− Zu Marina Zwetajewas Gedicht „Gedichte über Moskau (8)“
MARINA ZWETAJEWA
Gedichte über Moskau (8)
Moskau! Ein riesengroßes
Den Pilgern offnes Haus!
Jeder ist obdachlos in Rußland.
Wir ziehen alle hin zu dir.
Das Brandmal: Schmach der Schultern,
Im Stiefelschaft – ein Messer.
Von weither und noch weiter
Rufst dennoch du herbei.
Für Katorga und Brandmal,
Für jede Art von Krankheit
Der Jüngling Panteleimon
Uns allen Heilung gibt.
Und hinter jenem Türchen,
Zu dem das Volk hinströmt,
Da brennt glutrot das Herz
Der Iwerskaja Mutter.
Das Halleluja fließt
Auf sonnenbraune Felder. –
Ich küsse deine Brust,
Moskau, Moskauer Erde!
Aus dem Russischen von
Marie-Luise Bott
Die erste Strophe dieses Gedichts schrieben ein Moskauer Malerfreund und ich zusammen ins Gästebuch des 1992 in Moskau eröffneten Zwetajewa-Hauses, das ein Zentrum der internationalen Zwetajewa-Forschung hatte werden sollen. Mit Trauer schaue ich heute auf diese Verse.
Es ist das vorletzte der „Gedichte über Moskau“, die Zwetajewa zwischen März und August 1916 schrieb und sogleich in den Petersburger Sewernyje sapiski (Nördliche Annalen) und ihrem Gedichtband Werstpfähle veröffentlichte. Anfang Januar 1916 hatte die Dreiundzwanzigjährige zum ersten Mal vor Dichtern in Petersburg gelesen. Danach zeigte ihr Ossip Mandelstam seine Stadt. Ende Januar besuchte er Zwetajewa in Moskau. Und sie schenkte ihm auf gemeinsamen Spaziergängen ihre Stadt, die alte Hauptstadt Rußlands mit ihren „vierzig mal vierzig Kirchen“. Das zweite der „Gedichte über Moskau“ ist an Mandelstam gerichtet:
Aus meinen Händen nimm, mein wunderlicher schöner Bruder,
Die nicht von Menschenhand geschaffene Stadt…
Peter der Große hatte 1709 den Zarensitz aus Moskau in das von ihm erbaute Petersburg verlegt. Erst im März 1918 wurde der Kreml wieder Sitz der (Sowjet-)Regierung.
Im letzten Jahr der alten Welt also und mitten im Krieg erfaßte Zwetajewa sich und ihre Stadt, um sie den Repräsentanten der Petersburger Kultur darzureichen.
Zar Peter Lob und Euch, o Zar!
Doch größer sind als ihr die Glocken
Deshalb der Vorrang Moskaus.
Das achte Gedicht ist im volkssprachlichen Ton und Metrum der Wallfahrtslieder geschrieben, an deren Ende ein Halleluja gesungen wird. Es beginnt mit dem Bild von Moskau als einem einzigen großen „strannopriimnyj dom“. Das war in der christlichen Welt der Klöster das gastfreundliche Pilgerheim. Zwetajewa kannte aus ihrer Jugend die wallfahrenden blinden Sänger auf der Kalugaer großen Landstraße, die Moskau mit Tarussa, dem Sommerdomizil der Zwetajews, verband und weiter nach Süden in die Ukraine führte. Und sie kannte auch das von Graf Scheremetjew gestiftete „strannopriimnyj dom“, das städtische Obdachlosenasyl am Moskauer Gartenring.
Doch hier heißt es: „Jeder ist obdachlos in Rußland“, „alle“ kommen nach Moskau. Auch die sozial Ausgegrenzten, die Sträflinge mit dem auf der Stirn eingebrannten Zeichen ihrer Straftat, finden hier barmherzige Aufnahme. „Heilung“ verheißt allen der in der Ikonographie bartlos als Jüngling dargestellte Schutzpatron der Ärzte und Soldaten, Panteleimon, dem in der Nikolskaja-Straße beim Roten Platz eine Kapelle geweiht war. Und „das Volk“ drängt hin zum Zentrum christlicher Liebe, der als wundertätig verehrten Muttergottes-Ikone in der Iwerskaja-Kapelle beim Auferstehungstor am Roten Platz.
Stalin ließ sie 1928 abreißen. Auch ließ er die blinden Sänger – all die Kobsar-, Bandura- und Lirnik-Spieler mit ihren religiösen Liedern und unzensierbaren historischen Epen – 1935 vorgeblich zu einem ethnographischen Kongreß bei Charkow zusammenrufen und erschießen. Schostakowitsch erinnerte sich mit Entsetzen an diese Vernichtung einer unwiederbringlichen, nur mündlich überlieferten Volkskunst. So verschwand der Begriff „strannopriimnyj dom“ mit dem dazugehörigen Personal und seinem Ethos aus den Wörterbüchern der Sowjetzeit.
1997, unter Jelzin, wurde die Iwerskaja-Kapelle wieder aufgebaut. Schwieriger gestaltet sich der innere Aufbau christlicher Werte, auch der Liebe zum anderen, Fremden. Gorbatschow prägte die Metapher vom „gemeinsamen Haus Europa“. Er und der sprachbegabte Eduard Schewardnadse betrieben Abrüstung und politische Verständigung. Die Welt liebte sie dafür und unterstützte tatkräftig den Aufbau von Demokratie in Rußland. Heute ist der historische Augenblick von 1990/91 auf lange Sicht vertan.
Die Europäerin und „strannopriimniza“ Zwetajewa ist in ihrer angestammten Stadt ein zweites Mal obdachlos geworden. So bekommt das sechste Gedicht „Über Moskau“, in dem sie sich eines Tages den namenlosen blinden Sängern zugesellen will, die „im Dunkeln Gott besingen“, eine bittere Aktualität:
Müde geworden von euch, Feinde, und von euch, Freunde,
Und der Willfährigkeit der russischen Sprache –
Werde auch ich ein silbernes Kreuz anlegen,
Mich bekreuzigen und still auf den Weg machen
Auf der alten, der großen, der Kalugaer Landstraße.
Marie-Luise Bott, Sinn und Form, Heft 5, 2023
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