– Zu Paul Celans Gedicht „DU LIEGST…“ aus dem Nachlassband Paul Celan: Schneepart. –
PAUL CELAN
DU LIEGST im großen Gelausche,
umbuscht, umflockt.
Geh du zur Spree, geh zur Havel,
geh zu den Fleischerhaken,
zu den roten Äppelstaken
aus Schweden –
Es kommt der Tisch mit den Gaben,
er biegt um ein Eden –
Der Mann ward zum Sieb, die Frau
mußte schwimmen, die Sau,
für sich, für keinen, für jeden –
Der Landwehrkanal wird nicht rauschen.
Nichts
aaaaaastockt.
während ich am Vormittag ins Schneegestöber vor dem Fenster schaue, stelle ich fest, daß genau vor einunddreißig Jahren Paul Celan sein letztes bekanntgewordenes Gedicht geschrieben hat. Eine Woche darauf lebte er nicht mehr. Über Tag werden sich Schneefall und Sonne abwechseln, dazu ein eigentümlicher Wind, der die fallenden Flocken immer wieder zurück in den Himmel treibt oder reißt, und dann ist der Boden zu warm, als daß der Schnee liegenbliebe.
Unter den vielen Gedichten von Paul Celan, die mir wichtig sind, ist eines, das mich begleitet, seitdem ich es, vermutlich im April 1985, zum erstenmal gelesen habe. Eine Begleitung, die mir nicht diese ganzen Jahre gegenwärtig ist, die ich aber im nachhinein auch an dem einen oder anderen eigenen Gedicht ablesen kann.
Paul Celan hat es während seines einzigen längeren Besuchs in Westberlin geschrieben, am 22. und 23. Dezember 1967. Es steht an zweiter Stelle in seinem letzten Manuskript, Schneepart, dessen Entstehungszeit bis in den Oktober 1968 reicht, ein Jahr, das seine Spuren in der Weltgeschichte und aufs deutlichste auch in den Gedichten hinterlassen hat: der Prager Frühling, die Ermordung Martin Luther Kings, die Pariser Maiunruhen, der Einmarsch sowjetischer Truppen in Prag.
Dieses titellose Gedicht heißt „DU LIEGST“ nach den ersten zwei in Großbuchstaben geschriebenen Wörtern seines ersten Verses, „DU LIEGST im großen Gelausche“.
Zunächst möchte ich die Aufmerksamkeit auf den Klang dieses Gedichts richten. Wer es beim ersten Lesen laut liest oder vorgelesen bekommt, wird sicherlich vor allem seinem Klang folgen. Das unverwandte Anstarren der Wörter lenkt häufig vom Gedicht nur ab.
Paul Celan hat in den sechziger Jahren deutlich weniger gereimte Gedichte geschrieben als früher, und es scheint, nachdem inzwischen seine Gedichte aus dem Nachlaß veröffentlicht worden sind, als sei für ihn darüber hinaus der Reim ein Kriterium gewesen, das ihn zum Ausschluß eines Gedichts aus einem Gedichtmanuskript bewogen haben könnte. Ein Reim bedeutete zu dieser Zeit immer auch einen Nachklang früherer Gedichte, Reime riefen eigene oder fremde Reime auf. Der Reim, zuerst ein Merkmal, an hand dessen sich ein Gedicht leichter in der Erinnerung behalten läßt, wird hier zu einer Möglichkeit, andere Gedichte in Erinnerung zu rufen.
Es ist gesagt worden, „DU LIEGST“ sei eine Art Sonett. Sonett: da steckt der Klang bereits im Namen der Gedichtform, doch ein Sonett ist „DU LIEGST“ ganz entschieden nicht, nicht einmal eine Art. Es mag an ein Sonett erinnern, an andere Sonette, an die Form des Sonetts grundsätzlich, ohne mit diesem Hinweis aber selbst eines zu werden: der Unterschied zwischen Hall und Widerhall. Schon in der Frage, wie viele Verse „DU LIEGST“ habe, herrscht Uneinigkeit, mancher zählt vierzehn Zeilen und damit vierzehn Verse, für mich aber sind es nur dreizehn, wobei der letzte als ein aufgetrennter dasteht – in dem Sinne, wie auch im Ausschnitt aus T.S. Eliots „Burnt Norton“ zwei aufgetrennte Verse zu finden sind.
Liegt einem Paul Celans Gedicht schriftlich vor, fallen einige Reime deutlicher auf als andere: Von den fünf Strophen reimen sich das Ende der ersten und der letzten, „umflockt“ und „stockt“ aufeinander, dazu die Enden der mittleren drei Strophen: „Schweden“, „Eden“, „jeden“. Zu diesen Endreimen kommen zwei weitere, in den Strophen zwei und vier, zuerst: „Fleischerhaken“, „Äppelstaken“, dann: „Frau“ und „Sau“. Derart endreimaufmerksam geworden, suche ich die übrigen Versenden ab: Vers eins und Vers zwölf bleiben zwischen Reim und Nichtreim in der Schwebe, auf „Gelausche“ folgt „rauschen“. Die „Havel“ steht allein, ebenso die „Gaben“ im siebten Vers, nach meiner Zählung in der Mitte des Gedichts.
