Marcel Beyer: Sie nannten es Sprache

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Marcel Beyer: Sie nannten es Sprache

Beyer-Sie nannten es Sprache

FRIEDRIKE MAYRÖCKER, LOGOS UND LACRIMA

I
Eines Tages – es muß 2008 oder Anfang 2009 gewesen sein, und ich war nicht ganz anwesend in meinem Kopf – erhalte ich einen Brief von Friederike Mayröcker, der aus einem einzigen Satz, einer einzigen Frage besteht: „,wollen Sie mit mir über Tränen sprechen?‘ (Jacques Derrida)“. Unmittelbar spüre ich, aus diesem Satz wird einmal ein Buch hervorgehen müssen, zu einem Zeitpunkt, als dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif noch nicht erschienen ist, in dem ich werde lesen können, daß die Frage zum ersten Mal am 2. Dezember 2005 gestellt wird, in einem Gedicht zu Goyas Karton „Der Sonnenschirm“, um von dort in den Titel des vorletzten Gedichts des Bandes einzufließen, in jenes im März 2009 entstandene Widmungsgedicht für Heinz Schafroth, „77, oder wollen Sie mit mir über Tränen sprechen, Jacques Derrida“, zu einem Zeitpunkt auch, als Friederike Mayröcker noch am Manuskript von ich bin in der Anstalt. Fusznoten zu einem nichtgeschriebenen Werk arbeitet, dessen Auslöser, dessen Leitmotiv, dessen als Fußnote 8 in den Text hingesetztes Motto, ja, dessen Sprach-Werkzeug lautet: „,wollen Sie mit mir über Tränen sprechen?‘ (Jacques Derrida)“.
Aber womöglich, überlege ich heute, reicht dieses Buch – ein Buch, das über das Schreiben nachdenkt, indem es vorführt, wie die Träne das Papier als glasklare Tinte benetzt – weit über den Rahmen hinaus, der mit dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif und ich bin in der Anstalt gegeben ist. Womöglich berührt die von Jacques Derridas Tränenfrage freigesetzte Energie nicht nur den Zeitraum zwischen Anfang Dezember 2005 und Ende November 2009, sondern wirkt weit in die Zukunft, und, zu unserem Erstaunen, auch weit in die Vergangenheit hinein. So daß dieses große Buch unter der Überschrift „,wollen Sie mit mir über Tränen sprechen?‘ (Jacques Derrida)“ seit Jahrzehnten im Entstehen begriffen wäre, fortlaufend und ohne Unterlaß und mit zunehmender Konsequenz das Tränensprechen auf die Spitze treibend – und wir hätten dies bislang nur darum nicht erfaßt, weil es sich bei ihm, ja, um ein Buch des Kummers, ebenso allerdings um ein Buch der Verzückung handelt, oder, wie es am 8. Januar 2014 in cahier heißt: „wir suchen die Süsze in der Musik, sagst du, am Morgen die Tränen, sagst du, was für eine Wollust (cahier = das Heftchen)“.

