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Zukunft ausgerechnet
Von tickenden stummen
Maschinengehirnen
Und noch immer der Brunnen
Der Stein der nicht aufschlägt
Auf den wir horchen
Der
Nicht aufschlägt.
Marie Luise Kaschnitz gehört nicht zu jenen Dichtern, deren Werk allgemeines Aufsehen erregt hat, noch hat sie eines jener herausragenden Gedichte geschrieben, das wie die „Todesfuge“ Paul Celans dem Ruhm seines Verfassers vorausgeeilt ist. Ihr kam es immer auf die Botschaft an, die ihr lyrisches Ich dem Leser übermitteln wollte; sie schrieb nicht aus dem Bewußtsein einer vom Leben abgehobenen dichterischen Existenz, sondern versuchte, indem sie scheinbar von sich sprach, den Leser in ihre existentiellen Erfahrungen einzubeziehen. So ergeben sich Ruhm und Wirkung dieser Lyrikerin eher aus der Konsequenz, mit der sie ihr Leben in Zurückgezogenheit und Stille verbracht hat, als aus ihrer Anwesenheit in der literarischen Öffentlichkeit. Mehr schweigend über sich nachdenkend als lauthals von sich redend, hat sie zu ihren Lebzeiten die Literaturkritik eher zu einer einverständigen Kenntnisnahme ihres Werkes denn zu überschwenglichem Lob veranlaßt. Nach dem frühen Tod Ingeborg Bachmanns – der sie persönlich nahestand – war sie vielleicht die einzige Dichterin, die bei aller Bescheidenheit wußte, daß sie mit ihrem lyrischen Werk über den eigenen Sprachraum hinausweist und zu einer Literatur gehört, die sich nicht an engen politischen Grenzen wundgestoßen hat. Ihre Gedichte sprechen trotzdem von den Verwundungen, die sie inmitten politischer Spannungen und eines allgegenwärtigen Leids erfuhr, von der Art ihres Weltverständnisses, in dem die Person hinter der Mitteilung ihrer Erfahrungen zurücktritt.
Die Gedichte der Kaschnitz vermitteln auch heute noch die Nähe, in der sie zu den Fragen unserer Zeit stand. Das Wechselspiel von Zeitgebundenheit und Überzeitlichkeit bezieht den Leser gleichermaßen in die Landschaften wie in die Geisteshaltung der Dichterin ein. Die Konturen der oberrheinischen Heimat und das Licht der Campagna um Rom grundieren ihre Verse und vermitteln das hinter den Wörtern verborgene Leuchten, das manchen Vers erhellt, der zunächst dunkel erscheinen mag. Gehalt und Bedeutung dieser Lyrik ergeben sich nicht zuletzt aus den zurückhaltenden Gesten und Gebärden, mit denen sie davon spricht, wie sehr Herkunft und Lebensstil, aber auch Selbstüberwindung und Überwindung der Konvention dazu beigetragen haben, dem oft Unbestimmbaren, dessen sich das Gedicht bemächtigt, Ausdruck und Form zu verleihen.
Wie sehr soziales und landschaftliches Herkommen in den Gedichten der Kaschnitz Bedeutung erhält, aber auch wie dieses Herkommen durch die dichterische Arbeit der Lyrikerin überwunden wurde, ahnt man, wenn man den Ort Bollschweil im Hexental besucht. Hier am Rande des Schwarzwaldes zwischen Freiburg und Staufen öffnet sich die Schönheit des Breisgaues auch in seiner geschichtlichen Dimension. Der Landschaft des Oberrheins, die sich den Ideen, die vom nahen Elsaß und von Frankreich einströmten, durch Jahrhunderte geöffnet hat, begegnet man in ihren Gedichten auch dort, wo sie nicht ausdrücklich von ihr spricht. Bollschweil selbst, ihre „Familienheimat“ – wohin sie immer wieder zurückgekehrt ist und über dessen altes Herrenhaus sie selbst mehr andeutend als ausführlich in ihrem Buch Beschreibung eines Dorfes berichtet hat – gehört zu jenen am Rande des Schwarzwaldes gelegenen Dörfern, deren „vom Fortschritt bereits entstellte Gesichter“ nicht auf den ersten Blick erkennbar sind. Das Dorf, dessen Friedhof ihre und ihres Mannes sterbliche Überreste birgt, könnte man schnell als eine mögliche Wahlheimat anerkennen. Dennoch haben die bis heute von alten Bruchsteinmauern gesäumten Wege, die nahe der burgundischen Pforte früher als anderswo blühenden Kirschbäume und die in der Ferne blauenden Höhenzüge der Vogesen den kritischen Blick der Dichterin auf die Gegenwart niemals verstellen können. Die über dem Grab eingelassene Reliefplatte, eine vor mehr als hundert Jahren in England entstandene Nachbildung eines Parthenonreiters, wurde dem Ehepaar Kaschnitz 1925 anläßlich seiner Hochzeit zum Geschenk gemacht. Sie symbolisiert hier im badischen Bollschweil jene andere Welt, die sie an der Seite ihres Mannes erlebte. Die Antike und der ihr von Kindheit an vertraute Breisgau verschmolzen mit einer weit in die Geschichte zurückreichenden Familientradition zu einer Lebensbasis, die es ihr erlaubte, einen guten Teil europäischer Kunst- und Geistesgeschichte zu überblicken. Innerhalb dieses Gesichtskreises treten in ihren Gedichten, besonders aber in ihren Prosastücken immer wieder jene Orte in Erscheinung, die ihr Leben mitbestimmten: das Berlin und Potsdam des „Kaiserreiches“, Weimar, wo sie eine Buchhändlerlehre absolvierte, aber auch München, Königsberg, Wien und das Frankfurt der Kriegs- und Nachkriegsjahre. Vor allem aber und immer wieder Italien und in dessen Zentrum Rom und die Campagna, die sie zusammen mit ihrem Mann als ihre zweite Heimat betrachtete.
Obwohl die Kaschnitz schon früh zu veröffentlichen begann – ihre beiden ersten Romane Liebe beginnt und Elissa erschienen 1933 und 1937 –, vollzog sich ihr Leben zunächst abseits der literarischen Szene. Schreibend erfuhr sie sich zwar als Persönlichkeit, doch erst nach der Lebensmitte entstanden ihre reifen Gedichte, die Erzählungen, die miniaturartigen Prosastücke und die Hörspiele. Dem Roman hat sie sich nicht wieder zugewandt.
