Marie Luise Knott: Zu Bertolt Brechts Gedicht „Die Gedanken des Glücklichen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Bertolt Brechts Gedicht „Die Gedanken des Glücklichen“ aus Bertolt Brecht: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Erster Band: Stücke I. –

 

 

 

 

BERTOLT BRECHT

Die Gedanken des Glücklichen

Zwei Kontinente, zwei Kontinente
Warten auf mich! Ich
Muß ankommen!
Auf wen wartet man schon?
Und sogar der, auf den man nicht wartet
Ankommen muß er.
Mut ist gar nichts, aber
Ankommen ist alles.
Wer auf das Meer
Hinausfliegt und ersauft
Der ist ein verdammter Narr, denn
Auf dem Meer ersauft man
Also muß ich ankommen.
Wind drückt herunter und
Nebel macht steuerlos, aber
Ich muß ankommen.
Freilich mein Apparat
Ist schwach, und schwach ist
Mein Kopf, aber
Drüben erwarten sie mich und sagen
Der kommt an und da
Muß ich ankommen.

 

Sonst ist er ein Narr und ersauft

Früher – als die Welt noch im Lot war und als dem Himmel gehörte, was des Himmels war –, früher konnten die Menschen, wenn sie einer Gefahr trotzen wollten, Orakel befragen und himmlische Wesen anrufen. Auch Odysseus gelangte glücklich nach Hause, weil er in der Gunst der Götter stand. Für Bertolt Brecht, der die „Gedanken“ 1930 niederschrieb, waren die Götter tot. Doch er wusste: Das Ich dieser Zeilen, Ozeanflieger Lindbergh, der in seinem Flugapparat glücklich Nebel und Schneesturm, Wasser und Müdigkeit überstand, der gemeinsam mit den Arbeitern der Ryan-Flugzeug-Fabrik an der Überwindung der Schwerkraft arbeitete – auch er braucht Hilfe. Schließlich:

Auf dem Meer ersauft man.

Gegen diese Lebensbedrohung hat Brecht eine wenig tragfähige Folgerichtigkeit mit „denn“ und „also“ erfunden:

Wer auf das Meer
Hinausfliegt… ist ein verdammter Narr, denn
Auf dem Meer ersauft man
Also muß ich ankommen.

Diese unlogische Logik ist so fragil wie der dünne Faden, an dem alles Gelingen hängt, wenn das Jenseits „liquidiert“ ist, wenn also der Wind herunterdrückt, der Nebel steuerlos macht und der gewählte Flugapparat ebenso wie der eigene Kopf eigentlich schwach sind. Wie soll einer da ankommen? Doch so dünn der logische Faden auch ist, stark und deutlich durchtönt ein gemeinsames, fast möchte man sagen gemeinschaftliches „a“ -warten, ersaufen, ankommen – den Sprechgesang.
Mut sei „gar nichts“, heißt es einmal, und man versteht sofort, was gemeint ist: Was vermag der Mensch schließlich alleine? Er ist als Einzelner gegen die Natur und gegen andere Mächte und Gewalten zu schwach. Doch durch die Erwartung aller kann er sich beauftragt fühlen; so kann ihm sein Vorhaben gelingen. Als wolle es die Kraft der Öffentlichkeit beschwören, wiederholt das lyrische Ich sein „Ich muß ankommen“ und spinnt so einen Faden, der durch das Gedicht und über den Ozean trägt.
Brechts Hörstück Der Lindberghflug, aus dem die „Gedanken des Glücklichen“ stammen, handelt davon, wie einer menschenseelenalleine den Ozean überquert. Mit so unscheinbaren Materialien wie Seilen, Leinwandfetzen und Eisenteilen läutete der Flieger 1927 eine neue Zeit ein, das Zeitalter der Luftfahrt. In Le Bourget bei Paris reckte damals eine riesige Menschenmenge die Hälse, weil jeder den Himmelsstürmer als Erster erspäht haben wollte; und in New York rissen die Menschen auf der Straße den Verkäufern die Extrablätter mit der Nachricht von Lindberghs Ankunft aus den Händen. Zwei Kontinente fieberten um Lindberghs Glück.
Doch das Glück kann man nicht beschwören, und man kann ihm nicht hinterherrennen, wie es im selben Jahr in Brechts „Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens“ hieß. Die Öffentlichkeit erst stellt dem Einzelnen die notwendigen Kräfte zur Verfügung, damit er seinen Part vollbringen kann.
Deshalb ruft das allzu selbstgewisse „Auf wen wartet man schon?“ beim Hörenden eine innere Revolte hervor: Sind wir nicht alle erwartet worden? Wird die neue Zeit nicht die unsre sein? Jeder Mensch muss seinen Teil beitragen.
Er muss erwartet werden, er muss ankommen, und er muss wissen, dass es auf sein Tun ankommt. Sonst ist er ein Narr und ersauft.

Marie Luise Knott, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechsunddreißigster BandInsel Verlag, 2013

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