II
Mir scheint, tatsächlich setzt das Tränengespräch spätestens bereits im Frühjahr 1986 ein, in einer Zeit, als ich eben in Friederike Mayröckers Werk zu versinken beginne, und zwar nicht mit der Frage von Jacques Derrida, sondern mit dem Schlußchoral der Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach, mit jenem von Christian Friedrich Henrici, genannt Picander, gedichteten „Wir setzen uns mit Tränen nieder“, das, mit Anführungszeichen versehen, am 13. Februar 1986 zum Titel eines Ernst Jandl gewidmeten Gedichts wird, in dem von „meine verschwommenen Trachten“ die Rede ist, also vielleicht von den Augen, den Tränen und der Schrift zugleich.
Zwei Jahre später wird Ernst Jandl antworten, indem er, ein Dekonstrukteur vor dem Herrn, wie stets mit heller Freude den Mißklang aus dem Wohlklang heraushorchend und den Wohlklang aus dem Mißklang, jenen Picander zitierenden Titel Friederike Mayröckers als irritierendes Moment in sein langes Gedicht „älterndes paar. ein oratorium“ einfügt, wo es, sanft in den Reim gleitend, heißt: „wir setzen uns mit tränen nieder; flieder- [/] duft drückend schlägt sich aufs gemüt“.
Geradezu körperlich erinnere ich mich an den inneren wie äußeren Aufruhr, den Ernst Jandls Derbheit und Trauer verfugendes „älterndes paar“ im Oktober 1988 in der gesamten literarischen Welt auslöst, ja, ich meine mich tatsächlich an eine Lesung in Wien in jenem Herbst zu erinnern, bei der Ernst Jandl „älterndes paar“ zum ersten Mal vorträgt – vor einem Publikum, das, erschüttert und stumm, dem Wechselgesang lauscht: Zwischen einer weiblichen Stimme, die immer von neuem mit „,du alter arsch‘, sagt sie, [/] ,du wirklich alter arsch‘“ einsetzt und einer, wie man zu hören meint, Erzählerstimme aus dem Off, deren zarte, zuweilen zärtliche Zweizeiler jene sich von Partie zu Partie ins Unermeßliche steigernde Suada kommentieren. Und ich erinnere mich, die Hörer und Leser zeigen sich, wie mitgenommen auch immer, seinerzeit darin einig: So hat vor Ernst Jandl – der damit seinem Grundsatz gefolgt ist, sämtliche Sprachsphären furchtlos auf ihre Tauglichkeit für das Gedicht hin zu prüfen – noch niemand über das Altern gedichtet.
Daß Ernst Jandl, eine Passion in ein Oratorium verwandelnd, mit „wir setzen uns mit tränen nieder“, nicht lediglich Johann Sebastian Bach, sondern zugleich einen Titel Friederike Mayröckers aufgreift, wird seinerzeit kaum ein Leser herausgehört haben, weil „älterndes paar“ bereits 1989 in den idyllen erscheint, Friederike Mayröckers „wir setzen uns mit Tränen nieder“ jedoch erst 1992 Aufnahme in einen ihrer Gedichtbände findet, dessen Titel – wir sehen, das Tränengespräch hat längst begonnen – wiederum auf „älterndes paar“ antwortet: das besessene Alter.
Nach Ernst Jandls Tod wird Friederike Mayröcker das Zitat retournieren, sie wird es, um einen halben Satz ergänzt, einer neuen Zuschreibung unterziehen, und zwar am 14. Februar 2003 mit ihrem „,wir setzen uns mit Tränen nieder denn unser Leben war zu kurz‘ (Ernst Jandl)“ betitelten Gedicht. Das Zitat wird also nicht etwa falsch erinnert, sondern es ist gewandert – womit das Gespräch über Tränen auch über das Verstummen des Gegenübers hinaus aufrecht erhalten wird.
Ein bislang letztes Echo des Tränen-Zitats aus der Matthäuspassion mag sich, verborgen, selbst der Erzählerin nicht gewärtig, in Paloma finden, wo es am 7. November 2006, auf eine kursivierte „Theorie der Trauer“ folgend, heißt: „Ich würde mich vielleicht besser erinnern können, an das, was Paul Celan damals gesprochen hat, 1957, als er mich in meiner Wiener Wohnung aufgesucht hat, wenn ich in seinem Buch Atemwende lesen könnte“ – ein Buch, wie der Erzählerin aufgehen würde, dessen vorletztes Gedicht sich ebenfalls aus der Matthäuspassion speist, nicht aus dem Schlußchoral, aber aus dem Choral Nr. 63, „O Haupt voll Blut und Wunden“, der sich bei Paul Celan in „Ruh aus in deinen Wunden [/] durchblubbert und umpaust“ verwandelt, so wie sich in diesem Gedicht die Träne in eine Perle verwandelt zu haben scheint, in „Das Runde, klein, das Feste: [/] aus den Blicknischen kommts [/] gerollt, nahebei, [/] in keinerlei Tuch“.

