzw. des soeben vorgetragenen Gedichts biete Euch an, es auf die folgende Weise zu hören, unter diesem bestimmten Aspekt zu betrachten, vor dem Hintergrund dieses benannten Kontextes zu verstehen.13
Die empirische Tatsache, dass gegenwärtig fast keine Gedichtlesung ohne performativen Epitext auskommt, spricht dafür, dass die Lyrikerinnen und Lyriker in ihrer Praxis als Vortragende die Erfahrung gemacht haben: Erst ein situativ-adäquater performativer Epitext scheint die Zumutung für die Zuhörenden, ein unbekanntes Gedicht nur einmal zu hören, erträglich, mithin den Werkvortrag von Lyrik zuallererst kommensurabel zu machen.14
Epitext als hörpädagogische Ermunterung: „Deine Silbe Grimm“
Das erste Analysebeispiel ist dem Mitschnitt einer Lesung entnommen, die am 18.9.2014 im Literarischen Colloquium Berlin stattfand und bei der nicht nur Marcel Beyer aus seinem neuen Gedichtband Graphit vorlas, sondern auch Nadja Küchenmeister aus ihrem neuen Band Unter dem Wachholder und Jan Wagner aus Regentonnenvariationen.15 Moderiert von der Literaturkritikerin Maike Albath, hatten die drei abwechselnd gelesen und ein poetologisches Gespräch geführt. Unser Ausschnitt, in dem Marcel Beyer die Lesung seines Gedichtes „Deine Silbe Grimm“ einleitet und vornimmt, beginnt bei 1 Std. 35 min. nach Veranstaltungsbeginn, die Lesung dauert mithin für eine Lyrikveranstaltung schon außergewöhnlich lange und nähert sich langsam ihrem (wohlverdienten) Ende:16
{01:35:10} 0001 MB und noch ein kurzes
{01:35:11} 0002 zum abschluss
{01:35:12} 0003 da werden sie
{01:35:14} 0004 (1.53)
{01:35:15} 0005 ehm
{01:35:16} 0006 (0.86)
{01:35:17} 0007 sehen um welche
{01:35:18} 0008 langhaarige kerle es da geht
{01:35:20} 0009 (2.75)
{01:35:23} 0010 schlucken
{01:35:23} 0011. °hhh deine silbe grimm
{01:35:26} 0012 (2.3)
{01:35:28} 0013 °h das wörterbuch
{01:35:29} 0014 (1.1)
{01:35:30} 0015 das deinen kopf bestimmt
{01:35:31} 0016 (1.21)
{01:35:33} 0017 dein nachtmahr
{01:35:34} 0018 deine auslegware
{01:35:36} 0020 dein standgericht und deine tischvorlage
{01:35:38} 0021. (0.96)
{01:35:39} 0022 °hh ein langhaariger schwerer mann samt seinem schatten
{01:35:42} 0023. wie er im dunkeln anlauf nimmt
{01:35:44} 0024. (1.63)
{01:35:46} 0025 das wörterbuch
{01:35:47} 0026. (1.09)
{01:35:48} 0027 dein ohrenschutz
{01:35:49} 0028 °h dein dna test
{01:35:51} 0029 °h und dein zeugenprotokoll
{01:35:53} 0030. (1.15)
{01:35:54} 0031 dein schemen
{01:35:55} 0032. (0.96)
{01:35:56} 0033 deine silbe grimm
{01:35:58} 0035 das zeichen auf der wange
{01:35:59} 0036 (1.67)
{01:36:01} 0037 das wörterbuch
{01:36:02} 0038 °h dein kopf
{01:36:03} 0039 (0.38)
{01:36:03} 0040. in dem du gastarbeiter bist
{01:36:04} 0041 (1.7)
{01:36:06} 0042 °h der schmutz unter den nägeln
{01:36:08} 0043 ist dein wörterbuch
{01:36:09} 0044. (1.1)
{01:36:10} 0045 sind die gedehnten lautketten
{01:36:12} 0046. und die gestauchten
{01:36:14} 0047. (0.47)
{01:36:14} 0048 sind knathmann
{01:36:16} 0049 knauch und knauder
{01:36:17} 0050 (1.36)
{01:36:19} 0051 knickwirten auch
{01:36:20} 0052 °hh dass dir der kopf wackelt wie ein has am sattel
{01:36:23} 0053. (1.2)
{01:36:24} 0054 knicklaute sinds
{01:36:25} 0055 (1.22)
{01:36:26} 0056 sind die zwei alten
{01:36:28} 0057 die beiden tätowierten niemals verstummenden
{01:36:31} 0058 nichts außer sprache einatmenden und
{01:36:34} 0059. ja
{01:36:34} 0060 die langhaarigen
{01:36:36} 0061. die schweren
{01:36:37} 0062 (0.51)
{01:36:37} 0063 knastbrüder
{01:36:38} 0064. (0.52)
{01:36:39} 0065 °h die dich nun seit jahrzehnten vor morgengrauen
{01:36:41} 0066. (0.44)
{01:36:42} 0067. in die zange nehmen
{01:36:43} 0068. (1.6)
{01:36:44} 0069 herzlichen dank
Zum Vergleich die schriftbildliche Repräsentation des Gedichtes:
DEINE SILBE GRIMM
Das Wörterbuch. Das deinen
Kopf bestimmt. Dein
Nachtmahr, deine Auslegware,
dein Standgericht und deine
Tischvorlage. (Ein langhaariger,
schwerer Mann samt
seinem Schatten, wie er im
Dunkeln Anlauf nimmt.) Das
Wörterbuch. Dein Ohrenschutz,
dein DNA-Test und dein
Zeugenprotokoll. Dein Schemen.
Deine Silbe Grimm.
