„RHETORIK DES SCHWEIGENS“
− Zur Autorpoetik Reiner Kunzes −
Eine aus spontanen Bildinspirationen stammende, oft ,surreale‘ Metaphorik und Lakonismus als Stilprinzip sind die beiden wichtigsten formalen Merkmale des Gedichts von Reiner Kunze. Sie entsprechen zweien der drei grundlegenden dichterischen Verfahren, die die Poetizität lyrischer Texte wesentlich konstituieren; es sind dies die Prinzipien der Normabweichung, der Aussparung und der Überstrukturierung. Die letztere spielt bei Kunze eine eher untergeordnete Rolle, was mit der Prosanähe seiner Verssprache zu tun hat. Alle drei Textbildungsverfahren sind komplementär aufeinander bezogen, und das gilt insbesondere auch, wie zu zeigen sein wird, für das Zusammenspiel von Metaphorik und Lakonismus bei Kunze, das jene Dialektik von Mitteilen und Verschweigen, ein Mitteilen durch Verschweigen ermöglicht, das in der sogenannten modernen Lyrik eine so zentrale Rolle spielt (ohne deshalb eine Erfindung der Moderne zu sein) – als deren Antwort auf die Sprachskepsis und die Sprachnot, die bei den Dichtern des 20. Jahrhunderts so vielfältig und so massiert hervortrat wie noch nie vorher in der Literaturgeschichte.
Die lakonische Sageweise versucht sich nach zwei Richtungen hin abzugrenzen: Einmal beugt sie einer ,schlechten‘ Poetisierung der dichterischen Rede vor, zum andern setzt sie sich ab von dem, was man das „Geschwätz“ nennen könnte, zu dem der Jargon des kommerzialisierten Kulturbetriebs ebenso gehört wie die Sprechblasen der Politiker. Ihm setzt sie ein Schweigen entgegen, dem die dichterische Rede erst abgerungen werden muß.
Um dieses Schweigens willen als Voraussetzung des Reden-Könnens hält es der Dichter mit den Taubstummen:
DIMENSION
Gern setze ich mich zum taubstummen, mit den lippen
wörter schälen
Zuhören kann fast nur noch der taube
Er will verstehen
Und nur der stumme auch weiß, was es heißt,
vergebens ums wort zu ringen
Hin und wieder ernennen wir uns durch zunicken
zu alten hasen (jeder im nacken
die meutefühlige narbe)
Gern setze ich mich zum taubstummen, mit den augen
hören, wenn ringsum sich die stimmen
überschlagen
Seine Behinderung privilegiert den Taubstummen zugleich: Der Ausschluß aus der mündlichen Kommunikation erspart ihm die Teilnahme am Geschwätz der vielen, an der Inflation der Wörter, „wenn ringsum sich die stimmen überschlagen.“ Und weil auch der Dichter sich dem ,Geschwätz‘ verweigert und um das (Wahr)sprechen ringen muß, wo er verstummen möchte, herrscht geheimes Einverständnis zwischen ihnen wie zwischen zwei alten Hasen. Die Narbe, die von dem Nackenschlag herrührt, den die „Meute“ der vielen ihnen versetzt hat, bezeugt eine ähnliche Grunderfahrung, die die beiden miteinander verbindet und mit der die Sprachschwierigkeiten in der dichterischen Rede offensichtlich eng zusammenhängen. Während sich die Stimmen der vielen, sprich: der Gesellschaft, gegenseitig überschlagen und erschlagen, üben sich die beiden im ,stummen‘ Sprechen, indem sie „mit den Lippen Wörter schälen“, auf daß wie beim Schälen einer Frucht deren (Wahrheits)kern freigelegt werde. Das Gedicht wird selbst zum Anwendungsbeispiel jenes lyrischen Sprechens, von dem es handelt. Die Parallelisierung mit der Augensprache ermöglicht ein Sagen durch Nicht-Sagen: indem ein Anderes gesagt wird. Das Gedicht ist selbst der Augentausch, jenes ,Sprechen‘ und ,Hören‘ mit den Augen, das so zum Modell literarischer Kommunikation wird: Diese vollzieht sich als Blick und Gegenblick, als ein gegenseitiges Sich-in-die-Augen-Blicken von Text und Rezipient, das mehr ist als bloße Informationsvermittlung. Deshalb hat Goethe das Auge als „das beredteste von allen Organen“ gepriesen. Während „der Mund taub“ ist und „das Ohr stumm“, „vernimmt und spricht das Auge.“
Die lakonische Sageweise findet sich in der Lyrik Reiner Kunzes nicht von Anfang an. Noch der Band Sensible Wege von 1969 enthält z.B. das relativ lange Gedicht „Die Bringer Beethovens“ (entstanden freilich schon 1962). In dem nächsten Gedichtband Zimmerlautstärke von 1972 gibt es dann nur noch das lakonische Gedicht mit bis zu maximal 22 Zeilen. Der erste Anstoß zur radikalen Zurücknahme lyrischer Gesprächigkeit dürfte in der politisch-biographischen Situation begründet gewesen sein, in der sich Kunze seit 1959 befand, der von ihm selbst so genannten „Stunde Null“ seines Lebens. Damals geriet er mehr und mehr in Opposition zum real existierenden Sozialismus in der DDR, und damit ging es für ihn zunehmend ums physische und geistige Überleben. Der Lakonismus als verhüllende Rede diente dem eigenen Schutz – und er ermöglichte das Aussprechen von Wahrheit noch dort, wo sie nicht geduldet wurde. Man hat solche Redeweise als ,Sklavensprache‘ bezeichnet. Sie ist die Sprache der Unterdrückten und Verfolgten, die sich allein mit ihrer Hilfe noch zur Wehr setzen können.