III
„mir war, als sei 1 Gegenstand von der Tischplatte gerollt“, notiert Friederike Mayröcker in cahier, sie notiert: „aus dem innersten Leib meine Tränen gerollt“, und vollständig lautet der Satz im Eintrag vom 3. April 2013, die Träne und das Schreibwerkzeug zusammenschauend, oder: die eine an des anderen Stelle setzend: „mir war, als sei 1 Gegenstand von der Tischplatte gerollt ich meine da war 1 ungewisses Geräusch 1 blauer Stift, aus dem innersten Leib meine Tränen gerollt“.
Da sind sie, da ist es, ein Buch des Kummers und zugleich ein Buch der Verzückung. Beim Lesen dieser zitierten Sätze meint man, ebenso wie beim Lesen des am selben Tag notierten Moments „es schwebt mir etwas vor, habe diesmal beim Schreiben nicht geweint weiszt du“, meint man also, man werde Zeuge eines mit leiser Stimme geführten Gesprächs zwischen Friederike Mayröcker, Roland Barthes und Stendhal, dem Fachmann für lacrime di gioia: Tränenworte werden gewechselt, die Worte bringen die Tränen, die Tränen wiederum ersticken die Stimme, welche darum keine Tränenworte mehr hervorzubringen vermag.
„lch meine ich denke so lange nach bis ich bei meiner Lektüre [Novalis etwa) auf 1 Wort stosze dasz mir die Tränen……..“, heißt es am 19. Februar 2014 in cahier. Im Tagebuch der Trauer von Roland Barthes hingegen, in dem er den Tod seiner Mutter beweint, läßt ein einfaches, alltägliches ,Voilà‘ den Autor am 5. November 1977 beim Besuch einer Konditorei verstummen, nimmt das ,Voilà‘ ihm die Sprache, da er es wie ein umgekehrtes, in sein Gegenteil verkehrtes ,ich bin da‘ aufnimmt: „,Voilà‘ – Dieses Wort der Verkäuferin treibt mir die Tränen in die Augen. Ich weine lange (in die lautlose Wohnung zurückgekehrt).“
Roland Barthes schreibt unter Tränen, schreibt ohne Stimme, doch zugleich beglaubigen die Tränen die Schrift, etwa wenn er am 27. Dezember 1977 notiert: „Heftiger Weinkrampf“, und ergänzt: „zu einer Geschichte, in der es um Butter und Butterdose geht“, ohne daß Roland Barthes, zu seinen Lebzeiten einziger Leser seiner Trauer-Karteikarten, in der Folge dazu ansetzen würde, das Rätsel um „Butter und Butterdose“ zu lüften: Die höchst merkwürdige, lediglich angedeutete Geschichte (warum sollten Butter und Butterdose einen Weinkrampf auslösen?) bleibt nicht nur verborgen, das Geheimnis bleibt nicht nur ungelüftet, die Geschichte geht vielmehr im Tränenstrom unter. Denn in derselben Bewegung, mit der die Tränen die Schrift beglaubigen, lassen sie, ganz konkret, auf dem Papier, unter den Augen des Schreibenden, die noch tintenfeuchten Worte verschwimmen, bringen sie die Schrift wieder zum Verschwinden.
Es ist, als rekurriere Roland Barthes auf eine Stendhal-Erinnerung, als nehme er sich vor, seine Tränen der Trauer mutwillig in ihr Gegenteil zu verkehren, als habe er jene Freudentränen im Sinn, jene Tränen der Rührung, Tränen der Selbsterinnerung, mit denen Stendhal beim Verfassen seiner Autobiographie kämpft. „(Ich bin vor dem Schreiben eine Viertelstunde spazieren gegangen.)“, schreibt er, in Klammern gesetzt, als habe er, weinend, den Leser warten lassen und sei ihm darum eine Erklärung schuldig. Als wisse er, daß wir bemerkt haben, wie ihm der Text zerfließt, schreibt er: „Wahrhaftig, ich muß aufhören. Die Schilderung übersteigt die Kraft des Erzählers.“ Stendhal schreibt: „Meine Hand ist des Schreibens müde. Ich verschiebe es auf morgen“, während wir dabei zuschauen, wie ihm die Sätze auslaufen. Ja, wir meinen mitlesen zu können, wie die Worte von seinen Tränen hinweg geschwemmt werden, wenn er schreibt: „Alles das sind Entdeckungen, die ich beim Schreiben mache.“
Und endlich schreibt Stendhal, unter Tränen nach uns, nach seinem Gegenüber Ausschau haltend: „Entschuldige meinen unvollkommenen Bericht, lieber Leser, oder überspringe lieber fünfzig Seiten.“ – Bevor das Manuskript seiner Autobiographie kaum eine Seite weiter abbricht mit dem berühmt gewordenen Satz: „Man verdirbt so zarte Erinnerungen, wenn man sie umständlich erzählt.“
Womit der Leser wieder zu Roland Barthes zurück geführt wird, zu dessen Eintrag vom 31. Oktober 1977 im Tagebuch der Trauer: „Ich will nicht darüber sprechen, weil ich fürchte, es wird Literatur daraus – oder weil ich nicht sicher bin, daß es keine wird –, auch wenn in der Tat Literatur in solchen Wahrheiten gründet.“
Stendhal, der, von seinen Tränen übermannt, nicht weiterschreiben kann, auf der einen Seite – auf der anderen Seite Roland Barthes, der, sich seinen Tränen ausliefernd, fürchtet, er könne der Verführung nachgeben, sich in die Literatur zu flüchten. Und als würde nun wiederum Friederike Mayröcker sowohl Roland Barthes als auch Stendhal antworten, indem sie „Literatur in solchen Wahrheiten“, und das bedeutet: auch in der Schriftlosigkeit gründen läßt, findet sich bereits in études am 23. März 2012 der Wunsch formuliert: „1 langer Weg vom AN DICH DENKEN UND AN DICH SCHREIBEN, sage ich, 1 Träne einschlieszen in einen Brief an dich“, woraufhin, ein Jahr später, in cahier zu lesen ist: „habe 1 Träne in einen Brief für dich eingeschlossen“. Was, zu Beginn des Eintrags an eben jenem von mir zitierten 3. April 2013 noch einmal bekräftigt wird mit: „Nachtschimmer lieber Freund, ½ 4 Uhr früh, Träne eingeschlossen in einen Brief an dich“.