Das Zeichen auf der Wange.
(Das Wörterbuch. Dein
Kopf, in dem du Gastarbeiter
bist.) Der Schmutz unter
den Nägeln ist dein Wörterbuch.
(Sind die gedehnten Lautketten,
und die gestauchten. Sind
KNATHMANN, KNAUCH
Und KNAUDER.) KNICKWIRTEN
auch, daß dir der Kopf
wackelt wie ein Has am
Sattel. Knicklaute sinds.
Sind die zwei alten (die beiden
tätowierten, niemals
verstummenden, nichts außer
Sprache einatmenden und, ja,
die langhaarigen, die schweren)
Knastbrüder, die dich nun
seit Jahrzehnten vor Morgengrauen
in die Zange nehmen. (Gph S. 114–115)
Obgleich es reizvoll wäre, die Performanz des Beyer’schen Gedichtvortrags in seiner Differenz zu den typographisch repräsentierten Eigenheiten des publizierten Drucktextes zu untersuchen (warum z.B. die Intonationsphrasen des Vorgelesenen nicht mit den Versgrenzen, Strophengrenzen und Enjambements übereinstimmen, und wie der Vortrag die semantische Valenz der Versalien, Kursivierungen oder Klammerausdrücken, die alle den Drucktext auf ihre je spezifische Weise segmentieren, hörbar zu machen versucht oder eben gar nicht…), soll es hier vor allem um die Funktion des performativen Epitextes gehen, mit dem die Gedichtlesung eingeleitet wird. Die Vorrede ist sehr kurz, und sie beginnt mit einer Ermunterung der Zuhörer (und noch ein kurzes / zum abschluss), so wie ein Redner zum Beginn seiner peroratio dem Publikum das nahende Ende des Vortrags ankündigt oder ein guter Lehrer die letzten Aufmerksamkeitsreserven seiner SchülerInnen herauskitzelt, indem ein baldiges Stundenende und damit Erlösung vom Pensum in Aussicht gestellt wird. Überdies spricht die lange Sprechpause, die Beyers nächsten Satzbeginn unterbricht (da werden sie / (1.53) / ehm / (0.86)), dafür, dass der Vortragende sich spontan entscheidet, in Anbetracht der fortgeschrittenen Stunde und der drohenden Erschöpfung seines Publikums keine längere Gedichtvorrede mehr zuhalten (sehen um welche / langhaarigen Kerle es da geht).
Worin besteht nun die Instruktion, die Beyer den Zuhörenden mit auf den Weg gibt? Der Hinweis auf die langhaarigen erscheint zunächst ja nur rätselhaft, soll sich aber im Verlauf des Gedichtvortrags erkennbar als Wortmaterial entpuppen, das aus dem zu lesenden Text herauspräpariert wurde, um damit eine Rekurrenzstruktur zu erzeugen. Als Vorrede disponiert dieser Hinweis die Zuhörer, auf die Wiederkehr der langhaarigen Kerle im Gedichtvortrag zu achten und beeinflusst die Aufmerksamkeitsspanne: Wann wird das Syntagma des Vortrags aufklären, was mit dem merkwürdigen Hinweis der Vorrede gemeint war? Zugleich offeriert der performative Epitext bereits einen Schlüssel zum Verständnis des mindestens doppeldeutigen Gedichttitels (Deine Silbe Grimm). Textimmanent gelesen bzw. ohne Vorrede gehört, ließe der Wortlaut des Gedichttitels zunächst offen, ob mit Grimm Zorn gemeint ist oder doch ein für die Geschichte der Germanistik bedeutender Familienname. Der sequentielle Verbund von performativem Epitext und Gedichttitel orientiert die Zuhörenden, auch die nach über 90 Minuten Lyrikvortrag tendenziell Erschöpften, eindeutig in Richtung der zweiten Lesart. Mit diesem Schlüssel in der Hand – die langhaarigen Kerle sind die Brüder Grimm, es folgt ein Gedicht, das im weitesten Sinne vom Grimmschen Wörterbuch handeln wird – eröffnet sich ein Konnotationsraum, der es den Zuhörenden gestattet, das zu hörende Sprachmaterial selektiv daraufhin zu befragen, was es mit dem Grimmschen Wörterbuch zu tun haben mag, ohne – und das ist die entscheidende Differenz zur Rezeptionssituation etwa bei Prosalesungen – dem Gedichtvortrag in allen sprachlichen Einzelheiten streng sequentiell folgen zu müssen. Ein einzelner Satz performativer Epitext genügt, um die Zuhörenden -tolerant. zu machen gegenüber einem phonischen Performanzereignis, das ohne diese Höranweisung für manche der erschöpften Zuhörer vielleicht nur mehr als reine, desemantisierte Lautmusik zu rezipieren gewesen wäre. Gerahmt als Gedicht über das Grimmsche Wörterbuch, mag der Zuhörer sich einigermaßen entspannt fragen, was die Metaphern dein standgericht und deine tischvorlage für das lyrische Ich zu bedeuten haben, ohne gleich in Verzweiflung darüber zu verfallen, dass der Gedichtvortrag längst bei dein ohrenschutz dein dna-test angekommen ist. Durch den Hinweis auf die Grimms bleibt er jederzeit – man könnte sagen: gedichtprogrammatisch – orientiert. Dafür hat der kurze performative Epitext im Verbund mit dem Gedichttitel schon gesorgt.