Oft versucht sich der literarische Anfänger als Lyriker, wohl in dem Glauben, das Flüchtige und Vergehende rasch in den Griff zu bekommen und ihm so Dauer verleihen zu können. Auch in den frühen Gedichten der Kaschnitz deutet kaum schon etwas auf den Stil, dem sie sich nach 1945 anzuvertrauen begann und mit dem auch sie die Isolierung der deutschen Lyrik von 1933 bis 1945 durchbrach. Was die Gültigkeit eines gelungenen Gedichts ausmacht, ist indes nur schwer zu bestimmen. Konvention und „Mode“ durchdringen sich wechselseitig und ergeben im Glücksfall jene Versgebilde, die eine überzeitliche Botschaft vermitteln, nicht zuletzt wohl dadurch, daß in ihnen Menschlich-Allzumenschliches in eine Form übertragen wird, welche die Hülle der Konvention sprengt. Auch für die Lyrik der Kaschnitz trifft zu, daß ihr der Jahrhunderte alte Ausweis dessen, was ein Gedicht ausmacht, bis in die Jahre nach 1945 noch verbindlich erschien. Obwohl oder gerade deswegen, weil die großen schöpferischen Gedichte der deutschen Lyrik des 18. und 19. Jahrhunderts reimlos waren – erinnert sei hier nur an Klopstock und Hölderlin –, galt der Reim Marie Luise Kaschnitz noch lange als Indiz lyrischer Sprache und Leistung. Dem widerspricht nicht, daß die Avantgarde bereits souverän mit dem „vers libre“ umzugehen wußte. Die lyrische Mitteilung, die bereits der junge Benn handhabte und die auf „Pathos“ und „Stimmung“ verzichtete, ebenso Brechts in Theorie und Praxis vollzogener Umgang mit reimloser Lyrik und unregelmäßigen Rhythmen gerieten nach 1933 für die in der inneren Emigration lebenden Dichter anscheinend in Vergessenheit. Protokollstil und Lakonismus, wie er den späten Gedichten der Kaschnitz eigen ist, entwickelten sich aus einem immer mehr den Zeiterfordernissen Rechnung tragenden Verständnis der Lyriker, das die Authentizität des lyrischen Ichs, seine unmittelbare Betroffenheit und Anteilnahme in den Vordergrund stellte. Mit ihm veraltete der Unterschied von Gedanken- und Erlebnislyrik, während die Konturen des lyrischen Ichs, die Übergänge von Ich und Welt immer fließender wurden. Auch auf die Lyrik von Marie Luise Kaschnitz bezogen gilt, daß der Dichter, der sich des Anstoßes durch die Wirklichkeit verpflichtet weiß, wenn er „Ich“ sagt, gleichermaßen „Welt“ meint und umgekehrt.
In der Gestalt von Lynkeus, dem Türmer im Faust, hat Goethe bereits antizipiert, was Amt des Dichters wirklich sein kann. Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt, ist der Türmer in seinem Wächteramt gleichsam die Symbolfigur des Lyrikers, soweit sich dieser zur Anteilnahme am diesseitigen und aktuellen Geschehen bekennt. Mit anderen Worten: Kontemplation und mögliches Eingreifen ins Zeitgeschehen scheinen einander nicht auszuschließen, wenn der Dichter von seiner Warte, die ihm auch Distanz ermöglicht, als Chronist seine Zeit überblickt und bereit ist, warnend seine Stimme zu erheben, sofern ihn die Ereignisse dazu nötigen. Es verwundert daher nicht, daß sich eine Dichterin wie Marie Luise Kaschnitz in der Mitte unseres Jahrhunderts zur Rolle des Türmers bekennt, indem sie sagt:
Schon meine letzten langen und von mir aus als ,gegenständlich‘ bezeichneten Gedichte sind eine Art von Chronik, Zeitgeschehen, Zeitgefahren, und ich noch immer in der Rolle des Türmers, was sehe ich, wie verändert sich das Gesehene, kann ich meinen Augen trauen?
Besonders im letzten Teil ihrer Frage berührt sie ein Grundproblem zeitgenössischer Lyrik, nämlich das der Authentizität des lyrischen Ichs. Was mit dem „Kann ich meinen Augen trauen“ gemeint sein könnte, ist jedoch nicht so eindeutig, wie es scheint. Nicht nur das durch die Netzhaut ins Bewußtsein dringende Geschehen veranlaßt den Dichter zum Schreiben. Gerade das charakterisiert die Lyrik von Marie Luise Kaschnitz. In vielen Prosastücken und Gedichten, die nach 1960 entstanden, engagiert sich die im Zentrum Europas lebende Dichterin gegen den Hunger und das Elend in weiten Teilen der Welt und erhebt ihre Stimme, eine Stimme der Vernunft, inmitten eines noch scheinbar intakten Glanzes und Wohlstands.
Marie Luise Kaschnitz, die 1901 als Marie Luise von Holzing-Berstett geboren wurde, entstammt einem badischen Adelsgeschlecht. Zurückblickend sieht sie die Vorgeschichte ihrer eigenen Familie anläßlich eines Besuches des Stammschlosses ihrer elsässischen Familienlinie, das während der Französischen Revolution zerstört wurde, mit Argwohn. Der Anblick der Ruine bringt sie auf den Verdacht, „daß meine Vorfahren ganz besondere Ausbeuter, zumindest aber besonders unbeliebt gewesen sein müssen“. Einer derartigen Skepsis gegenüber der eigenen Vergangenheit und „Vorvergangenheit“ begegnet man im Werk der Dichterin immer wieder. Ebenso verhält sie sich zu einer Gegenwart, die sich kostspielige Weltraumunternehmen leistet, während doch „all unsere verzweifelten Bemühungen dazu dienen müssen, diese unsere Erde vor dem Ersticken zu retten“. Niemals hat sich Marie Luise Kaschnitz jedoch in Skepsis verausgabt und eingeschlossen, sondern sich mit zunehmendem Alter immer bestimmter den dringenden Fragen der Zeit zugewandt. Es spricht für ihr soziales Bewußtsein, daß sie – beispielsweise – einem Dichter wie Bertolt Brecht ihren Respekt und ihre Bewunderung nicht versagte, nicht zuletzt, weil sein Gerechtigkeitsgefühl „von Anfang an mehr [war] als das von mir geübte billige Mitleid“.