„Gaben“ murmele ich vor mich hin, „Gaben“, auf der Suche nach einem Reimwort, und mit dem, was mir in den Sinn kommt, mache ich eine Entdeckung. Mit „Gaben“ horche ich Klänge ab, versuche, eine parallele Klangform auszumachen, und gerate dabei vom Deutschen ins Englische, höre auf „Gaben“ ein Wort widerhallen, das zu ihm in ein ähnlich zwischen Reim und Nichtreim schwebendes Verhältnis tritt wie „Gelausche“ zu „rauschen“: Auf „Gaben“ höre ich das englische „garden“.
Vom „garden“ aus mache ich mich auf die Suche nach einem Garten in „DU LIEGST“ und finde eine Gartenspur im zweiten Vers: „umbuscht, umflockt“. Umbuscht, Büsche, Gebüsch. Noch ahne ich nichts. Vorerst trage ich weiter Reime zusammen, Reime in „DU LIEGST“, die einem beim Hören vielleicht klarer gegenwärtig sind, als wenn man das Gedicht geschrieben vor sich sieht.
„DU“: das erste Wort, an derart hervorgehobener Stelle, daß es schon wieder versteckt scheint, daß es dauert, bis ich bemerke, wie sich weitere Wörter darauf reimen , nämlich: „du“, „zu“, „zu“.
DU LIEGST im großen Gelausche,
umbuscht, umflockt.
Geh du zur Spree, geh zur Havel,
geh zu den Fleischerhaken,
zu den roten Äppelstaken
Und nun geschieht etwas: Indem ich das viermalige Ende auf -u gefunden habe, finde ich einen weiteren Reim, mit dem auf einmal ein anderes Gedicht als Widerhall erscheint:
Geh du zur Spree, geh zur Havel,
geh zu den Fleischerhaken,
„Geh“, „Spree“, „geh“, „geh“: „Go, go, go, said the bird“: „Geh“, „geh“, „geh“: „Geh, geh, geh, sagte der Vogel“, im Garten von „Burnt Norton“.
Und damit beginnt das eine Gedicht im anderen zu erscheinen, höre ich im einen nicht bloß einen Anklang an das andere, sondern scheinen beide im jeweils anderen nachzuklingen. „Geh“ steckt auch „im großen Gelausche“: „Das Echo von Schritten in der Erinnerung“, „So klingt das Echo meiner Worte in dir“, „Im Garten leben andere Echos“. „Gehen wir?“ Wir sind schon losgegangen. „Los, sagte der Vogel, such sie, such sie“. Die anderen Echos, „um die Ecke“. „Es kommt der Tisch mit den Gaben, er biegt um ein Eden“. „Um die Ecke“, „um ein Eden“, „im Garten“.
„Umbuscht, umflockt“: „Und der Vogel rief, im Wechselgesang mit der ungehörten Musik, im Gebüsch versteckt“. Dieser Vogel, der in Paul Celans Gedicht nicht erscheint, diese Drossel – wäre sie doch, was Norbert Hummelt auf dem Weg über den Kanal aus ihr hat werden lassen: eine Amsel, und damit ein gefundenes Fressen für die Celan-, für die Antschel-Philologen-, dieser Vogel also, der in „Burnt Norton“ nichts anderes im Sinn hat, als dich und mich, die Eindringlinge, aus seinem Reich zu vertreiben, erscheint mir, dem Menschen, nun zwischen den beiden Gedichten hin und her zu rufen.
Mir ist, als lasse sich an diesem Wesen, das nie begreifen könnte, wie der Mensch in der Lage ist, Klang und Bedeutung voneinander zu trennen, mit seinen Rufen zwischen „Burnt Norton“ und „DU LIEGST“ eine grundsätzliche Reflexion über das Reimen festmachen. Ich lausche hier einer Reflexion über den Klang, nicht in Begriffen, sondern in Form von Klängen selbst.
Mit dem Gedicht „DU LIEGST“, mit dem Klang, möchte ich nun zurückfinden zu einem Aspekt, den ich bereits am Anfang genannt habe: dem Gestus.
„DU LIEGST“ war das erste Gedicht Paul Celans, dessen Entstehungszusammenhänge offengelegt wurden. Peter Szondi, mit dem sich Paul Celan während seines Berlinaufenthalts Ende 1967, Anfang 1968 mehrmals getroffen hatte, hat sie in seinem 1971 entstandenen, Fragment gebliebenen Aufsatz „Eden“ mitgeteilt.