Über welche Register an performativem Epitext der Autor des Weiteren verfügt, um das Gedicht „Deine Silbe Grimm“ einzuleiten, das zeigt die Transkription eines alternativen Mitschnitts (diesmal abgebrochen an der Stelle, wo der eigentliche Gedichtvortrag beginnt):17
{29:52} 0001 MB darauf eh oder dazu eingeladen vom
{29:55} 0002 goethe institut in russland
{29:57} 0003. (0.59)
{29:58} 0004. ehm
{29:58} 0005 (1.56)
{29:60} 0006 °hhh etwas über mein lieblingswort aus dem
{30:03} 0007. (0.7)
{30:04} 0008. ehm wörterbuch der der brüder grimm
{30:06} 0009 (0.38)
{30:07} 0010 zu schreiben
{30:07} 0011. (1.34)
{30:09} 0012 eh hab ich s hab ich sofort zugesagt aber war auch sofort verzweifelt
{30:12} 0013 °hhh denn
{30:14} 0014 ich weiß nicht prominente vielleicht oder menschen die nicht so viel mit sprache zu tun haben die haben ein lieblingswort im im grimmschen wörterbuch aber als schriftsteller
{30:21} 0015 °hh äh
{30:22} 0016. wo man mit diesem
{30:23} 0017 °hh sind das ein meter vierzig oder so arbeitet
{30:25} 0018. gibt es nicht das eine
{30:27} 0019. (0.75)
{30:27} 0020. lieblingswort
{30:28} 0021 (0.76)
{30:29} 0022 meistens wählen die leute habseligkeiten
{30:31} 0023 °h aber dafür müssen sie nicht mal eh
{30:33} 0024. °hh das grimmsche wörterbuch aufschlagen
{30:35} 0025 (1.1)
{30:36} 0026 °hh ich stieß dann aber beim blättern
{30:39} 0027 und man verliert sich ja immer eh so man will etwas nachschauen im grimmschen wörterbuch
{30:43} 0028 beginnt zu blättern und verliert sich
{30:45} 0029. ich stieß dann auf ehm
{30:47} 0030 (1.63)
{30:49} 0031. lemmata
{30:50} 0032 (1.09)
{30:51} 0033 auf aufgeführte wörter
{30:52} 0034. (0.82)
{30:53} 0035 die aber nur von einem fragezeichen
{30:55} 0036 gefolgt sind
{30:56} 0037 (0.83)
{30:57} 0038 das das gefiel mir
{30:58} 0039 rasend gut
{30:59} 0040. °hh also dieses das positivistische zeitalter und die die brüder grimm und ihre
{31:04} 0041 naschfolger wollten natürlich die gesamte °hh deutsche sprache abbilden
{31:09} 0042 und ihnen durfte kein wort entgehen
{31:11} 0043 es gibt aber nun einmal in in der eh in den druckwerken
{31:15} 0044 ehm
{31:16} 0045. wörter eh
{31:18} 0046 (0.52)
{31:18} 0047 deren bedeutung sich nicht aus dem zusammenhang erschließt.
{31:21} 0048 °hh und eh wie man das halt sonst macht
{31:25} 0049 man man sucht eine eine vergleichsstelle wo das wort noch einmal auftaucht
{31:28} 0050 °hh die aber auch an keiner anderen stelle auftauchen
{31:31} 0051. (0.77)
{31:32} 0052. °hh jetzt ist es möglich dass da autoren aus ein nie verschriftlichen verschriftlichten dialekt geschöpft haben.
{31:40} 0053 es kann sich aber auch einfach um druckfehler handeln
{31:42} 0054. (1.06)
{31:43} 0055 aber das lässt sich einfach nicht entscheiden
{31:45} 0056 (0.78)
{31:46} 0057 einige dieser wörter tauchen in dem folgenden gedicht auf
{31:49} 0058 (4.25)
{31:53} 0059 °hhh deine silbe grimm
{31:55} 0060 (2.43)
{31:57} 0061 das wörterbuch (…)
Diese Vorrede erfolgt nach etwa einer halben Stunde Lesungsdauer – dem Publikum ist also noch etwas zuzumuten – und sie dauert in sich länger (etwa 2 min) als der Gedichtvortrag selber (1.22 min). Das ist, wie schon betont, nichts Ungewöhnliches und fokussiert die Konzentration der Zuhörenden auf die wenigen Gedichte, aus denen eine Lyriklesung unterm Strich in aller Regel nur besteht. Mit welcher Art von auktorialer Selbstmitteilung wird hier die restliche Zeit gefüllt? Der performative Epitext erzählt eine Geschichte über die Entstehung des Gedichts. Textgenetische Hinweise zu den Anlässen und Entstehungskontexten ihrer Werke gehören ins Repertoire von Selbstmitteilungen, die Autoren auf Rückfrage von Interviewern oder dem Publikum mitunter preisgeben (welche sich dann, sofern sie aufgezeichnet werden, auch in den Peritext der Kommentarspalten einer künftigen Marcel-Beyer-Werkedition verwandeln könnten). Hier indes greift Beyer dieser Frage nach der Textgenese vor, um den Gedichtvortrag einzuleiten. D.h. er verspricht sich ein besseres Hörverständnis, eine geneigtere Zuhörerschaft für sein Gedicht, wenn er dem Vortrag eine Geschichte der Textentstehung vorausschickt. Die Geschichte nun offenbart den Zuhörern zunächst erstaunliches Wissen über die Bedingungen gegenwärtiger Autorschaft. Es gibt offenbar Auftragsgedichte (die Goethe-Institute übernehmen damit die Rolle wie weiland ein vormoderner Mäzen, der den Lobpreis seiner Herrschaft in Auftrag gibt), bei denen auch ein bestimmtes Thema gestellt wird. Und man sagt zu, ohne schon von der Muse geküsst zu sein.