Unmittelbarer als eine Aufzählung biographischer Details führt eine solche Äußerung zu den Quellen, aus denen ihre Dichtung Zufluß erhielt. In die scheinbar übersichtliche Welt des zweiten deutschen Kaiserreiches hineingeboren, erfährt sie bereits als Kind aristokratischer Eltern – ihr Vater versieht den Dienst eines preußischen Offiziers pflichttreu, wenn auch widerwillig –, daß es außerhalb der kaisertreuen protestantischen Gesinnung, die in Berlin und Potsdam herrscht, auch Korrektive gibt, die diese so „heile Welt“ in Frage stellen. Während die Mutter in ihren Erinnerungen merkwürdig blaß bleibt, dominiert das Bild des Vaters. Es beschwört die Erinnerung herauf, daß „Voltaire das Idol einer trotz Religionsunterricht fast atheistischen Jugend und die Französische Revolution, die badische Revolution lebendiger als der Mythos von der Unbefleckten Empfängnis, vom Leben Jesu im heiligen Land“ in ihrem Elternhause waren. Geprägt von derartig liberalen Anschauungen, die eine kritische Betrachtung der Geistes- und Realgeschichte in sich einschlossen, erlebt sie als junges Mädchen den Zusammenbruch des Kaiserreichs und die Flucht der großherzoglichen Familie des badischen Regenten als einen historischen Augenblick, der sie „nicht sonderlich bewegt“. Ihre Sympathien gehören einem aufständischen Matrosen, „der von weither gekommen war, um die Mündung seines Maschinengewehres auf die alte Zeit zu richten“.
Auch während ihrer Ehe mit dem österreichischen Archäologen Guido Kaschnitz von Weinberg ist sie, bei aller Abgehobenheit vom Leben des Proletariats, ihrem Ideal von sozialer Gerechtigkeit treu geblieben. Sie fand es „ganz in Ordnung“, daß die Welt ihrer Kindheit untergegangen war. Und angesichts des in den Nachkriegsjahren viel strapazierten Wortes von der „inneren Emigration“ stellt sie sich die Frage:
… worin soll sie denn bestanden haben, unsere sogenannte innere Emigration? Darin, daß wir ausländische Sender abhörten, zusammensaßen und auf die Regierung schalten, ab und zu einem Juden auf der Straße die Hand gaben, auch dann, wenn es jemand sah?
Aber, so fährt sie fort:
An der Wichtigkeit unserer Arbeit zweifelten wir keinen Augenblick, eine wissenschaftliche Erkenntnis, eine gelungene Verszeile, auch eine nie gedruckte, konnten nach meiner damaligen Auffassung die Welt verändern, verbessern, das war unsere Art von Widerstand, eine, die uns zu Volksfremden machte, zu Verrätern schlechthin.
In den Gedichten, die sie in jenen Jahren geschrieben hat, dominiert nicht die Auflehnung gegen die Übermacht eines aufgezwungenen fremden Willens, sondern eher eine trauernde Ergebenheit in das Schicksal, das „Fatum“, wie nicht zufällig eines der Gedichte aus jener Zeit heißt. In der Form und im Ausdruck noch herkömmlich, leisten die Gedichte dieser Jahre aber bereits jene „Trauerarbeit“, ohne die ihr reifes und gültiges Werk undenkbar ist.
Die Kaschnitz hat den Widerspruch von „Geist“ und „Macht“ auch späterhin nicht verinnerlicht, als dieser, zwar gemildert, jedoch immer noch aus sich heraus wirkend, erneut spürbar wurde. Sie blieb einer „Dialektik der Aufklärung“ verpflichtet, die sie erkennen ließ, daß der Nationalsozialismus etwas vorweggenommen hatte, „was später wiederkommen sollte“:
die Auffassung von der Abseitigkeit der reinen Wissenschaft, von der Abseitigkeit der formalistischen, der bürgerlichen Kunst.
Bei aller Zwiespältigkeit, die in diesem Gedanken zum Ausdruck kommt, kann man nicht bezweifeln, daß Marie Luise Kaschnitz bis zu ihrem Lebensende ihrem Glauben an die Kontinuität der „reinen Wissenschaft“ und der „bürgerlichen Kunst“ verpflichtet blieb. „Dialektisch gewendet“, offenbart sich in diesem Gedanken nämlich auch der Widerstand gegen die Vereinnahmung von Kunst und Wissenschaft in den Apparat einer „verwalteten Welt“, wie sie Alexander Mitscherlich beschrieben hat. Nicht zuletzt aber wird hier auch an eine Form des Widerstandes erinnert, mit der das Ehepaar Kaschnitz dem Faschismus entgegentrat.
Rückblickend vermag man heute sowohl in dem 1943 geschriebenen Buch Griechische Mythen, vor allem jedoch in der 1942/43 entstandenen Courbet-Biographie diesen Widerstand deutlicher zu erkennen. Dieses Buch, das erst 1949 erscheinen konnte und 1967 unter dem bezeichnenden Titel Die Wahrheit, nicht der Traum neu aufgelegt wurde, sah die Dichterin selbst als „eine Überleitung ihres Schreibens, in der nicht nur die Natur, sondern auch die Antike langsam verschwinden, während der heutige Mensch in den Vordergrund tritt“. Im Leben Courbets erhellt sie zu einer Zeit, in der das Wort „Kunstkritik“ sprachregelnd durch „Kunstbetrachtung“ ersetzt wurde, gleichnishaft ein Künstlerleben, das sich zwischen Schaffensrausch, revolutionärer Empörung an der Seite der Pariser Kommune und Resignation vollzog. Indem sie das Leben Courbets als ein Modell begreift, gestaltet sie gleichzeitig ihren eigenen Willen, die Zeit des Faschismus möglichst unbeschädigt zu überleben.
Das In-den-Vordergrund-Treten des „heutigen Menschen“ konnte sich nach dem Zusammenbruch der Naziherrschaft deutlicher vollziehen als in jenen Jahren, da der Krieg – „Hitlers Krieg“, wie sie einmal betont – die Zwangsherrschaft noch verschärft hatte. Das ließ sie jedoch nicht übersehen, daß es mit der erhofften Brüderlichkeit, „die wir vorher nicht erlebt hatten…, auch bald zu Ende war“. Man muß sich angesichts einer so bitteren Enttäuschung fragen, was der Dichterin noch an Hoffnungen blieb, denen sie Ausdruck geben konnte.