Da sich jedoch das lakonische Sprechen bei Kunze keineswegs in dieser politischen Funktion erschöpft, kann es seine zentrale Rolle in seiner Lyrik weit über den genannten situativen Kontext hinaus beibehalten. Daraus erklärt es sich auch, daß Kunze einmal von dem „Mißverständnis“ sprechen kann, „Poesie sei verschlüsselte politische Botschaft.“ Nach seinem poetologischen Credo dient die spezifische Sprache der Poesie allein dem Heraustreiben von Wahrheit um ihrer selbst willen, und das gilt auch für das Gedicht mit politischem Inhalt. Wenn dies eine bestimmte Hermetik bedingt, so ist diese nicht eigens gewollt, sie kann aber – und tut dies auch häufig – die Funktion erfüllen, die intendierte Aussage vor einem vorschnellen Verstehen zu schützen. Eine solche Hermetik steht in einem engen Zusammenhang mit dem Wissen des Autors, daß bei weitem nicht alles kommunizierbar ist, was danach drängt, gesagt zu werden, d.h., sie steht in Zusammenhang mit der Sprachskepsis Kunzes, die allerdings moderater ist als die anderer moderner Autoren. Ihr begegnet er vor allem mittels der Metapher, die Hermetik zugleich bedingt als auch auflöst, indem sie etwas anderes sagt, als sie meint, um gerade dadurch das Gemeinte zu ,sagen‘, und so Nicht-Sagbares dennoch kommunizierbar macht. Diese Dialektik von Meinen und Sagen, Sagen und Meinen, die der metaphorisch-lakonischen Rede zugrunde liegt, thematisiert Kunze indirekt in dem „Gedicht mit der frage des lehrers“:
Plötzlich, eines morgens im april, parkten
postautos längs der straße, halb
in den vorgärten, halb
auf dem asphalt
Und was will der dichter damit sagen?
Über nacht hat der goldregen
die zäune niedergeblüht
Die Zweiteilung des Gedichts mittels der naiv-plumpen, ewig gleichen Lehrerfrage nach dem Sinn der Aussage, hier spöttisch zitiert, verdeutlicht die Zweiteilung der Metapher in eine Bild- und eine Sachhälfte, auch Bildspender und Bildempfänger genannt. Danach stehen die angeblich entlang der Straße geparkten Postautos (als Bildspender) für den Goldregen, der über Nacht aufgeblüht ist (als Bildempfänger). Er ist die ,gemeinte‘ Wirklichkeit, während sich die Postautos der Bildinspiration des Sprechers verdanken. Als tertium comparationis fungiert die gelbe Farbe, die Bildspender und Bildempfänger gemeinsam haben. Das ist aber nur die halbe Wahrheit, durch die die surrealistisch anmutende Metapher noch nicht ,legitimiert‘ ist. Vielmehr ist das angeblich Gemeinte (der Goldregen) selbst ein ,bloß‘ Gesagtes, das seinerseits erst wieder auf ein – ungesagtes – Gemeintes verweist. Während der Jahre, in denen Reiner Kunze in der DDR verfolgt wurde, ist für ihn die Post, wie man seit den „21 variationen über das thema ,die Post‘“ weiß, zum Inbegriff mitmenschlicher Kommunikation geworden, jener Verbindung nach außen, die dem isolierten Autor, „eingesperrt in (sein) Land“, fast allein noch verblieben war. Die gelbe Farbe der Post konnotiert für ihn soziale Wärme, ein Stück Geborgenheit in einer kalten Umwelt, in der die Menschen mittels aller möglichen Arten von Zäunen voneinander getrennt sind. Wenn der gelbe Goldregen die Zäune „niederblüht“, so ist das ein Stück Aufhebung von Trennung, von menschlicher Entfremdung (vgl. dazu auch die positive Besetzung von ,Gold‘!). Trotz der Ironisierung der Lehrerfrage enthält das Gedicht also doch eine ,Botschaft‘, die sich allerdings nicht in der Antwort erschöpft; die auf die Lehrerfrage erfolgt: Erst das Gedicht als Ganzes, als eine Art Superzeichen, ,sagt‘, was es sagen will, ohne es zu sagen. Deshalb kann Kunze das poetologische Statement formulieren: „Das, was der Dichter sagen wollte, ist das Gedicht.