Dieses Narrativ weckt Sympathie für den Autor, der eine Mystifizierung seines Schreibingeniums nicht nötig zu haben scheint, stattdessen den Zuhörer gespannt sein lässt, wie der Dichter die ihm gestellte creative-writing-Aufgabe bewältigt. sofort habe er zugesagt, sofort sei er aber verzweifelt gewesen, weil ein schriftsteller sich es mit dem einen lieblingswort im Grimm eben nicht so leicht machen könne wie ein beliebiger prominenter. Distinktionsbereit zeigt er sich also doch, und so wie er die Rolle des seine Kreativität mystifizierenden Dichterpriesters ausgeschlagen hat, übernimmt er jetzt willig jene des Autors als Produzenten, als leidenschaftlichen Spracharbeiter, dem das Grimmsche Wörterbuch Werkzeug und Grundnahrungsmittel ist und der sich beim Nachschlagen festliest und zu verlieren droht. Man sieht, dass in dieser Epitext-Miniatur viel mehr verborgen ist als eine Textgenese-Geschichte, es ist auch ein kleines Selbstporträt des Autors als Leser. Beides indes ist nur die Überleitung zu einem kleinen hörpädagogischen Rätsel, das Beyer seinen Zuhörern als Instruktion mit auf den Weg gibt, um ihre Neugier auf den Gedichtvortrag und ihre Aufmerksamkeit für das darin arrangierte Sprachmaterial zu stimulieren. Besonders fasziniert sei er als Grimm-Enthusiast von den Lemmata, bei denen der positivistische Ehrgeiz der Brüder an seine Grenzen gestoßen sei: die Wörter, die mit einem Fragezeichen versehen sind, für die es nicht mehr als einen Beleg gibt und deren Bedeutung unklar bleiben muss; einige dieser Wörter tauchen in dem folgenden Gedicht auf. Wieder – wie bei den langhaarigen Kerlen – privilegiert der Autor bestimmtes Wortmaterial seines Gedichtes, dass er seinen Zuhörern als Kontext offeriert, allerdings hier nicht in Form eines Vorab-Zitats und damit einer Rekurrenzstruktur, sondern als Hörrätsel: Welche der nun im Anschluss vorzulesenden Gedichtwörter möchten es sein, die im Grimmschen Wörterbuch mit einem Fragezeichen versehen sind? Dieser spielerische Anreiz disponiert die Zuhörenden nicht nur für die Toleranz gegenüber sonderbarem Sprachmaterial, auf das er gefasst sein muss, Worte, die so singulär sind, dass auch die Grimms an ihnen verzweifelten. Durch den Hinweis auf die konstitutive Unverständlichkeit bestimmter Gedichtanteile immunisiert er die Hörer vorab gegenüber der vermeintlichen Enttäuschung, mit „KNATHMANN, KNAUCH / und KNAUDER“ nicht mehr zu verbinden als launiges Stabgereime. So präpariert, kann der Hörer die partielle Unverständlichkeit des Gedichtes – eigentlich die Grunderfahrung beim einmaligen Vortrag eines ihm unbekannten Gedichts – sogar genießen. Zugleich weckt das Rätsel – wie jede gute Pädagogik – den Ehrgeiz, die Verstehensanstrengung beim Zuhören so lange aufrecht zu erhalten, bis eins der in Aussicht gestellten Fragezeichen-Wörter wirklich emergiert. So sichert der performative Epitext maximale Aufmerksamkeit für die semantische Strukturentfaltung des Gedichts bis an die Ränder seiner eigenen Verständlichkeit. (Im typographischen Dispositiv des Drucktextes scheinen es die Versalien zu sein, mit welchen Wortmaterial aus dem Gedichtsyntagma hervorgehoben wird. Sind das die Grimmschen Fragezeichen-Wörter? Lustigerweise nicht alle: „KNATHMANN“ und „KNAUCH“ ja, „KNAUDER“ nein, im Grimm ein „altmeisznisches wort“ zur Bezeichnung der Extremitäten einer Missgeburt.18
Ich muss: Performativer Epitext als Heilung der „schlechten Lektüre“
In dem nun folgenden Analysebeispiel ist der performative Epitext tatsächlich ein Epitext im Wortsinne, d.h. ein spontan-mündliches Nachwort Beyers zum Vortrag seines Gedichts „Ich muss“. Pragmatisch ist dieser Epitext Teil eines Radiogepräches, das die Moderatorin des Hessischen Rundfunks Daniella Baumeister anlässlich der Frankfurter Buchmesse am 10.10.2014 mit dem Autor über dessen soeben erschienenen Band Graphit führte. Gesprächsdramaturgisch war folgendes Arrangement getroffen worden: Als Einstieg in medias res sollte Beyer zunächst uneingeführt das Gedicht „Ich muss“ lesen. Erst danach würde die Moderation mit ihren Fragen einsetzen.
Erst das sich an den Gedichtvortrag anschließende Interview soll hier in Transkription wiedergegeben werden, das Gedicht hingegen so, wie es in Graphit schriftbildlich repräsentiert ist:
ICH MUSS
Ich muß hinunter in die Dialekte
steigen, ich bin WIE EIN
PALAST VOM VOLK
ZERSPLITTERT, ich bin
der Hund, der sich vorm PLUS
den Hals verdreht, ich bin
SENIOREN AUF DER
BEAUTYFARM, ein Rand-,
ein Nebenwort, das wird sich
zeigen, wenn ich unten
bin. Die Dialekte, da muß
ich hinein, der Wilthener,
der Landsknecht, der Nordhäuser,
der Ostpreußische Bärenfang,
man muß sie auf Hüfthöhe
präsentieren, und ich, mit
Traktoristenhänden, muß in die
Knie, von meiner eigenen
Niedlichkeit erdrückt. Ich
schrieb, ich Beuteldeutscher
schrieb ein Kilo Räusperware,
ich muß zurück,
ich schreibe
KLEINE SPRACHEN hin. (Gph S. 99, Hervorh. im Orig.)