Es hat nicht an Versuchen gefehlt, Marie Luise Kaschnitz mit dem Etikett „christliche Lyrikerin“ zu versehen. Bei einer näheren Betrachtung ihres Werkes erweist sich jedoch eine derartige Rubrizierung als zu eng. Bereits in den vor 1945 entstandenen Gedichten erkennt man, daß ihr Liebesbegriff gleichermaßen Mensch und Natur in einer Weise umfaßt, die alle engen konfessionellen Fesseln sprengt. Nicht zuletzt ihre Vertrautheit mit der Antike verweist immer wieder auf jene Seiten des Lebens, in denen ein vorchristlich-pantheistisches Weltempfinden auflebt. Ihre Gläubigkeit mißt sich an der Bewährung des einzelnen im Alltag, an der Liebesfähigkeit des „heutigen Menschen“, die durchaus nicht unerotisch begriffen wird. Die Polarität von Leben und Tod drückt sich- bereits in frühen Gedichten nicht nur darin aus, daß „Schatten und Gestalt“ jederzeit ihre Rollen vertauschen können, sondern auch in jener konkreten Nähe des Todes, die sie angesichts einer antiken Grabstele erfährt:
Der Tod ist nah, er steht schon auf der Schwelle
Schon kann ich seinen Schatten wachsen sehen
Sobald er näher tritt versiegt die Quelle
Und ich muß gehen.
War die persönliche Disposition, unter der die Kaschnitz als Lyrikerin begonnen hatte, noch sehr von einem traditionellen Lyrik- und Kunstverständnis geprägt, so entsprach dies auch ihrer Vorstellung von einer passiv-leidenden Rolle des Menschen innerhalb des geschichtlichen und gesellschaftlichen Geschehens. Fast alle ihre Gedichte bis 1945 geben darüber Auskunft. Angesichts der zunehmenden seelischen und materiellen Not während der Kriegsjahre verschweigen ihre Verse jedoch immer weniger den Widerspruch zwischen Geist und Materie, zwischen Sein und Nichts. So entstanden Gedichte, die vorbereiteten, was später die existentielle Tiefe ihrer Lyrik ausmachen sollte. Keineswegs zufällig endet eines der letzten Gedichte, die man der ersten Phase ihrer Arbeit zurechnen muß, mit den Versen: „Zitternd müssen wir erkennen, / Daß wir dennoch sterblich sind.“ Diese weder gedanklich noch sprachlich überwältigend neue Erkenntnis muß jedoch in einem geschichtlichen und literarischen Kontext gesehen werden, der sich aus dem „dennoch“ dieser Verse ergibt. Daß sich dieses „dennoch“ nämlich auf jene Hoffnungen bezieht, die aus dem Chaos, dem Elend und dem erduldeten Terror emporwachsen, entspricht den Erfahrungen, die sie oft in ihren Prosaaufzeichnungen erwähnt. „Denn Zeiten sind, da ist das Ungeheure / Ein täglich Brot“ heißt es in dem Gedicht „Der Mensch“. Das gilt einem Verständnis, in dem bereits die Ahnung aufkommt, daß sich der „Strom der Zuversicht“ auf die Dauer nicht „mit der Hoffnung heftigem Bemühen“, also mit idealistisch-schillerischem Pathos zum Fließen bringen läßt. Auch das „Maß der Liebe“, so erkennt sie schon früh, ist das Maß irdischer Liebe, in dem eine „Welt des Geistes und der Güte“ erkennbar wird.
Die großen Begriffe überlagern in den frühesten und frühen Gedichten der Kaschnitz noch die Wirklichkeit. Doch der relativ enge Zirkel persönlicher Erfahrungen wird in dem Moment durchbrochen, wo die Form nicht mehr verleugnen muß, was eigentlich zu sagen gewesen wäre. Das Leiden am Versagen der Menschheit angesichts des Krieges und der Toten gewinnt sofort plastische Gestalt in der Sprache jener Erfahrungen, die der geschichtlichen Wende zugehören, die das Jahr 1945 zunächst in Aussicht stellte. Plötzlich dringen in die von der Dichterin sorgfältig bewahrte Innenwelt ihrer Lyrik auch solche Erfahrungen ein, deren Gestaltung ihr bisher nicht zugänglich gewesen war: Das Heer der auf der „Großen Wanderschaft“ Europas heimat- und obdachlos Gewordenen, Worte wie Schweiß und Rauch – Realität, an der „das Ding zerbricht“ und „das Haus zerfällt“. Die an den Tod verlorenen Überlebenden, zunächst noch im Stil der Duineser Elegien Rilkes in den Vers gebannt, beginnen jetzt allmählich zu sprechen. So wird ein poetisches Programm, das sich zunächst implizit ausgesprochen hatte und mit dem „Sage wie es begann“ in der „Rückkehr nach Frankfurt“ eingeleitet wurde, mehr und mehr zur Wirklichkeit im Gedicht.
Von Gedichtband zu Gedichtband konnte die Kaschnitz immer mehr auf die tradierte Formensprache ihres Anfangs verzichten, um sich schließlich der Realität ganz unmittelbar zu öffnen. Diese in ihrem Werk immer deutlicher zu spürende Unmittelbarkeit ist jedoch keiner wie auch immer gearteten Mode verpflichtet. Sie gewinnt ihre Kraft aus einer Sprache, die sich immer weniger scheut, auch das anscheinend Banale so zu benennen, daß eine Deutung der Existenz möglich wird. Dabei geht es der Dichterin nicht darum, Lebenshilfen zu geben oder Programme zu verkünden, sondern um die Offenbarung ihrer Person, einer Person, die sich ganz bewußt mitten in den Strom der Zeit stellt, um sich selbst zu erproben: ihre Standhaftigkeit, ihre phrasenlose Moral, ihre Fähigkeit, Schmerz zu ertragen. Offenbarung heißt für Marie Luise Kaschnitz nicht zuletzt das Auf-sich-selbst-Zurückkommen des Menschen in einer immer fragwürdiger werdenden Konsum- und Warenwelt, welche die Gefahren der zwischen den ideologischen Lagern anwachsenden Widersprüche aus dem allgemeinen Bewußtsein zu verdrängen sucht, um andererseits den „kalten Krieg“ schüren zu können. Damit überschritt sie jene Grenzen, hinter denen eine „Zukunftsmusik“ verklang, die nur von kurzer Dauer gewesen war. Das „Fürchtet euch nicht“, das sie noch als Botschaft ihren Lesern zugerufen hatte, der „Zusammenklang von der Würde des Menschen und der Freiheit“, von Hoffnung und Liebe verwandelte sich in eine Sicht auf die Realität, in der die Dissonanz vorherrscht. Es gelingt ihr, der Gefährdung der menschlichen Existenz zu entsprechen, ohne dabei den Glauben an eine mögliche Zukunft der Menschheit zu verlieren – ein Balanceakt, dessen Dialektik sie im „Tutzinger Gedichtkreis“ (1953) Ausdruck gibt. Sie versucht, zwischen Gott und Welt zu vermitteln, indem sie die Schöpfung als etwas der Menschheit Anheimgegebenes bezeichnet, das von dieser Menschheit selbst aufgehoben oder gar endgültig zerstört werden kann. Dabei erzwingt sie keinen Bruch mit ihrem Glauben. Trotzdem sind diese Gedichte als eine Art Abgesang zu begreifen, in dem Gott jene Rolle zugewiesen wird, von der sie spricht:
Denn du wirst uns schlagen mit Wachsein.