“ (Das Superzeichen ,Gedicht‘ entsteht durch Zeichenbildung auf mehreren Ebenen: Das Wortzeichen „Postauto“, das als Zeichen aus einem Signifikanten (einem Bezeichnenden) und einem Signifikat (einem Bezeichneten) besteht, wird seinerseits zum Signifikanten eines neuen Zeichens, nämlich der Metapher ,Postauto = Goldregen‘, und diese Metapher ihrerseits wieder zum Signifikanten einer beiden nochmals übergeordneten Zeichenbildung, dessen Signifikat, das nicht denotiert ist, ganz von der Verstehensleistung des Rezipienten geschaffen wird. Dieser ist dazu allerdings erst dann befähigt, wenn das Motiv der Post bei ihm ähnliche Assoziationen auslöst wie beim Autor. Bei diesem sind sie wesentlich in seiner Biographie begründet. Kunze weist deshalb einmal eigens darauf hin, daß „hinter den Gedichten (…) Biographie“ steht.
Das Stilmittel der Metapher hat seine besondere Bedeutung im Lakonismus darin, daß es, indem die Metapher anderes meint, als sie sagt, Verschwiegenheit ermöglicht, wo das Reden problematisch wird, wo es z.B. nicht zum Bereden werden darf. Verschwiegenheit in diesem Sinn verlangen nicht zuletzt religiöse Inhalte bis hin zum Numinosen.
Auch diesen poetologischen Sachverhalt hat Reiner Kunze im Gedicht indirekt thematisiert:
DER HIMMEL VON JERUSALEM
Mittags, schlag zwölf, hoben die moscheen
aus steinernen Hälsen zu rufen an,
und die kirchtürme fielen ins wort
mit schwerem geläut
Die synagoge, schien’s, zog ihren schwarzen mantel
enger, das wort
nach innen genäht
Die Moscheen, die Kirchtürme und die Synagoge verkörpern drei Weltreligionen: den Islam, das Christentum und die jüdische Religion. Die letztere ist von den beiden anderen deutlich abgesetzt. Sie hüllt sich in Schweigen, das sie deren lautstarker Glaubensverkündigung kontrapunktisch entgegensetzt. Was von letzterer zu halten ist, deutet die pejorative Wortwahl an (lauthals rufen; ins Wort fallen); sie hält sich an die Alltagssprache und unterscheidet sich darin von der ,kühnen‘ Metaphorik, mit der das Schweigen der Synagoge versprachlicht wird. Auf die Metapher am Schluß des Gedichts weist Kunze selbst in einem Essay eigens hin: Sie entbehre für ihn „nicht der Dunkelheiten“, doch ohne sie „wäre sie nicht genau“. Es ist zunächst einmal eine Dunkelheit, die die Metapher enthält: Was, so ist zu fragen, hat es mit dem „nach innen genähten Wort“ auf sich? Es ist das Wort ,Jude‘ auf dem Davidstern, den jeder Jude in den letzten Jahren der Nazi-Herrschaft deutlich sichtbar außen auf Jacke, Kleid oder Mantel tragen mußte: erzwungenes Glaubensbekenntnis mit meist tödlichen Folgen. Und so enthält die Metapher noch eine weitere ,Dunkelheit‘, freilich anderer Art: Sie verweist auf den dunkelsten Abschnitt in der Geschichte des Judentums. Das „nach innen genähte“ Wort ist nichts anderes als das Verstummen im Angesicht von Auschwitz, dessen Ungeheuerlichkeit sich jeder „nach außen genähten“ Sprache entzieht. Insofern ist „das Wort“ nicht nur das Wort ,Jude‘, sondern meint Sprache schlechthin.