Damit ist zugleich deutlich geworden, in welcher Form Geschichte und Politik in „DU LIEGST“ gegenwärtig sind: Zum einen mit dem Wort „Fleischerhaken“, das auf Plötzensee verweist, den Ort, an dem die sogenannten Verschwörer des 20. Juli nach ihrem fehlgeschlagenen Attentat hingerichtet wurden. Zwei dieser Verschwörer waren übrigens Freunde des Klangs – das Photo ist bekannt: Stefan George in der Strickjacke, leicht gegen links hin abgewandt, den Unterarm auf der Stuhllehne, und von der rechten Seite her, im Profil, die schwärmerisch ihm zugeneigten Köpfe der Grafen Claus und Berthold von Stauffenberg.
In den Strophen drei bis fünf dann treten, ohne namentlich genannt zu werden, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg in Erscheinung: „Eden“ hieß das Hotel, in dem die beiden ihre letzten Lebensstunden verbracht haben, hier hatte sich der Divisionsstab der Garde-Kavallerie-Schützen einquartiert. Nach der Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs hieß es von ihm, dem Mann, er sei durchlöchert wie ein Sieb, und von ihr, der Frau, die alte Sau schwimme schon. Und zwar im Landwehrkanal, der in der letzten Strophe von „DU LIEGST“ genannt wird.
Paul Celan hat dieses in Berlin entstandene Gedicht zuerst in einem Peter Huchel gewidmeten Sammelband veröffentlicht. Peter Huchel lebte isoliert in der Nähe von Potsdam – ein damals von Westberlin unendlich weit entfernter Ort. Ein Gedicht mit den Gründern des Spartakusbundes, an Peter Huchel gerichtet, der einige Jahre zuvor die Redaktion von Sinn und Form hatte abgeben müssen, einer Zeitschrift, die nach dem Zweiten Weltkrieg von einem früheren Spartakisten mitbegründet worden war: Johannes R. Becher.
Dichtung und Politik. Die Frage nach ihrem Zusammengehen, im Leben Bechers, im Leben der Stauffenbergs, im Leben Paul Celans und Peter Huchels. Die Frage nach dem Zusammentreffen von Dichtung und Politik im Gedicht.
„DU LIEGST“: ohne Frage ein politisches Gedicht. Kein politisches Gedicht, kein Sonett wie jene politischen Sonette, die Johannes R. Becher ohne Zahl verfaßt hatte. Und kein politisches Gedicht wie jene, die im Zusammenhang mit dem kommenden Jahr 1968 zu erwarten waren.
„Beim Lesen eines Gedichts erlebe ich mich als unbestimmtes oder als bestimmtes Gegenüber“, habe ich zu Anfang dieses Vortrags gesagt. „Ein Gedicht kann sich an alle richten, und trotzdem richtet sich die Stimme, die ich beim Lesen höre und im eigenen Kehlkopf forme, direkt an mich“: Genau darin besteht der Unterschied zwischen „DU LIEGST“ und anderen sogenannten politischen Gedichten, genau darum ist „DU LIEGST“ ein politisches Gedicht.
Und ruft man sich noch einmal die Reimereien eines Johannes R. Becher oder eines anderen politischen Schriftstellers oder Schriftstellerpolitikers in Erinnerung, dann hört man, wie im Gedicht Paul Celans der Klang, die Stimme und der Gestus ineinanderspielen.
„Gelausche“ und „rauschen“ stehen zwischen Reim und Nichtreim in der Schwebe. Ebenso verhält es sich mit der Folge von „LIEGST“ und „biegt“ und „Sieb“. Hier steht nun eben nicht „ich liege, ich biege, ich siebe“ – und doch verweist dieser Klang auf genau solche Gedichte, in denen sich „lauschen“ und „rauschen“, in denen sich am Ende auch „liegen“ und „biegen“ und dann nicht mehr „sieben“, sondern „siegen“ aufeinander reimen.
Anders als in Gedichten, die zum Sieg aufrufen, anders auch als häufig in der Literaturwissenschaft, erscheint in „DU LIEGST“ der Klang nicht als Diener der Bedeutung. Genausowenig ist er in eine Sphäre der Sinnfreiheit verwiesen, als ginge es, wie oft gemeint wird, um Musik. Das Beieinander von Reimen und Gerade-Eben-Nicht-Reimen verweist auf solche Aufrufe, Bekenntnisse, Hymnen oder in Verse gepackte Leitartikel, in denen der Klang zum Diener der Bedeutung gemacht wird, mit denen Gedichte in einen Dienst gestellt werden sollen. Der Gestus von „DU LIEGST“ ist gegen solche Gebilde gerichtet, das Gedicht erscheint gegen jegliche Propaganda abgegrenzt, ohne daß es zugleich damit auch das Politische den Propagandisten überließe.
Marcel Beyer, aus einem Vortrag im Literaturhaus Berlin am 20.4.2001. Abgedruckt in die horen, Heft 205, Frühjahr 2002
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