Mit unaufhörlichem Blendlicht.
Auffindbar sein werden wir überall,
Auch im Rausch der Droge,
Auch in den Gärten des Wahnsinns.
Unübersehbar die Steppe der Fremdheit,
Gerodet der Wald Geheimnis,
Unsere verschwiegene Tiefe Durchsichtig wie Glas.
Lyrische Entsprechungen einer derart radikalen Sicht finden sich bald auch in Gedichten wie „Hiroshima“, die helfen, Legenden zu zerstören, die die Schuldigen freisprechen sollen, indem sie dem Befehlsempfänger und den Ausführenden zu Märtyrern stilisieren, während die an den wirklichen Hebeln der Macht Sitzenden anonym bleiben. Daß sich die Kaschnitz auch späterhin solchen Manipulierungsversuchen entgegengestellt und verweigert hat, macht nicht zuletzt die Bedeutung ihrer Lyrik aus. Auch angesichts persönlicher Betroffenheit – der Zyklus „Dein Schweigen – meine Stimme“ entsteht nach dem Tode ihres Mannes – weiß sie von der Vergeblichkeit, sich in die Innenwelt ihres Leidens einschließen zu können:
Schreibend wollte ich
Meine Seele retten.
Ich versuchte Verse zu machen
Es ging nicht.
Ich versuchte Geschichten zu erzählen
Es ging nicht.
Man kann nicht schreiben
Um seine Seele zu retten.
Die aufgegebene treibt dahin und singt.
Mit einer solchen Erkenntnis geht auch die weitere Sensibilisierung ihrer Sprache Hand in Hand, die ihre Texte immer transparenter und hellsichtiger werden läßt. Nur wenige Worte genügen ihr, um spürbar werden zu lassen, daß ein Gedicht, stellvertretend für so viel Ungesagtes, jene Konzentration erreichen kann, die ein gelungener lyrischer Text auf den Leser zu übertragen vermag:
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Zukunft ausgerechnet
Von tickenden stummen
Maschinengehirnen
Und noch immer der Brunnen
Der Stein der nicht aufschlägt
Auf den wir horchen
Der
Nicht aufschlägt.
Die magische Stille, die jenseits jeder modischen Sprachartistik und lyrischen Selbstdarstellung von den späten Gedichten der Kaschnitz ausgeht, zwingt den Leser, sich und seiner Zeit selbst nachzuspüren. Die Botschaft, die die Lyrikerin zu verkünden hat, verschweigt nicht des Menschen „Lust am Totschlag“. Aber sie spricht auch von jenen „Notizen der Hoffnung“, die sie sich in die Formel übersetzt hat: „Weil das Böse ist / Ist Gott.“ Aus einem solchen alles andere als utopischen Programm wird auch der stumme Aufruf des einzelnen zur sozialen Verantwortung hörbar. Nicht die gerundete, mehr oder weniger vollkommen in die Form verpackte Selbstdarstellung steht am Ende des lyrischen Werkes der Marie Luise Kaschnitz, sondern das unbeschönigende Selbstporträt, wie sie es in ihrem „Abschied von Rom“ gezeichnet hat. Sie weiß, daß ihre Gedankenwege nicht glatt „wie auf dem kalten Bildschirm“ abgelaufen sind, sondern daß sie als Zeugnisse eines Lebens zurückgelassen werden müssen, in dem Ich und Welt nicht getrennt, sondern in ständiger Bezogenheit aufeinander erlebt wurden.
Die Rolle des Türmers ist für die Dichterin nicht zu der eines Türmers im Elfenbeinturm geworden. Das verdankt sie wohl den Prägungen, die sie in ihrem Leben erfuhr und die vor allem das Werk ihrer zweiten Lebenshälfte zu einer hellsichtigen, mit wachen Sinnen erlebten und mit sich wandelnden Kunstmitteln geschriebenen Chronik werden ließ. Gedichte zur Zeit nannte sie bereits ihre drei 1947 erschienenen großen Zyklen, die nicht nur die Opfer des Krieges beklagen, sondern auch die Gegenwart als etwas begreifen, das unauflöslich mit der Vergangenheit und der Zukunft verknüpft ist, auch wenn diese Zukunft sich erst anzudeuten begann. Eher als Totenbeschwörung denn als „Aufbaulyrik“ lesen sich heute die Verse jener Jahre.