Angesichts von Auschwitz verbietet sich aber auch jeder Lobpreis Gottes, zu dem der Muezzin und die Kirchenglocken anheben – auch dies eine ,Dunkelheit‘, in der jede Rede zuletzt verstummen muß. Wo die Judenheit sich wieder offen zu sich selbst bekennen darf, muß sie sich, um mit dem Ungeheueren, das geschehen ist, fertig zu werden, in sich selbst zurückziehen: Zutiefst versehrte Innerlichkeit sperrt sich dagegen, öffentlich gemacht zu werden. Kunze weiß darum, daß die Versprachlichung von Erfahrung diese nie ganz einholen kann. Dies gilt insbesondere für Leiderfahrungen von der Art, für die der Name Auschwitz steht, „weil Erschütterung nicht gesagt, sondern nur erfahren werden kann“. Deshalb ist letztlich Schweigen die angemessene Haltung für Trauerarbeit. Nur scheinbar widerspricht dem das kurze Gedicht „Einladung zu einer Tasse Jasmintee“:
Treten Sie ein, legen Sie Ihre
traurigkeit ab, hier
dürfen Sie schweigen
Trauerarbeit ist nicht Auslieferung an die Trauer. Ein Du kann helfen, mit ihr fertig zu werden: im gemeinsamen Schweigen. So ist das Gedicht ein Lob des Schweigens und ein Exempel dafür – mit einem Minimum an sprachlichem Aufwand (ein Loblied auf das Schweigen wäre ein Widerspruch in sich).
„Erschütterung“ in einem umfassenden Sinn ist eine zentrale Kategorie in der Autorpoetik Reiner Kunzes. Sie ist der Erlebnishintergrund des Gedichts, weil es dafür, daß ein Gedicht entsteht, „einer poetischen Bildinspiration“ bedarf, d.h., eines dichterischen Einfalls, und ein solcher „immer auf Erschütterung zurück(geht), auf Betroffensein.“ Da diese jedoch, wie wir erfahren haben, nicht gesagt werden kann, ist sie nur indirekt erfahrbar zu machen: eben durch ein Bild, das freilich weder herbeigezwungen noch konstruiert werden kann (Kunze zitiert in diesem Zusammenhang Nietzsches Diktum von der „Unfreiwilligkeit des Bildes“). Im Bild nimmt das Nicht-Sagbare Gestalt an und wird so erfahrbar. Damit es aber Gestalt wird, d.h., damit das Zu-Erfahrende erschwiegen werden kann, bedarf es neben bzw. nach der Bildinspiration freilich auch des Kunstkalküls.
Dieser ist um so dringender erforderlich, je stärker sich das „Betroffensein“ des Autors, das „Pathos des Herzens“ (eine Formulierung von Hans-Jürgen Heise) in den Text drängt. Pathos ist nur soweit zugelassen, als es Ausdruck im Bild gefunden hat und damit nicht mehr einem falschen Zungenschlag erliegen kann. Deshalb spricht Kunze sich nachdrücklich für die „Metapher der westeuropäischen Moderne“ aus, in der, wie er sagt, „ein Kinderherz“ schlägt, sowie für die Metapher, wie sie der sog. tschechische Poetismus geprägt hat, in der „durch die Verknüpfung der entgegengesetzten Welten viel menschliche Wärme freigesetzt wird.“ Indem sie die „Wärme des Herzens“ in die Kunstgestalt überführt und in ihr aufbewahrt, bewahrt sie zugleich davor, allzu ,nackt‘ auf dem Markt zur Schau gestellt zu werden. Man wird in diesem Zusammenhang von einem metaphorischen Lakonismus sprechen dürfen, der in der lyrischen Moderne eine zentrale Rolle spielt.
In dem Band eines jeden einziges leben gibt es ein poetologisches Gedicht, das den hier angedeuteten Sachverhalt thematisiert:
VON DER INSPIRATION
Nur ein anfänger von engel
fliegt unterhalb der wolken
(noch ist er in sich selbst
nicht weit genug entfernt vom menschen)
Wenn deine stirn ein flügel streift,
ist’s einer von ihnen,
und du stehst am anfang
wie er
Als Mittler zwischen Himmel und Erde, als Boten Gottes gehören die Engel dem religiösen Kontext an. Dieser Bedeutungszusammenhang schwingt zwar bei der Allegorisierung der dichterischen Inspiration als Engel unausgesprochen mit, wird aber insofern zurückgenommen, als der Engel Kunzes mehr Mensch als Geistwesen und als solcher noch ganz dem Diesseits verhaftet ist. Damit wird zugleich die alte Vorstellung von der göttlichen Inspiriertheit der Dichter, die sie zum Mundstück Gottes macht, dementiert. Wenn auch wie vom Flügel eines Engels berührt, spricht doch nicht der Gott aus ihnen. Auch sind die Bilder, die dem Dichter zufliegen, allenfalls die Keimzellen von Gedichten: Sie stehen am Anfang des dichterischen Schaffensprozesses, den der Autor erst noch zu leisten hat, damit aus dem Bildeinfall genaue dichterische Rede wird: „Die arbeit an einem gedicht kann tage dauern (die halben nächte eingeschlossen), wochen und mit langen unterbrechungen – auch jahre.“ Es gilt, den semantischen ,Mehrwert‘, der in der „entdeckerischen Potenz“ des Bildeinfalls keimhaft angelegt ist, aus diesem herauszuarbeiten und zur Kunstfigur zu verdichten. Von dem Augenblick an, da ihn der Flügel des Engels gestreift hat, bis zum Abschluß des langwierigen Arbeitsprozesses weiß der Autor jedoch nicht, wohin er ihn führt: „Ehe das letzte wort nicht geschrieben ist, weiß der autor weder, wie es heißt, noch, ob er je bis zu ihm gelangen wird.“