Das sich an den Gedichtvortrag anschließende Interview liest sich dann in der Transkription wie folgt („DB“ steht für Daniella Baumeister, „MB“ für Marcel Beyer):
{04:05} 0044 DB was was sind denn ihre themen das ist jetzt also eindeutig sprache aber es geht ja nicht nur um sprache vieles verwandelt sich ja dann auch nur in anführungszeichen nur in sprache
{04:10} 0045 MB mm
{04:14} 0046 °h das ist richtig ja also also
{04:16} 0047 °hh dieses gedicht was das ich eben vorgelesen habe ist ja auch einfach eh könnte man als szenerie umreißen
{04:22} 0048 °h der dichter im supermarkt ja ich laufe durch diesen supermarkt komme am schluss an der kasse an und dann sind da diese kleinen portionsfläsch fläschchen mit spirituosen die haben schon so ganz merkwürdige namen ostpreußischer bärenfang und so weiter
{04:24} 0049 DB hmm
{04:34} 0050 MB °hh und schon bin ich °h auf auf einer sprachlichen ebene
{04:37} 0051 frag mich aber zugleich wieso heißt das denn ostpreußischer bärenfang was wollen die denn damit eigentlich
{04:42} 0052 °hh kommt das aus königsberg geht es hier °h eh öffnet sich hier eine historische dimension
{04:49} 0053 °hh ehm
{04:49} 0054 und solche solche momente wo ich eigentlich aus der sprache heraushöre oder
{04:55} 0055 mit der sprache eigentlich auf geschichtliche dimensionen auch auf landschaftliche dimensionen ehm gestoßen werde eigentlich mit der nase gedrückt
{05:03} 0056 °hh so etwas interessiert mich ungeheuer und ehm
{05:06} 0057 so greifen eigentlich in den gedichten immer wieder die sprachliche ebene ehm
{05:06} 0058. (0.81)
{05:12} 0059 °hhh momente aus der deutschen und europäischen geschichte
{05:15} 0060 °hh und natürlich immer ganz präsent eben unserer gegenwart ineinander
Man muss sich für einen Moment klarmachen, was den performativen Epitext von schriftlicher auktorialer Vor- oder Nachwortkommunikation unterscheidet, wie sie von Genette bis Wirth sehr einlässlich beschrieben worden sind: „Der Gebrauch des Buches wird in der Vorrede gegeben“,19 zitiert Genette Novalis, der das Interesse der Autoren an einer Steuerung der Lektüre ihrer Leser auf eine bündige Formel gebracht hat. Genette wiederum unterscheidet das Minimalziel vom Maximalziel des auktorialen Vorworts: Das Minimalziel ist, überhaupt „eine Lektüre“ zu bewirken, die Leser auf eine Lektüre zu verpflichten, die sich noch gar nicht von selbst versteht; das Maximalziel ist, eine „gute Lektüre des Textes zu gewährleisten“,20 d.h. wenn die Leser sich zu einer Lektüre entschlossen hätten, qua Vorwort eine Instruktion zur „guten Lektüre“, d.h. zum richtigen Verständnis im Sinne des Autors zu geben. Vom Nutzen des auktorialen Nachwortes ist Genette weniger überzeugt: Es hat die Chance vertan, die Leser zu führen und bei der Stange zu halten; und es „wird vielleicht zu spät sein, eine bereits erfolgte schlechte Lektüre in extremis zurechtzubiegen […] Hier wie auch sonst ist vorbeugen besser als heilen oder strafen“.21
In der Situation einer Gedichtlesung durch den Autor hingegen ist das Minimalziel, eine Lektüre (in diesem Fall: eine Anhörung) zu bewirken, qua Anwesenheit des Publikums, das sich im Namen des Autors und seines Werkes ereignisförmig auf Zeit vergemeinschaftet hat, bereits erreicht. Dem performativen Epitext geht es daher stets um das Maximale: eine möglichst „gute Lektüre“ zu bewirken (d.h. ein möglichst adäquates Textverstehen im Sinne des Autors, obwohl gar keine Lektüre erfolgt, sondern die Zuhörer einem phonisch repräsentierten Performanzereignis beiwohnen): mittels eines Verbunds aus wirkungsvollem Gedichtvortrag und performativem Epitext. Letzterer kann auch in Form einer Nachrede zum vorgetragenen Gedicht erfolgen, möglicherweise um zunächst einen müßig-unvoreingenommenen, unangeleiteten Rezeptionsvorgang zu ermöglichen, der erst im Anschluss durch Instruktionen zur „guten Lektüre“ in Regie genommen wird. Was aber, wenn die instantan erfolgte Zuhörerresonanz den Autor mit einer faktisch „schlechten Lektüre“ konfrontiert? Dieser Fall scheint den in unserem Analysebeispiel vorliegenden performativen Epitext zu kennzeichnen. Er dient offenbar dazu, „den nach den Reaktionen des Publikums und der Kritik sachgemäß veranschlagten Schaden“ zu „beheben“, was Genette am Beispiel der schriftlichen Kommunikation dem „nachträglichen Vorwort“ (z.B. einer Neuausgabe) zuschreibt.22 Im Rahmen der Gesprächsdynamik einer Lesungsveranstaltung kann sich der Autor spontan-mündlich um Heilung der „schlechten Lektüre“ bemühen – was wir im vorliegenden Beispiel studieren können: Denn die Ausführungen Beyers sind ersichtlich keine Antwort auf die ihm gestellte ,Frage‘ der Moderatorin, die a) gar keine wirkliche Frage enthält, b) keinen unmittelbaren Bezug zum gelesenen Gedicht zu erkennen gibt und c) sachlich inkonsistent bis unverständlich erscheint und d) als Gesprächseröffnung offensichtlich mehr als ungeeignet ist. Beyers initiales Zögern spricht dafür, dass er unter Spontaneitätszwang entscheiden muss, diese „schlechte Lektüre“ durch Einspruch oder Rückfrage namhaft zu machen. Er entscheidet sich dagegen, affirmiert sogar das Moderationsgestammel (°h das ist richtig ja also also) – hierin ganz der Auftrittsprofi, der es gewohnt ist, auf Sprachlosigkeit im Umgang mit seiner Lyrik zu replizieren, ohne dass sein Gegenüber das Gesicht verliert – um umstandslos in einen Epitext einzumünden, der den Gedichtbezug sofort wiederherstellt und wie aus dem Stehsatz abgerufen scheint – egal welche ,Frage‘ gestellt ist.
