– Nach Georg Trakls Gedicht „Naturtheater“. –
GEORG TRAKL
Naturtheater
Nun tret’ ich durch die schlanke Pforte!
Verworrner Schritt in den Alleen
Verweht und leiser Hauch der Worte
Von Menschen, die vorübergehn.
Ich steh’ vor einer grünen Bühne!
Fang an, fang wieder an, du Spiel
Verlorner Tage, ohn’ Schuld und Sühne,
Gespensterhaft nur, fremd und kühl!
Zur Melodie der frühen Tage
Seh’ ich da oben mich wiedergehn,
Ein Kind, des leise, vergessene Klage
Ich weinen seh’, fremd meinem Verstehn.
Du staunend Antlitz zum Abend gewendet,
War ich dies einst, das nun weinen mich macht,
Wie deine Gebärden noch ungeendet,
Die stumm und schaudernd deuten zur Nacht.
Der grüne Vorhang vor der
Bühne dahinter das Spiel
von dem du glaubst
es würde nicht enden
Ahorn der Gesang der Treppen
die Zimmer des Hauses
in denen du dem Wachsen
des Efeus lauscht
Blicke können dich packen
dir zwischen die Rippen
fahren sind immer zu groß
für das Kind vor dem Spiegel
Farnvorhang die Bühne öffnet
sich für eine Frau die deinen
Arm um die Schultern legt
sie spricht zu dir spricht immer
noch in dem Zimmer
War ich dies einst, das nun weinen mich macht
Das lyrische Ich tritt durch eine Pforte, die es von den Anderen trennt und sieht auf einer Bühne sein jüngeres Selbst aus früheren Tagen. Es ist eine schmerzliche Begegnung, denn das jüngere Ich aus Kindertagen ist bereits der Nacht zugewandt. Das gespenstische Moment, das einen ergreift, wenn man alte Fotos von sich selbst sieht, fasziniert mich von Jahr zu Jahr mehr. Das soll ich gewesen sein? Warum verstehe ich so wenig davon? Wie steht dieses jüngere Ich mit meinem jetzigen in Verbindung? Die Erinnerung ist trügerisch und der Wunsch, mit dem Jüngeren Ich Kontakt aufzunehmen und die Zeiträume zu verschränken, ist für mich auch ein Thema in einem aktuellen Gedichtzyklus. In „Naturtheater“ deutet das Kind zur Nacht, in der sich das spätere Ich bereits befindet. Mein Impuls beim Schreiben war ein versöhnlicher. Das spätere Ich legt dem jüngeren, dem Kind, den Arm um die Schultern als Zeichen der Verbundenheit. Da im Gedicht alle Zeiträume miteinander verschränkt werden können, besteht die Möglichkeit, eine Klage zu wandeln oder zu transformieren. Ein Gedicht kann also alchemistische Qualitäten haben. Die Auseinandersetzung mit „Naturtheater“ und dem Schreiben von „Frühe Tage“ begleitete auch die Frage, wohin eigentlich die kindlichen Klagen getragen werden und was am Ende daraus wird. Eine offene Frage, die vielleicht am Ende bedeutungslos wird, wenn man durch die Pforte geht – oder eine andere völlig andere Bedeutung gewinnt.
Marie T. Martin, aus Mirko Bonné und Tom Schulz (Hrsg.): TRAKL und wir. Fünfzig Blicke in einen Opal, Stiftung Lyrik Kabinett, 2014
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