Wir sind verloren an das All
An den Kehricht, die Asche, den ganzen Verfall
An die Furcht, an die Kranken, den Beinahe-Tod
An die Menschen im Hunger, die Menschen in Not
heißt es im Zyklus „Große Wanderschaft“. Solche Verse hat man später in der Bundesrepublik – wie auch Günter Eichs berühmtes Gedicht „Inventur“ – als „Kahlschlaglyrik“ bezeichnet, wohl weniger abwertend, als vielmehr die Notwendigkeit eines radikalen, mit der Vergangenheit brechenden Neubeginns begreifend. Doch in den Gedichten „Rückkehr nach Frankfurt“ erkennen wir heute mehr als nur eine Bilanz der Zerstörung und des Todes. Daß die „Nachkriegszeit“ auch eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln ankündigte und sich die weltweiten neuen Konflikte bereits abzuzeichnen begannen, ist in diesem Zyklus bereits zu erkennen. In den sich gedrängt stoßenden Daktylen „Opernplatz, Rose den Winden“ tanzt unsichtbar Pan über wüste Trümmerlandschaften – hier als Gott des Mittags, der Gewalt und des Todes. Diese Todesnähe, die sie immer wieder beschwört, wird auch ihre späten Gedichte mitbestimmen. Auch dort, wo diese Nähe „privat“ anmutet wie in „Genazzano“, das ihren späten Ruhm begründete, kann die meisterhafte Beschränkung auf eine Situation der Einsamkeit und Trauer nicht darüber hinwegtäuschen, daß der eisige Wind, der durch diese Verse geht, die Kälte des Alls in sich birgt. Gleichzeitig ist ein derartiges Gedicht aber auch an „das Unverlierbare“ gerichtet, indem es Bilder bewahrt, die nicht auf den „Märkten der Toten“ gehandelt werden. Und schließlich bleibt nicht nur das in der Erinnerung der Dichterin übrig, was begehrt, durch Überreden oder Verschweigen nicht mitschuldig geworden zu sein. Dazu gehört auch der Widerstand gegenüber dem Massentaumel, der das Hinübergleiten von einer Trümmer- in eine Konsumwelt und schließlich eine Welt der Trümmer und des Todes potentiell mitbewirkt:
Euch nicht den Rücken gestärkt
Mit ewiger Seligkeit
Den Verfall nicht geleugnet
Und nicht die Verzweiflung.
Dieses Resümee steht am Ende eines Lebens, dem Dichtung niemals Selbstzweck gewesen ist. Marie Luise Kaschnitz wußte wie kaum eine andere Lyrikerin ihrer Generation die Grenzen zu bezeichnen, die ihrem Schreiben und ihrem Wirken gesetzt waren. Sowohl in ihrer Prosa wie in ihren Gedichten tritt sie als die „ewige Autobiographin“ auf, als die sie sich selbst, in kluger Eingrenzung ihrer Möglichkeiten, bezeichnet hat. Auch in diesem Zusammenhang erinnert sie an die Rolle des Türmers, wenn sie schreibt:
Ich sehe und höre, reiße die Augen auf und spitze die Ohren, versuche, was ich sehe und höre, zu deuten, hänge es an die große Glocke, bim bam.
In dieser selbstbenannten Einschränkung verbirgt sich jedoch auch eine Ungerechtigkeit der Dichterin sich selbst gegenüber, die dem Selbstbeobachter den Blick in den Spiegel überscharf und damit eigentlich schon wieder unscharf macht. Sie empfand ihre eigenen Unzulänglichkeiten abseits jeder Koketterie ohne Einschränkung, so beispielsweise, wenn sie die Unvollkommenheit ihrer Gedichte beklagt und ihrem Verlangen nach dem vollkommen schönen Gedicht Ausdruck gibt, indem sie sagt:
Es soll wohl nur etwas zu Wort kommen, was ich aus lauter Trauer über die Unvollkommenheit der Welt (und meine eigene Unvollkommenheit) nie zum Ausdruck gebracht habe. Ein Lebenslob und Gotteslob, und gerade das wird immer wieder verschoben, wahrscheinlich bis es zu spät dazu ist.
In diesem Gedanken äußert sich jene geheime Spannung, die ihre besten Gedichte in sich selbst austragen: die widerspruchsvolle Übereinstimmung von Gott und Welt, wie sie ihrem Selbstverständnis entsprach, der Widerspruch zwischen Sein und Nichts, von dem sie wußte, daß er unlösbar ist, weil eine wie auch immer verstandene Erlösung aus den drängenden Widersprüchen der gesellschaftlichen Realität nur durch den Tod gewährt wird.
Überblickt man ihre Gedichtbände, so fällt auf, daß der Realitätssinn der Lyrikerin mit zunehmendem Alter immer schärfer wurde und daß sich ihr Hinüberwachsen aus der „Konvention“ in die „Moderne“ nicht aus Anpassung, sondern aus einem inneren Bedürfnis und aus dem Verständnis ihrer Zeit heraus vollzog. Die Namen moderner Dichter, mit denen sie sich in ihren Aufzeichnungen auseinandergesetzt hat, reichen von Benn über Brecht bis zu Ionesco und Beckett, Thomas Bernhard und Peter Handke. Gerade auf die jüngeren Dichter richtete sie ihre Aufmerksamkeit. Nicht zuletzt wohl deshalb, weil sie sich bis ins Alter mit all jenen verbunden fühlte, die, wie sie selbst, sich geduldig einer Gesellschaftsordnung widersetzen, die auch noch den Widerstand gegen sie marktfähig zu machen versucht. Die zahlreichen Ehrungen, die ihr zuteil wurden – so erhielt sie unter anderem den Georg-Büchner-Preis, den Orden Pour le Mérite und war Mitglied der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung sowie Ehrendoktor der Universität Frankfurt am Main –, täuschten sie nicht darüber hinweg, daß es einem Dichter weniger auf seine „Unsterblichkeit“ als vielmehr auf das Bewußtsein ankommen sollte, seiner Zeit und „den Mitlebenden etwas vermittelt“, zu haben.
Als Marie Luise Kaschnitz 1974 starb, hinterließ sie ein Werk, das diese Forderung in einem hohen Maße erfüllt.