In diesem Epitext wird den Zuhörenden offeriert, sich das soeben gehörte Gedicht-Syntagma nun als szenisches Geschehen vorzustellen, das den Autor auf einer Bühne verortet und bei seiner Arbeit zeigt. Das Stück soll heißen: der dichter im supermarkt ja ich laufe durch diesen supermarkt. Der Epitext ist an dieser Stelle ein Musterbeispiel für jene „Ego-Pluralität“, die nach Foucault die „Funktion Autor“ ausmacht und die durch eine Art Wechselwirtschaft („partage“) zwischen „wirklichem Schriftsteller“ und „fiktivem Sprecher“ gekennzeichnet ist.23 Beyers Epitext-Drama eines Dichters im Supermarkt, der er selbst ist, bedient die von vielen Rezipienten landläufig gepflegte Vorstellung der Identität von Autor und lyrischer Sprechinstanz, die als Verständnisfiktion insbesondere der schwierigen „Pseudopragmatik von Gedichten“24 fungiert. Indem Beyer diese Ego-Pluralität geradezu proaktiv aufruft, wird sein Gedicht zum confessional poem, zur Bekenntnislyrik, in der das lyrische Ich von „Ich muss“ auf autobiographische Erfahrungstatsachen des Autors Marcel Beyer zurückgeführt werden soll:25 Nicht irgendein fiktiver Sprecher ist es, der einen imaginären Sprechakt vollzieht, welcher von Flachmännern an Supermarktkassen handelt, sondern wir sollen uns den Dichter Marcel Beyer selbst bei Plus vorstellen, wie er den historisch-semantischen Untiefen von Spirituosen-Markennamen nachspürt. Auch das ist eine schlüssige Gebrauchsanweisung zum Umgang mit dem gehörten Text, die vielleicht imstande ist, eine „schlechte Lektüre“ zu kurieren. Der Epitext macht bestimmtes Wortmaterial des Gedichtes nachträglich als Liste hörbar: zugehörig dem Paradigma ,Markenname von Supermarkt-Spirituose‘.26 Was dieses Paradigma auszeichnet, ist nicht zuletzt seine Funktion als Interpretament für das poetologische Verfahren des Autors, nicht nur in diesem Gedicht: Längst ist Beyer dafür bekannt und vielgerühmt, dass er wie kaum ein anderer Gegenwartsautor in zeitgenössischer Sprachverwendung geschichtliche Sedimente auszumachen vermag, die auch die uns umgebende Konsumkultur über ihr eigenes Unbewusstes aufklärt: wieso heißt das denn ostpreußischer bärenfang was wollen die denn damit eigentlich Statt die Moderatorin auf ihren törichten Frageversuch festzulegen, ruft Beyer lieber einen Epitext aus dem Repertoire auf, der „Ich muss“ erklärt, indem er den Zuhörern zugleich den Markenkern seiner Autorschaft in Erinnerung ruft.
Iterabilität und Routine: California Girls
Mit der mittlerweile stark etablierten Performativitätsforschung, die um 2000 im Umkreis der Theaterwissenschaften entstand und sich rasch in alle geistes- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen ausbreitete,27 teilt der hier vorgestellte Ansatz das Interesse für den Praxiszusammenhang, in dem der performative Epitext geäußert wird – nicht selten in einem der theatralen Aufführungssituation vergleichbaren räumlich-szenischen setting. Der Text, der zur Aufführung, zum stimmlichen Vortrag gebracht und der durch performativen Epitext gerahmt wird, ist nur ein Aspekt dieser Praxis, ein konstitutiver zwar, aber keinesfalls der zu privilegierende. Was die hier betriebene Dichterlesungsforschung aber von der mittlerweile semi-klassischen Performativitätsforschung unterscheidet – insbesondere wenn man den Akteuren längere Zeit folgt,28 wenn das Datenkorpus z.B. mehrere Auftritte eines Autors während der gleichen Lesereise umfasst – ist ein deutlich anderer Fokus auf die Performanzqualität dieses Autorhandelns. Gerade nicht die „unwiederholbare“, raumzeitlich-gebundene „Ereignishaftigkeit“ und „Präsenz“ der „Aufführung“,29 der das ganze Pathos der Fischer-Lichte’schen Performativitätsforschung gilt, rückt hier in den Mittelpunkt des Interesses, sondern vielmehr die Iterabilität, die Routinen einer Praxis des Autorhandelns, die erst erprobt wird, die sich dann bewährt, die abrufbar ist und nur mehr situationsspezifisch angepasst werden muss. Der performative Epitext der Autoren bei Lesungen wird allermeist mündlich dargeboten, spontan gibt er sich, ist er in aller Regel aber gerade nicht.30
Das soll komparativ an zwei Lesungen von Beyers Gedicht „California Girls“ veranschaulicht werden.