IV
Wie aber bringt nun Friederike Mayröcker logos und lacrima in die Waage, oder, anders gefragt, wie gelingt es ihr – zu allem entschlossen und ohne Umschweife und ohne den leisesten Anflug von Sentimentalität – so meisterhaft, uns zu trösten (denn von nichts anderem ist hier schließlich die Rede)?
Wie kommt es, daß in Und ich schüttelte einen Liebling die immer wieder angerufene Tröstungsfigur, nämlich Gertrude Stein, also jene Jahrhundertautorin, die dem im Buch beweinten Ernst Jandl in den fünfziger Jahren die Tür zur Moderne aufschloß, nicht nur die Erzählerin, sondern auch uns zu trösten scheint? Wie entsteht der Eindruck, wir würden von den Gedichten in von den Umarmungen umarmt? Wie gelingt es ihr, wenn sie ihr Auge auf Hölderlin in der traurigen Gestalt des Scardanelli wirft, auch uns in den tröstenden Blick mit einzuschließen? Und warum überträgt sich die tröstende Wirkung der Musik, die in ihrem Hörspielwerk eine so große Rolle spielt, auch dann auf uns, wenn wir Friederike Mayröcker still lesen?
Ich glaube, es hat mit einem erstaunlichen Prozeß zu tun, der sich an Friederike Mayröckers großen Prosawerken seit dem Tod von Ernst Jandl ablesen läßt. So bleiben, tatsächlich erstaunlich und zugleich unmittelbar einleuchtend, in Requiem für Ernst Jandl sowohl das Weinen als auch die Tränen nahezu konsequent ausgespart – als wollte der Text uns mitteilen: im Schockzustand weint man nicht, und das Trauma kennt keine Träne. Erst in den darauffolgenden Jahren nimmt das Weinen mehr und mehr Raum auch im Geschriebenen ein, bis es in Paloma einmal sogar heißt – und wir erinnern uns hier an Stendhal: „es ist viel von Weinen die Rede, wird der Leser sich denken, und doch ist es meine einzige Zuflucht in dieser Wirrnis“, worauf die Erzählerin einige Seiten später Bodo Hell antworten läßt: „indem du über dein Weinen schreibst, entziehst du der Sache die Schwere“.
In ich bin in der Anstalt, ich sitze nur GRAUSAM da, études dann und nun cahier finden sich Tränenmomente jeweils bereits auf der ersten Seite des fortlaufenden Texts, sie stellen demnach Schlüssel dar, mit deren Hilfe die Arbeit in Gang gesetzt wird, sind mit dem Beginn des Schreibens unabdingbar verknüpft: „Bekenntnisse haben nichts mit der Wahrheit zu tun, nämlich die hingeweinten, sage ich“, so der erste Satz von ich bin in der Anstalt, und: „es gibt diese Nachtfalter welche die Tränen der Menschen trinken“, ich sitze nur GRAUSAM da, und: „aber nicht darüber weinte ich“, études, und: „während die Tränen über deine Wangen“, cahier.
Das Tränenvergießen, eigentümlich changierend zwischen Affektäußerung und Kulturtechnik – es ließe sich vermuten, Hefte müßten ganz einfach grundsätzlich mit einem Tränenstrom eröffnet werden, so wie E.M. Cioran am 26. Juni 1957 sein erstes Cahier aufschlägt und sogleich notiert: „Wollte mitten auf der Straße weinen! Ich habe den Dämon der Tränen.“
Damit aber wäre noch nichts über die tröstende Wirkung der Werke von Friederike Mayröcker gesagt. Wäre noch nichts darüber gesagt, wie sich die Tränenrede auf uns, auf die Leser überträgt – und zwar, dies ist entscheidend, ohne daß wir uns zum Selbstmitleid aufgerufen fühlen.
Woher diese Innigkeit? Warum zerfließen wir nicht, während wir den Zeilen folgen, sondern rücken nur immer näher, immer aufmerksamer an den Text heran? Warum überhaupt existiert er, warum hat, mit dem Stift über das Papier gebeugt, keine Selbstauflösung – des Texts, des schreibenden ,ich‘ – stattgefunden wie bei Stendhal oder Roland Barthes?