Mit der Vorstellung von der Balance zwischen Inspiration und Kunstkalkül steht Reiner Kunze in der oft hervorgehobenen Poetik-Tradition der modernen Lyrik. Stärker als andere betont er jedoch die Appellfunktion, d.h. die Beziehungsebene im poetischen Text gegenüber der Ausdrucksebene. Die Feststellung in unserem Gedicht, daß der Engel noch nicht weit genug vom Menschen entfernt ist, findet darin ihre Erklärung. Kunzes Dichtung spricht vom Menschen zu Menschen; sie hat nicht den Ehrgeiz, Metaphysik zu sein. Das ist zumindest ein Grund dafür, daß das Naturgedicht in seiner Lyrik eher selten vorkommt. Eines der wenigen, die es bei ihm gibt, ist in dieser Hinsicht aufschlußreich:
IN DER PROVENCE
Der himmel ein harter blauer stein
in der fassung des mittags
Der ginster weidet in gelben herden
Der staub
schwingt sich auf zu dem herrn, der er ist
Ein steinerner (stummer!) Himmel und der Staub, zu dem alles wird (dessen Herrscher er deshalb ist), bilden die beiden durch Alliteration hervorgehobenen Pole des eher verschwiegenen als nachvollziehbar mitgeteilten Landschaftserlebnisses. Wieder ist der religiöse Bedeutungszusammenhang der eigentlich religiös konnotierten Begriffe Himmel und Herr gleichsam suspendiert. An der Härte des Steins prallt jede metaphysische Sehnsucht ab, und der allbeherrschende Staub spricht von nichts als der Vergänglichkeit alles Irdischen. Zwischen diesen beiden Polen ist das Leben eingespannt, für das der gelbe Ginster einsteht, der, bildlich gesprochen, in Herden weidet (weidende Herden konnotieren das semantische Merkmal ,Lebewesen‘), d.h., dessen Stärke einzig darin besteht, daß er nicht allein ist, sondern überall um sich herum seinesgleichen vorfindet. Anstelle von Metaphysik steht so die soziale Dimension als Sinnkategorie. Zwar glaubt Kunze, „daß das Erleben der Landschaft (…) tiefer reicht als das Stimmungsgedicht“, nämlich bis in die Verwurzeltheit der eigenen Existenz, „dorthin, wo man von Heimat spricht“, aber damit ist die irdische Heimat gemeint, in der es gilt, zu sich selbst zu finden. Die Selbstfindung, die soziale Heimat, Mitmenschlichkeit voraussetzt, ist, ausgesprochen oder unausgesprochen, eines der zentralen Themen in der Lyrik Reiner Kunzes. Daß sich auch im Zusammenhang mit dem Thema Mitmenschlichkeit das Sprachproblem stellt, wird nirgends deutlicher als im Liebesgedicht. In ihm wie nirgends sonst drängt das Innerste des Menschen nach Ausdruck – und sperrt sich zugleich gegen ihn, will Sprache werden und erfährt immer wieder die Unmöglichkeit, es unverstellt in die Sprache hereinzuholen. Karl Krolow hat deshalb vom „absurde(n) Terrain des Liebesgedichts“ und vom „Wagnis individuellster Mitteilung“ gesprochen. Schon 1961 verwies er in diesem Zusammenhang auf den Lakonismus, der am ehesten die Lösung des Problems zu bewerkstelligen vermag. Das gilt im besonderen Maße auch für Reiner Kunze, wie ein letztes Beispiel verdeutlichen soll:
Liebesgedicht nach dem start oder
mit dir im selben flugzeug
Sieh den schatten auf der erde den winzigen schatten der
mit uns fliegt
So bleibt die größte unserer ängste
unter uns zurück
Nie ist die wahrscheinlichkeit geringer daß der eine
viel früher als der andere stirbt
Zwar ginge es noch ungleich lakonischer oder zumindest kürzer: ,Der eine Partner kann nicht ohne den anderen leben.‘ Was aber der poetische Text der Direktheit und der Abgenutztheit der alltags sprachlichen Formulierung voraus hat, ist evident. Keimzelle des Gedichts ist wiederum eine Bildinspiration, und wiederum bringt das Bild das Herz zum Sprechen und ermöglicht es ihm zugleich, nicht von sich zu sprechen. Der immer kleiner werdende Schatten, den das Flugzeug auf die Erde wirft, verweist auf den ungleich größeren, der das Glück der Liebenden überschattet: Er wird um so kleiner, je größer die Flughöhe. (Dem subjektiven Empfinden erscheint die Gefahr um so größer, je höher das Flugzeug steigt.) Paradoxie der Situation: Je größer die Todesgefahr, desto geringer ist die Angst vor dem (gemeinsamen) Tod, der vor dem schlimmeren Tod, bei dem einer am Leben bleiben müßte, bewahren würde. Das Zusammenspiel von Bild und Gedanke sowie die lakonische Sageweise schaffen die ästhetische Distanz und damit die Diskretion, die einer ,schlechten‘ Gefühlsunmittelbarkeit vorbeugt. Innerlichkeit will sich im authentischen sprachlichen Ausdruck nach außen kehren, aber dieser verweigert sich zugleich jeder direkten emotionalen Wirkungsabsicht. Dieses poetologische Grundprinzip hat Kunze selbst so formuliert:
Sprache ist für mich nicht nur menschliches Kommunikationsmittel, sondern auch Identität.