Zum Vergleich die schriftbildliche Repräsentation des Gedichtes:
CALIFORNIA GIRLS
Im weißen Leuchtstofflicht, mit
festen Füßen, fester Hand,
so stand er da, der
Änderungsschneider,
der unbestechliche, vielsprachige,
und spannte den Hemdärmel
auf das -brett, Sein
-eisen hielt er bereit, hielt
seinen Dampfbügelautomaten
mit verdrehtem Kabel,
mit zweitausendsechshundert Watt.
Eiserner Kunstwille
und Sachverstand. Er sah mich
an. Er sah an mir
vorbei. Er nahm mein
Blumenhemd mit einer Lust
in Angriff, als sei es das letzte
Mal. Mir rann der Memmen-,
der Kanaillenschweiß.
Du Totenreich, du blöde
Shopping Mall, wo alles Tag
Und Nacht bedunstet
wird, alles mit California
Girls beschallt, die Artischocken,
die Bananen, Büchsengemüse,
Lethe, Schweinskoteletts,
und wo der Änderungsschneider,
er läßt die Nähte aus
mit herrlicher Gewalt: kaum je
ein Wort, doch sprachgewandt,
am Weg zum
Parkdeck seine Koje hat. (Gph S. 136–37)
Wieder geht es der Transkription vor allem um den performativen Epitext, sie bricht dort ab, wo der Gedichtvortrag beginnt. Version 1, die kurze Version von Beyers Hör-Instruktion zu „California Girls“, entstammt wieder der Wiener Lesung während des Lyrikfestivals Dichterloh vom 30.6.2015:
{33:26} 0001 MB dreizehn jahre lang war ich vor dem (1.01) wunsch getrieben ein gedicht über das bügeln zu schreiben
{33:32} 0002 (1.1)
{33:33} 0003 und habe mehrere ansätze unternommen
{33:35} 0004 (3.0)
{33:38} 0005 über die jahre hinweg und das war alles nichts und
{33:40} 0006 °h in der schlussphase der arbeit an diesem am manuskript von graphit °h
{33:45} 0007 (0.46)
{33:45} 0008 ehm entstand dann endlich das bügelgedicht
{33:48} 0009 (3.76)
{33:52} 0010 california girls
{33:53} 0011 (2.67)
{33:55} 0012 im weißen leuchtstofflicht (…)
Version 2, die längere Version dieses performativen Epitextes, entstammt wiederum der Gruppenlesung im Berliner Literarischen Colloquium vom 18.9.2014 (mit der Sigle P im Transkript ist das Publikum gemeint, mit der Sigle M die Moderatorin):
{02:01:35} 0001 MB °hhh dreizehn jahre lang habe ich das bedürfnis gehabt ein gedicht über das bügeln zu schreiben
{02:01:41} 0002 P (lachen)
{02:01:42} 0003 MB und habe mehrere auch geschrieben und das war immer nicht das richtige
{02:01:45} 0004 erst in diesem frühjahr
{02:01:46} 0005 °hh ehm
{02:01:47} 0006 (1.42)
{02:01:48} 0007 entstand dann das (stocken) (0. 53)
{02:01:52} 0008 °hh ehm und es hat es (0.68) der titel ist auch ein ein beach boys zitat
{02:01:57} 0009 die beach boys sind ja eine ganz merkwürdige
{02:01:58} 0010 °hh band diese ganze
{02:02:00} 0011 °hh surfing und sunshine und soweiter ehm
{02:02:03} 0012 diese texte
{02:02:05} 0013 wurden ja geschrieben und die lieder komponiert von einem mann
{02:02:08} 0014 brian wilson der in seinem leben
{02:02:09} 0015 °hh niemals gesurft ist und der
{02:02:11} 0016 (0.7)
{02:02:12} 0017 eigentlich immer nur im zimmer sitzen wollte und der auch viele
{02:02:14} 0018 °hh ganz merkwürdige zerbrechlich melancholische stücke geschrieben hat
{02:02:20} 0019 deren text eigentlich ist
{02:02:21} 0020 ich sitze im zimmer und bin schwer damit beschäftigt nichts zu tun
{02:02:25} 0021 M (lachen)
{02:02:25} 0022 MB (1.51)
{02:02:27} 0023 °hh califonia girls
{02:02:28} 0024 (2.2)
{02:02:31} 0025 im weißen leuchtstofflicht mit festen füßen fester hand (…)
Der performative Epitext mag flüchtig und ereignishaft sein, aber man sieht sogleich, dass die Ereignishaftigkeit auch iterabel ist, dass es sich für Beyer im Laufe der Lesungen von „California Girls“ offenbar bewährt zu haben scheint, die Geschichte von dem Bügelgedicht vorab zu erzählen. Auch dies eine Textgenese-Geschichte, hier in der Version von frühem Wunsch – langem Anlauf – vielfachem Scheitern – später Erfüllung, die den Autor als jemanden charismatisiert, der sich über die Impulse seiner Kreativität Rechenschaft ablegt, der jahrelang ein Sujet verfolgt, der selbstkritisch das Unfertige ausscheidet, dann aber den kairos des Gelingens erkennt und beim Schopf ergreift. Die Geschichte hat zudem den Vorzug, den Zuhörern zu schmeicheln: Diese werden adressiert als die Privilegierten, die nun bezeugen mögen, wie ein langer kreativer Prozess an sein glückliches Ende gekommen ist. Die Geschichte ist so gut, dass man sich gar nicht groß wundert, dass Beyer sie wiederverwendet. Zum Gelingen der Geschichte trägt ihre Selbstironie bei: Das jahrelang vergeblich bearbeitete, schließlich bewältigte Sujet war nicht das ultimative Herrscherlob, Großstadt-, Waldsterben-, Wiedervereinigungsgedicht, sondern ein Bügelgedicht (als Gattungsprofanierung ähnlich wirkungsvoll wie weiland etwa Henscheids „Hymne an Bum Kun Cha“).31 Die Gattungsangabe bügelgedicht ruft ja konnotativ auch den reichlich pejorativ gebrauchten Begriff des „Bügelfernsehens“ in Erinnerung: eines Programmangebots, vorzugsweise am TV-Nachmittag, das so anspruchslos, wortlastig, bilderarm ist, dass man es beim Bügeln ohne Hinsehen rezipieren können soll. Nun ist das Gedicht „California Girls“, dessen Vortrag sich unmittelbar anschließen soll, selbst ja überhaupt kein komisches, auch kein flaches – deshalb dient der performative Epitext offenbar vor allem dazu, eine bestimmte Publikumsstimmung zu erzeugen. Die Lyriklesung als Weihestunde, als Hochamt der Gattungen, das Gedicht als heiliger Text, zelebriert im Brustton eines Dichterpriesters: Das alles geht nicht mehr nach einer solchen Eröffnung. Bestimmte, vielleicht traditionell bildungsbürgerliche Erwartungen an das Bild des Autors von Lyrik werden hier vorab durchkreuzt. Damit das Gedicht selbst dann sogleich auch wieder in seiner Differenzqualität zu der launigen Einführung durch den Autor wahrnehmbar wird.