Lese ich Friederike Mayröckers Werke seit die kommunizierenden Gefäsze, der ersten größeren Prosaarbeit nach dem Requiem für Ernst Jandl, noch einmal mit meinem nun für das Weinen wie für die Tränen sensibilisiertem Blick, gerate ich in einen Zustand, der mich mehr sein läßt als der Zeuge eines vom Weinen schreibenden oder weinend schreibenden ,ich‘. Ja, nach und nach ist es, als löste sich die Träne, fest in der abendländischen Geschichte verwurzelt und zugleich Phänomen eines jeweils gegebenen Augenblicks, von der tränenbenetzten Heftseite, jenem materiellen Beweis der unaufkündbaren Verbindung von Auge und Hand, von Schreibendem und Schrift. Sie löst sich von der Fläche, auf der logos und lacrima sich mischen.
Möglich, das unter Tränen schreibende ,ich‘ wird sich bewußt, daß es ein über Tränen schreibendes ,ich‘ ist, möglich, das schreibende ,ich‘ zieht sich mehr und mehr in der Träne zusammen, in die Träne zurück – von Buch zu Buch gewinnt sie an Plastizität, Viskosität, Lichtwirkung, bis ich, der Leser, der Suggestion erliege, ich könnte sie, wenn ich nur wollte, von allen Seiten betrachten.
Damit aber wendet Friederike Mayröcker eine Technik an, wie wir sie von den Alten Meistern kennen, deren Stilleben auf den zweiten Blick keine Stilleben, Arrangements also unbelebter Dinge, sind. Die hohe Kunst der Alten Meister – und ihr interner Wettstreit – beim Malen von Stilleben bestand, wie wir wissen, darin, einander in der Darstellung von Oberflächen, in der Darstellung des jeweils spezifischen Reflexionsverhaltens natürlicher Materialien zu übertreffen. Wir kennen die Meister des Faltenwurfs, der Fischschuppe und des Schinkenanschnitts, die Meister der frischen genauso wie der überlagerten Miesmuschel, wir kennen die Kupfer-, die Messing-, die Glasmeister. Reine Arrangements unbelebter Dinge sind die Stilleben dieser Glasmeister darum nicht, weil sich auf ihnen bei genauer Betrachtung der Maler selbst zu erkennen gibt: Denn gerade darin zeigt sich ja seine Kunst, daß er über die Fähigkeit verfügt, die Arbeit des Lichts auf einem Pokal, einem Weinglas oder einer Karaffe so wirklichkeitsgetreu darzustellen, daß dieses Glas sämtliche auf seine Oberfläche einwirkenden Lichtstrahlen widerzuspiegeln scheint.
Zu meinem Erstaunen erkenne ich im leblosen Gegenstand den Maler, wie er den Pinsel in der Hand hält, um ein Glas zu malen, das, handelt es sich bei ihm tatsächlich um einen Meister, den Maler in seinem Atelier zeigen wird: und ich erlebe ein Moment der Verzückung. Ich bin überzeugt, mit der Träne in Friederike Mayröckers Kunst verhält es sich ganz ähnlich: Kaum hat die Träne das Auge verlassen, spiegelt sich in ihr dieses Auge selbst, und mit ihm spiegeln sich das Gesicht des Schreibenden, die den Stift haltende Hand oder die Hände auf der Tastatur, das Blatt Papier, die Schrift, der den Schreibplatz umgebende Raum und das Fenster, durch das Licht hereinfällt – kurz: das gesamte Atelier einschließlich des in die Arbeit versunkenen, weinenden, schreibenden ,ich‘.
Die Träne löst sich vom Meister – ohne sie jedoch sähen wir nicht, daß der Meister anwesend ist und, wie wir, die Träne betrachtet. Hierin liegt die tröstende, die tränentrocknende Wirkung: Wären wir doch mit tränenverschleiertem Blick nicht in der Lage, die Träne, die Präsenz selbst nämlich, wahrzunehmen, wenn wir die études, wenn wir das cahier lesen.
Ganz so, wie Roland Barthes in einem lichten Moment in seinem Tagebuch der Trauer notiert:

Alles ist da, gegenwärtig: Ich bin da.
Das Ich altert nicht.
(Ich bin so ,frisch‘ wie in der Zeit des Reispuders)

V
So frisch zu sein wie in der Zeit des Reispuders. – Heute, am 6. Dezember 2014, während ich diese Sätze schreibe, erhalte ich einen Brief von Friederike Mayröcker, und er beginnt – das ist die Wahrheit, ich schwöre es – mit der Frage: „,WOLLEN SIE MIT MIR ÜBER TRÄNEN SPRECHEN?‘“

 

 

 

Inhalt

– Piratensender Jürgen Becker

– Ein Kunstgriff, der Wilthener Goldkrone trinkt

– Übergänge zum Mannesalter, in Arbeiten Friederike Mayröckers

– Wenn ich im SCARDANELLI lese

– Friederike Mayröcker, logos und lacrima

– Oskar Pastior: Angst macht genau

– Elke Erb: Aber habe wohl nicht geweint

– Der Dichter und sein Schatten

– So much to do still, all of it praise

– AURORA

– Thomas Kling: New York State of Mind

– Sie nannten es Sprache

– Nachweise

 

Beiträge zu diesem Buch:

Jan Kuhlbrodt: Die Sprachspur – Archäologische Essayistik
signaturen-magazin.de

Astrid Nischkauer: Das Gedicht selbst ist ein Ozean
fixpoetry.com, 26.5.2016

Marie Luise Knott: Sie nennen es Sprache. Über Begegnungen
logbuch-suhrkamp.de

 

 

Marcel Beyers Antrittsvorlesung „Schrift und Schnitzer“ zur Thomas-Kling-Poetikdozentur am 6.5.2019 an der Universität Bonn. Die Laudatio hält Prof. Dr. Kerstin Stüssel.

 

Das Gedicht in seinem Jahrzehnt, Nadja Küchenmeister und Marcel Beyer stellen im Haus für Poesie am 31.3.2021 prägende Gedichte vor.

 

 

Literarische Selbstgespräche … keine Fragen stellte Astrid Nischkauer – Von und mit Marcel Beyer

Vier Fragen an Marcel Beyer: Die Sprache ist alt genug, um auf sich selber aufzupassen

Im Gespräch mit Wolfgang Popp. Marcel Beyer und Mayröckers „Zetteluniversum“

 

 

 

Das perfekte Buch. Laborgespräch mit Marcel Beyer

 

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Marcel Beyer liest ein Gedicht aus Graphit und macht etwas Werbung für sein Lesungskonzert mit dem Ensemble Modern zur Eröffnung der Frankfurter Lyriktage 2015.

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