– Zu Manfred Peter Heins Gedicht „Lauffeuer“ aus Manfred Peter Hein: Gegenzeichnung. –
MANFRED PETER HEIN
Lauffeuer
Die Veränderungen der Haut
ein Klimawechsel unwiderruflich
darunter die Szenen
Szenen an Szenen
des Abschieds
Die Strähne Licht
an der Absalom hing
Die zerbilderte Einsamkeit eines Manns
mit abgeschlagenen Armen
Die Hände neu aus den Lenden gewachsen
zum März- und Katergequäk
Ein Widerpart
Diese Nachricht ist alt seit je
Lauffeuer überall
den Abraum beschriebener Täler hinauf
Gehenna- und Kidronrauch
Was hier die Stimme fortträgt
geht auf Flügeln
nach Salomos Wort
Gesichter in schwelenden Autoreifen
wechselnde Blindmausvisagen
grämlicher als Saturn
Die einen Abgang graben in Sprüchen
aus Staub geduldig gefräßig
Auf Nimmerwiedersehn Und sag:
Ich sehe Sag: Ich höre Sag
was dorthin geschrieben steht
zum Gedächtnis
der Kommenden Gehenden Toten
In dem Gedicht „Lauffeuer“ von Manfred Peter Hein handelt es sich – aber ich kann mich irren, es ist ein Irrgedicht, ein Irrgang, dem man sich hingeben muß blind – um Alter und Abschied und um eine Nachricht, die sich rasch wie ein Lauffeuer verbreitet.
Auf dem Schuttabladeplatz Gehenna bei Jerusalem, dem unheimlichen Ort ehemaliger Kinderopfer, spielt sich alles ab, das unwiderrufliche Altwerden, die ewigen Abschiedsszenen zwischen Lebenden und Sterbenden, auch die Machtlosigkeit eines Mannes, der nicht mehr fähig ist, zu lieben und der mit ohnmächtigem Katergeschrei noch immer zu umarmen versucht.
Dort schwelen die weggeworfenen Autoreifen, zeigen wechselnde Mausgesichter und lösen sich endlich auf in Staub. Dort leuchtet Absaloms goldene Haarsträhne, dort gilt die uralte Nachricht Salomos, ein Lauffeuer, das auf Flügeln geht, die Nachricht vom Sterbenmüssen, vom Weggehen auf Nimmerwiedersehen, von der Eitelkeit der Welt.
Eine Gedächtnisinschrift gibt es jedoch auch, der Dichter hört sie und sieht sie, auch sie ist aus Staub und von den gräßlichen Blindmausvisagen in den Staub gegraben. Aber sie meint doch alle, die den unheimlichen Ort bevölkern, die kommenden, die gehenden Toten.
Der Band Gegenzeichnung, dem das Gedicht entnommen ist, ist der dritte Gedichtband Manfred Peter Heins, der 1931 in Darkehmen in Ostpreußen geboren wurde Er lebt seit 960 bei Helsinki und hat finnische Prosa und Lyrik (Paavo Haaviko) kongenial übertragen.
Marie Luise Kaschnitz, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Erster Band, Insel Verlag, 1976
Schreibe einen Kommentar