Was in der langen Version 2 dieses Epitextes jetzt noch hinzutritt, ist eine Intertextualitätsmarkierung: Der Exkurs über den melancholischen Anti-Surfer Brian Wilson erläutert vorab die Titelreferenz: California Girls als Songtitel-Zitat der Beach Boys. Das passt einerseits zur De-Emphatisierungsstrategie, die in beiden Varianten dieses performativen Epitextes verfolgt wird. Andererseits wird das Gedicht im Anschluss gar keinen expliziten Zusammenhang zur Figur Brian Wilson zu erkennen geben. Warum wird das Publikum also in eine Auslegungsspannung versetzt, die gar nicht recht abgeführt werden kann (anders als bei den Vorabhinweisen in unseren anderen Analysebeispielen, die auf Wortmaterial aus den Gedichten selber bezogen waren wie langhaarige oder ostpreußischer bärenfang)? Weil hier die Brian-Wilson-Obsession der SPEX-Generation noch einmal bekräftigt werden soll? Weil Brian Wilson das forciert Unauthentische der Popkultur verkörpert, in der nicht länger Surfer gewesen sein muss, wer den ultimativen Surfer-Song schreiben will (anders als in der Authentizitätshölle der Rockkultur)? Die Instruktion, die dieser performative Epitext unterbreitet, könnte lauten: Hört darauf, ob sich in dem Gedicht „California Girls“ noch etwas von der Melancholie jenes Stubenhockers Brian Wilson mitteilt. Er ist ein Verwandter jenes Autors, der dreizehn Jahre in seinem Zimmer saß und vergeblich ein Gedicht über das Bügeln zu schreiben versuchte. (Wilson surfte nicht, und auch in Beyers Bügelgedicht bügelt nicht der Autor.)
Schluss: Paratext und Performativität?
Der hier vorgestellte Forschungsansatz interessiert sich für Phänomene des Performativen in der Lyrik und den ihr zugedachten Praxisformen. Dazu bedient er sich eines paratexttheoretischen Begriffs. Passt das überhaupt zusammen? Zementiert der Paratextbegriff, obwohl er sich einer Zonen- oder Schwellenmetaphorik bedient, nicht genau jene Schranke zwischen Buch und Beiwerk, zwischen Werk und Nicht-Werk, die in der Praxis eines opaken Performanzereignisses aufgehoben erscheint? Zugespitzt gefragt: Ist nicht der stimmliche Vortrag eines zuvor geschriebenen Gedichtes seinerseits bereits als performativer Epitext zu betrachten? Die Frage ist interessant, über sie kann man streiten. Das Datenmaterial, das wir bislang erhoben und ausgewertet haben, spricht eher dafür, dass die Praxisform Gedichtlesung auch performativ eine sehr klare Trennung zwischen Gedichtvortrag und Rahmungskommunikation vorsieht. Deshalb scheint uns der paratexttheoretische Begriff vorerst gerechtfertigt. Jederzeit weiß man als Zuhörer einer Gedichtlesung von Marcel Beyer, wann der Epitext beendet ist und wann die Gedichtlesung beginnt. Marcel Beyer macht dazwischen immer eine deutliche Kunstpause. Und wechselt dann sehr markant in eine Vorlesestimme. Es gibt derzeit wenige Dichter, deren Vorleseton sich so stark unterscheidet von ihrem Gesprächston.
Jörg Döring, aus Christian Klein (Hrsg.): Marcel Beyer. Perspektiven auf Autor und Werk, J.B. Metzler Verlag, 2018
Marcel Beyer: „Die Sprache, die Fremde“. Poetikvortrag gehalten am 27. Oktober 2015 im Senatssaal der Universität zu Köln
Das Gedicht in seinem Jahrzehnt, Nadja Küchenmeister und Marcel Beyer stellen im Haus für Poesie am 31.3.2021 prägende Gedichte vor.
Literarische Selbstgespräche … keine Fragen stellte Astrid Nischkauer – Von und mit Marcel Beyer
Vier Fragen an Marcel Beyer: Die Sprache ist alt genug, um auf sich selber aufzupassen
Im Gespräch mit Wolfgang Popp. Marcel Beyer und Mayröckers „Zetteluniversum“
Marcel Beyer liest ein Gedicht aus Graphit und macht etwas Werbung für sein Lesungskonzert mit dem Ensemble Modern zur Eröffnung der Frankfurter Lyriktage 2015.
Schreibe einen Kommentar