Heinz Czechowski, Nachwort, Juli 1983
Mit Lob und Tadel ist es sonderbar bestellt. Der Tadel, die abfällige Kritik, ja selbst die viel gefürchtetere Nichtbeachtung rufen in uns eine Menge von Abwehrkräften hervor. Das Selbstbewußtsein wird gestärkt, man ist doch mehr, als die andern glauben oder man wird es eines Tages besser machen, so gut, daß alle staunen werden über das verkannte Genie. Die öffentliche Anerkennung hat ganz andere Folgen, sie stimmt uns nachdenklich und kritisch gegen uns selbst und vielleicht ist gerade das ihr tieferer Sinn. Ich jedenfalls habe mir seit dem Tag, an dem Hermann Kasacks freundlicher Brief mich endlich in Athen erreichte, viele Gedanken gemacht. Ich fühlte mich nämlich durch den in Aussicht gestellten Preis in eine besondere Beziehung gesetzt zu dem Mann, dessen Namen er doch nicht zufällig trägt. „Was würde Büchner dazu sagen“, dachte ich und schon stand er fast leibhaftig vor mir, dieser Riese des Leidens und der Auflehnung – ich hatte ihm Rechenschaft abzulegen – davor schützten mich weder meine wohlwollendsten Leser noch die Deutsche Akademie. Also saß ich in unserm Hotelzimmer zu Füßen der Akropolis in der schweigenden Gegenwart Georg Büchners, des Antiklassikers und Revolutionärs, der gewiß nie das Land der Griechen mit der Seele gesucht hat und der keine Zeit und keine Mittel hatte, ins Ausland zu reisen. Mein eigenes Leben ging mir durch den Sinn, – wie ich, im Gegensatz zu Büchmer, nie eine ganz bestimmte Vorstellung davon gehabt hatte; wie man die Weltordnung ändern müßte und nicht einmal den verzehrenden Wunsch, meine eigenen Anliegen dem allgemeinen Wohl zum Opfer zu bringen. In meinem persönlichen Leben hatte ich versucht, das Nächstliegende gut und den mir nahestehenden und nahekommenden Menschen Gutes zu tun, was eine ziemlich bequeme und eher dankbare Aufgabe ist. Meine Arbeit erschien mir, im Vergleich mit den wenigen Werken des jung Gestorbenen oft vom künstlerischen Spieltrieb bestimmt, ein Herumversuchen auf vielen literarischen Gebieten, ich sah keine große Linie, keinen inneren Zusammenhang aus einer unverrückbaren Gesinnung heraus. La poetessa delle macerie – die Trümmerdichterin – hatte mich eine italienische Zeitschrift vor kurzem genannt, aber einen Augenblick lang hatte mir das fast mißfallen, weil mir schien, daß auch in meinen Kriegs- und Nachkriegsgedichten weniger das Chaos als die Sehnsucht nach einer neuen Ordnung wesentlich seien. All meine Gedichte waren eigentlich nur ein Ausdruck des Heimwehs nach einer alten Unschuld oder der Sehnsucht nach einer aus dem Geist und der Liebe neu geordneten Dasein, – in meinen Essays und Tagebüchern, ja auch in meinen Hörspielen, die ich durchaus nicht als uneheliche Kinder ansehe, überall habe ich nur versucht, den Blick des Lesers auf das mir Bedeutsame zu lenken, auf die wunderbaren Möglichkeiten und die tödlichen Gefahren des Menschen und auf die bestürzende Fülle der Welt. Den billigen Trost, den manche Leser vom Gedicht erwarten, habe ich nie geben wollen, und wenn meine Verse im Gegensatz zu den sogenannten hermetischen oder surrealistischen eher verständlich waren, so hängt das damit zusammen, daß mein Weg in der Lyrik mich von der Natur zum Menschen geführt hat und daß ich nie ganz vergessen konnte, daß ich mich Menschen mitteilte, freilich solchen, die die Mühe des Ungewohnten und nur langsam zu Begreifenden nicht scheuen.
Dies alles bedachte ich und auch, wie es nun weitergehen sollte – das ist nämlich auch eine Folge von Preisverteilungen, daß man zunächst ganz fest davon überzeugt ist, daß einem von nun an nie mehr etwas einfallen wird. Ich hatte gerade einen Brief aus Deutschland bekommen, einen, der nicht nur mich, sondern Sie alle angeht, weil nämlich darin, und von einem jungen Menschen, gefragt wird, was denn der Dichter, zumal der Lyriker, den satten und zufriedenen Deutschen noch zu sagen hätte, was er, selbst eingespannt in eine mechanisierte Scheinordnung, überhaupt noch zu sagen hätte. Diese Frage nun führt über den eigenen Wert oder Unwert weit hinaus. Noch einmal erinnerte ich mich an meine sogenannten Trümmergedichte, die Sonette aus dem letzten Kriegsjahr, die Rückkehr nach Frankfurt, die große Wanderschaft und die Zukunftsmusik, all jene Verse, deren Entstehungsgeschichte mich mit Hessen und besonders mit der Stadt Frankfurt so unauflöslich verbindet, und ich mußte zugeben, daß in schlechten Zeiten besser als in scheinbar guten, dichten sei. Was ich mir im Augenblick als Thema vorstellte, war eine Besinnung und Mahnung, ähnlich jenem großartigen Gedicht von Kipling, daß mit dem Refrain „Lest we forget“ der Macht- und Prachtentfaltung des beginnenden viktorianischen Zeitalters das andere niemals zu vergessende gegenüberstellt. Aber das war kein neuer und nicht einmal mein eigener Gedanke, und so endeten denn diese Zweifel und Selbstanklagen auch keineswegs damit, daß die schweigende Gegenwart Büchner nun vollends Gestalt annahm, sich zu mir herabbeugte und mir ein Lorbeerblatt reichte. Vielmehr sah ich plötzlich von mir und von uns allen ab und erinnerte mich an den Woyzeck, diese kurze Szenenfolge, die ich unzählige Male gelesen habe, deren leidenschaftliche und rücksichtslose Menschlichkeit mich hingerissen hat und deren Dialoge ich mir zum Vorbild genommen habe bei manchem dramatischen Versuch. Mit einem mal standen sie mir alle wieder vor Augen, diese erbarmungswürdigen Gestalten, Woyzeck mit seinem gehetzten Gang und seinem stechenden Blick, der apoplektisch-rührselige Hauptmann, der skurrile und grausame Arzt, der gute Kamerad und die hitzige Marie, die sich von dem Zerquälten, Zappeligen fortsehnt zu einem Mann, der wie ein Baum dasteht in seiner prächtigen Uniform. Ich hörte die Stimmen, die Woyzeck hört, draußen auf dem Felde und hinter den Wänden seiner Kammer, den stampfenden Rhythmus des ewigen Begehrens und die Posaunentöne des Jüngsten Gerichts, auch das „stich tot, stich tot“ aus der Tiefe, diesen ganzen Hexensabbath, der erst als Woyzeck seine Bluttat, wenigstens im Geiste, schon begangen hat, zum Schweigen kommt. Ich vernahm noch einmal das trostlose Märchen der alten Frau, in welchem Sonne, Mond und Sterne, diese lieblichen und strahlenden Erscheinungen dem armen Waisenkind nur die Vergänglichkeit des Irdischen enthüllen und die Erde ihm nichts anderes ist als ein seelenloses tönernes Ding. Und ich erinnerte mich an die in dem Stück immer gegenwärtige Frage nach dem Sinn des Lebens, der ja auch und gerade für Woyzeck die Liebe sein könnte, wäre der Mensch nicht ein Abgrund von Schlechtigkeit und müßte ihn nicht erst die Grabeskälte dem furchtbaren Kreislauf seiner Begierden entziehen.