Das Gedicht ist Selbstfindung im (metaphorisch-lakonischen) Selbstausdruck. Zugleich überbrückt es aber auch den Abstand zwischen Dichter und Rezipienten. Indem die dichterische Rede, vor allem mittels einer verfremdenden Metaphorik, die „Faszination des nie Gehörten, des einerseits Paradoxen, andrerseits aber Neuartigen“ bewirkt, läßt sie uns, gleichsam an der Hand des Autors, „zu Entdeckungen in uns selbst aufbrechen.“ Es ist dies das zweite zentrale Grundprinzip in Kunzes Poetik. Es besagt, daß der Lyriker „immer auf dem Weg [ist], (…) die inneren Entfernungen zwischen sich und anderen zu verringern“, um „die Erde um die Winzigkeit dieser Annäherung bewohnbarer zu machen“, „die eigentliche, die dichterische Möglichkeit.“
Otto Knörrich
− Geleitwort
− Tabula Gratulatoria
− Marian Nakitsch: Reiner Kunze
I. Würdigung und Zueignung
− Marian Nakitsch: Nur ein Dichter
− Uwe Grüning: „Hier dürfen Sie schweigen“
− Uwe Kolbe: Eine Beschämung
− Andreas W. Mytze: Versuch einer Erinnerung
− Otto Knörrich: „Rhetorik des Schweigens“. Zur Autorpoetik Reiner Kunzes
− Eva und Uwe-K. Ketelsen: Von einem Land in ein anderes. Zur Lyrik Reiner Kunzes
− Manfred Durzak: Was bleibt? Ein Blick zurück auf die DDR-Literatur – nicht im Zorn, sondern als Frage: Gerichtet an Erzähltexte von Reiner Kunze
− Werner Ross: „Zimmerlautstärke“
− Walter Schmitz, Ludger Udolph: ,Im Drahtverhau‘: Das Gedicht „Der blaue vogel von Jan Skácel, übersetzt von Reiner Kunze
− Elżbieta Dzikowska: „Dasselbe zu schaffen, das ein anderes ist“. Reiner Kunzes polnische Gedichte
− Karl Schumann: Der Dichter als Musiker. Die Tonkunst im Werk Reiner Kunzes
− Jürgen Serke: Biermann und Kunze – zwei, an denen die DDR zerbrach
− Václav Maidl: Ein waghalsiges Unterfangen
− Matthias Buth: Die Beharrlichkeit der Dichter. Gryphius-Preisträger Reiner Kunze auf Lesereise durch Schlesien
II. Amt des Poeten
− Rainer Malkowski: Über die Kürze
− Olaf Georg Klein: Momentaufnahme
− Hans-Jürgen Heise: Schattenränder der Aufklärung
III. Poetische Sendbriefe
− Günter Kunert: Herbstgang der Dichter
− Ernst Josef Krzywon: Diptychon
− Mireille Gansel: La table du poète
− Milena Fucimanová: Sétkaní
− Peter Horst Neumann: Eine Lerche
− Tadeusz Różewicz: Non Stop Shows
− Michael Hamburger: How To Beat The Bureauerats. Nachträgliche Erläuterung des Selbstverständlichen
− Jakub Ekier: Reinerowi Kunzemu
− Elisabeth Albertsen-Corino: Hüben und drüben (1989)
− Annemarie Zornack: Z
IV. Chronik zu Leben und Werk
− Marek Zybura: Reiner Kunze: Leben und Werk im Streiflicht
Am 16. August 1998 vollendet Reiner Kunze sein fünfundsechzigstes Lebensjahr. In seiner Biographie und in seinem künstlerischen Werdegang spiegeln sich fokusartig die Mäander der Geschichte und Kultur des geteilten Nachkriegsdeutschland wider. Die existentielle Motivierung seiner Dichtung ist denn auch ihr signum specificum. In geradezu exemplarischer Weise bekennt sich der Dichter in seiner literarischen Praxis zum Schriftstellerverständnis, wie es von Hilde Domin formuliert wurde, die vom Schriftsteller Mut zum Sagen, zum Benennen und zum Rufen fordert. Diesen Mut stellte Reiner Kunze wiederholt unter Beweis.
Eine solche Haltung ist allerdings weniger Ausdruck des Glaubens an die ,weltverändernde‘ Macht der Dichtung, als vielmehr der Überzeugung, daß Dichtung immer Dialog sei. Indem sie den Mitmenschen etwas sagen, für sie etwas benennen, sie anrufen will, sucht sie immer ein Du und schafft, hat sie es gefunden, das gemeinsame Wir. Auf eben diese dialogische Option des Werkes von Reiner Kunze dürfte auch in hohem Maße zurückgeführt werden, daß er „einer der herausragenden Schriftsteller des zeitgenössischen Deutschland ist, die mit Recht das ,Gewissen der Nation‘ genannt werden können“ (Ralph Giordano), setzt nämlich die besagte Option Achtung vor der Souverenität der Anderen voraus.
Der dialogische, auf Kommunikation ausgerichtete Ansatz von Kunzes Dichtung liegt auch dem rezeptionsgeschichtlichen Phänomen zugrunde, daß sie sich bereits in Dutzenden von Sprachen auf allen Kontinenten ihr literarisches Bürgerrecht erworben hat.
Übersetzt, stiftet Literatur die internationale Kommunikation. Diese fördert Reiner Kunze zielbewußt, indem er seit den frühen sechziger Jahren die tschechische Literatur ins Deutsche übersetzt. Mit der darauf bezogenen Tätigkeit, die er von seinem Originalschaffen nicht absetzt, sondern in die er sein ganzes dichterisches Können und Fühlen engagiert, wurde er zu einem Botschafter der tschechischen Literatur in Deutschland, wie es ihn in der Geschichte der deutsch-tschechischen Kulturbeziehungen noch nicht gab. Ein Glücksfall nicht nur für die tschechische, sondern auch für die deutsche Literatur. Daß Fundamente für diesen Brückenschlag zum Nachbarn in wesentlichem Maße auch von Reiner Kunzes tschechischer Frau, Elisabeth Littnerová, gelegt worden sind, verweist noch einmal auf den menschlichen, existentiellen Hintergrund des dialogischen Prinzips seines Schaffens.
Reiner Kunze blickt heute auf ein gattungsübergreifendes, umfangreiches Werk zurück, das in der deutschen Literaturgeschichte der Gegenwart einen festen, „international anerkannten Platz“ (Erika Tunner) einnimmt. Dies erklärt auch die Tatsache, daß die vorliegende Festschrift Autoren aus Deutschland, Tschechien, Polen, Frankreich und England versammelt. Sie alle: Freunde und Kollegen des Dichters, Übersetzer und Literaturwissenschaftler, haben sich zusammengefunden, um ihn für dieses Werk dankend zu ehren und ihm zu seinem Jubiläum herzlich zu gratulieren. Wir danken dem Dichter für seine Poesie, wir danken dem Übersetzer für seine Vermittlerleistung und wir danken dem Freund und Kollegen für seine Zuverlässigkeit, Hilfsbereitschaft und die gastliche Tasse Jasmintee.
Marek Zybura, Vorwort
Unauffällig wie das öffentliche Leben des Reiner Kunze selbst – und möglicherweise für ihn ebenso wie für seine Leser überraschend – kam am 16. August 1998 die Nachricht in manchen Feuilletons, daß der Autor des Buches Die wunderbaren Jahre bereits seinen fünfundsechzigsten Geburtstag feiert. Womöglich scheint vielen Reiner Kunze deswegen in so junger Erinnerung, weil er Kinderbücher wie Der Löwe Leopold geschrieben hat, in denen „ein Kinderherz schlägt“. Und das ist etwas, was der große mährische Dichter Frantisek Halas als etwas Erstrebenswertes ansah: „Ein Kinderherz haben, das ist es, ein Kinderherz.“ Jan Skácel zitierte diesen Ausspruch gerne, und Reiner Kunze verdankt die deutsche Leserschaft die Bekanntschaft mit beidem. Ohne die jahrzehntelange Beschäftigung mit der tschechischen Poesie und vor allem der Dichtkunst des Jan Skácel lägen in deutscher Sprache weder die kongenialen Übersetzungen des Reiner Kunze vor, noch wäre seine Poesie die, die sie ist.