Mit erschreckender Deutlichkeit stand mir damals das ganze finstere Werk vor Augen, und doch richtete ich mich daran auf, wie vielleicht auch Sie sich in diesem Augenblick daran aufgerichtet haben. Jedes vollkommene Kunstwerk erfüllt uns ja, – auch wenn es als „schwarze Poesie“, als Gegenbild von Glaube und Hoffnung erscheint, mit Mut und mit Glück. Mit einem mal wußte ich auch: die deutschen Leser und Hörer sind weder ruhig, noch zufrieden, noch satt. Sie haben nur einen andern Hunger, eine andere Unruhe und eine andere Furcht, als die, welche ihnen einst den Weg so leicht machte zu den Dingen der redenden und der bildenden Kunst. Jedes wirkliche, das heißt in der ihm gemäßen Form vollendete und in seinem Ausdruckswillen unerbittliche Kunstwerk mußte zu ihnen sprechen, heute wie je. Es handelte sich nicht um Programme, nicht um die Ausmerzung der Wiedereinführung des Gegenständlichen, sondern um die härteste innere Wahrheit und um die äußerste Bemühung um die Form. Es handelte sich vor allem um das Erbarmen, das ja nichts anderes als in Mitlieben und Mitleiden, ein Offensein und Offenbleiben ist.
Ich habe Ihnen geschildert, was für Gedanken ich mir in der letzten Zeit gemacht habe. Dadurch daß ich sie aussprechen durfte, bin ich frei geworden und im Stande, mich über die Anerkennung, die schöne Feier und die Anwesenheit so vieler Freunde herzlich zu freuen. Ich danke dem Ministerium, dem Magistrat der Stadt Darmstadt und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung für das Vertrauen, das in der Verleihung eines so bedeutenden Preises zum Ausdruck kommt, das Vertrauen in meinen guten Willen, meine Arbeitskraft und meinen Mut. Ich denke mit Dankbarkeit an zwei Männer, die ich gern hier wüßte, an den in Oslo lebenden Max Tau, der 1933 als Lektor des Cassirerverlages mein erstes Buch herausbrachte und dem ich an Ermutigung außerordentlich viel verdanke, und den verstorbenen Eugen Claassen, der fast alle meine Gedichte gedruckt hat und der, gerade vor einem Jahr hier in Darmstadt, das Manuskript meiner Römischen Betrachtungen mit einer bei ihm seltenen freudigen Zustimmung für seinen Verlag übernahm.
Und nun möchte ich Ihnen zum Schluß noch von einem Erlebnis berichten, das ich an unserm letzten Tag in Griechenland hatte und das mir für unser heutiges Zusammensein und Auseinandergehen und für unser aller Arbeit tröstlich erscheint. Wir sind an diesem Tag mit Freunden in das Hymettosgebirge gefahren, um ein byzantinisches Kloster zu sehen. Diese alten griechischen Klosterkirchen sind sehr klein und dunkel, sehr gedrungen und fest, wie in den Boden gerammt. In der Kirche von Kaisariani nun haben wir jeder ein paar lange dünne Kerzen gekauft, sie angezündet und, ein wenig nach außen geneigt, um einen Leuchter gesteckt. Danach haben wir die früheren Mönchszellen angeschaut, sind unter den herrlichen alten Platanen umhergegangen und haben die Hände auf den von einer fruchtbarkeitbewirkenden Quelle überronnenen marmornen Widderkopf gelegt. Viel später, als es schon dunkel war und wir fort und auseinandergehen wollten, kamen wir noch einmal bei der Kirche vorbei. Da sahen wir nun durch ein vorher gar nicht bemerktes kleines Fenster gerade auf unsere Lichter, die, noch kaum kürzer geworden, still in der inzwischen geschlossenen Kirche brannten. Dieser Anblick hatte etwas seltsam Erregendes, so als sei schon eine lange Zeit verstrichen und als seien wir selbst nur Geister, die vorbeiziehen an der Stätte ihres menschlichen Tuns. Aber zugleich hatte doch jeder von uns ein beglückendes Gefühl: daß nämlich jedes echte Zusammensein über seine eigentliche Dauer aufrechterhalten bleibt und daß auch die von uns angezündeten Lichter noch fortleuchten, wenigstens für ein paar nächtlich Vorübergehende und für eine kleine Zeit.
Marie Luise Kaschnitz, Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises, akzente, Heft 1, 1956
LOB DER LIEBE
nach Marie Luise Kaschnitz
Noch unbewußt sind uns die eigenen Tage,
Solang der Jugend Schattenbilder wanken,
Bis sie verstummt, die ruhelose Klage,
Im Wellenspiel der reiferen Gedanken.
Milch gibt die Kuh dann, Blut des Weines Traube,
Der Sommer hat sich nun an uns verschwendet.
Die Sterne stehen über meiner Laube,
Und alles Fühlen und Begehren endet.
Es ist der Träume tief verborgene Mahnung,
Daß jede Leidenschaft im Abschied gründet,
Indes der Sehnsucht unsägliche Ahnung
Durch reines Liebeswerk Erfüllung findet.
So heißt die Ewigkeit auch nur vollkommen,
Was unser Herz hat in die Hand genommen.
Manfred Bieler
Jens Bisky: Vom Nichts begleitet
Süddeutsche Zeitung, 7.2.2005
Beatrix Langner: Schreiben im eigenen Schatten
Neue Zürcher Zeitung, 7.2.2005
Hans-Dieter Schütt: Rückwende
Neues Deutschland, 7.2.2005
Marie Luise Kaschnitz spricht in BR Retro Gespräche und Interviews, 26.10.1951 mit H.L. Geiger über das Dichten als stellvertretender Akt
Elsbet Linpinsel: „Der Dichter spricht“
Die Tat, 27.1.1971
Cornelius Hell: Der defekte Schlusssatz
Die Furche, 24.1.2001
Marie Luise Kaschnitz liest 1966 eigene Prosa und Lyrik und spricht mit Werner Weber.
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