Im vorliegenden Geburtstagsfestband wird in einigen Beiträgen dieser Zusammenhang angedeutet. Dennoch wünschte man sich einen noch weiteren Überblick. Daß Kunze der erste war, der Milan Kundera, den späteren europäischen Bestsellerautor, ins Deutsche übersetzt hat, geht leider nirgends hervor. Ebenso vermißt man eine, wenigstens tabellarische Auflistung Kunzescher Übersetzungsleistung. Allein die Anzahl der von Kunze übersetzten tschechischen Autoren überrascht und verblüfft. Reiner Kunze hat Bücher von fast 50 Schriftstellern ins Deutsche übertragen.
Exemplarisch nehmen sich die Autoren Walter Schmitz und Ludger Udolph das große Gedicht von Jan Skácel „Der blaue Vogel“ in der Übersetzung Reiner Kunzes vor, um mögliche unterirdische Verbindungen beider Dichter aufzuspüren. Das Ergebnis ist frappierend, zumal die vergangenen Jahrzehnte von Mauer und Stacheldraht geprägt waren. Kunze hatte den Weg zu den Nachbarn gefunden und wurde dafür reichhaltig beschenkt. „Der Dialog selbst ist das Leben der Wahrheit“ – dieses dem Band vorangestellte Motto des Theologen und Kunze-Freundes Max Seckler wird, wie gezeigt werden konnte, im poetischen Werk des Reiner Kunze verdichtet. Aus polnischer Sicht berichtet Elzbieta Dzikowska in ihrem Beitrag ähnliches über Reiner Kunzes polnische Gedichte: „Mit der Toleranz und dem Respekt gegenüber dem Leser, der in seinen Möglichkeiten durch keine ,Logik der überdeutlichen Verhältnisse‘ gestört oder eingeschränkt wird, korrespondieren die gleiche Toleranz und der gleiche Respekt in der Darstellung des Polnischen, das nicht in die Perspektive einer kulturellen Fremde gestellt, sondern in seinem menschlichen Format gezeigt wird, als dasselbe, das ein anderes ist.“ Aus wieder anderer Sicht bestätigt dies Matthias Buth in seinen eindrucksvollen Notizen anläßlich einer gemeinsamen Lesereise mit Reiner Kunze durch Schlesien. Vor dem Hintergrund unseres Jahrhunderts mit seinen Exzessen des Schreckens zieht Matthias Buth den schlesisch-deutschen Dichter Andreas Gryphius zu Rate und belegt in dessen Gedichten unerwartet aktuelle „Verständigungsmittel“.
Karl Schuhmanns Beitrag untersucht „Die Tonkunst im Werk Reiner Kunzes“. Er bescheinigt einen gründlichen Unterschied „von vielen Äußerungen über die ,holde Kunst‘, wie Dichter und Literaten sie zum Entzücken ihrer Leserschaft und zum Grinsen der Musikkundigen von sich geben“. Bereits im Nachwort von „Widmungen“ (1964) hat Lubos Prihoda auf Kunzes Musikkenntnisse auch in bezug auf sein dichterisches Schaffen hingewiesen.
Kunzes Lyrik und Prosa wird im vorliegenden Band in Beiträgen von Otto Knörrich, Eva und Uwe-K. Ketelsen oder auch Manfred Durzak aus verschiedenen Blickrichtungen untersucht.
Schriftstellerkollegen und Freunde wie Marian Nakitsch, Günter Kunert, Reiner Malkowski oder Tadeusz Rózewicz liefern aufschlußreiche „Poetische Sendbriefe“, äußern sich zum „Amt des Poeten“. Erschütternd sind die Zeilen von Michael Hamburger aus finsteren Zeiten, als der Noch-DDR-Bürger Kunze in London physisch zusammengebrochen war.
Auch Uwe Grünings und Uwe Kolbes Berichte aus DDR-Zeiten geben neue Einblicke in diese spannungsreichen Jahre. Der unermüdliche Einzelkämpfer Andreas W. Mytze steuert aus London seinen „Versuch einer Erinnerung“ bei. Die Stasi hatte seinerzeit Kunze nahegelegt, sich von Mytzes Zeitschrift europäische ideen zu distanzieren…
Die TABULA GRATULATORIA kann sich sehen lassen. Sie belegt das europäische Format des Dichters Reiner Kunze. Daß unter seinen Freunden und Gratulanten Namen aus mittel- und osteuropäischen Ländern, Tschechien allemal und vor allem Polen, in so häufiger Anzahl zu finden sind, zeigt, daß Kunze schon lange pflegt, was jetzt für ein vereintes Europa in Frieden und Freiheit erst werden soll: der Blick über die Grenzen. Denn die Grenzen sind es, wie Kunze einmal sagte, die uns verbinden: „Indem wir diese Grenze respektieren, respektieren wir des anderen Freiheit, und in diesem Respekt hebt sich das Trennende der Grenze auf.“ Und dann beginnt der „Internationalismus der Dichter“, der vom Austausch der Poesie lebt.
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