UNTER DIE TÜR
(Aus: Tinereƫea lui Don Quijote)
Der heutige Tag
wurde mir, wie gewöhnlich,
unter die Tür geschoben.
Ich setze die Brille auf
und beginne
ihn zu lesen.
Nichts Aufregendes,
wie ich merke.
Gegen Mittag, heißt es, werde ich
ziemlich traurig sein
(der Grund wird nicht angegeben)
und das Licht von da an
weiterlieben,
wo ich gestern aufhörte.
Im Auslandsteil steht etwas
über meine Verhandlungen
mit dem Wasser, den Bergen und der Luft,
betreffend ihren absurden Anspruch,
mir in Blut und Hirn überzugehen.
Es folgen die üblichen Nachrichten
über meine Arbeitsleistung,
über den Gang zum Bäcker,
über die gute Laune
(kein Sterbenswörtchen
über die Situation
in der Leber)
Der Teufel weiß, wo
mein Leben gedruckt wird –
es wimmelt darin
von unverzeihlichen Fehlern.
Marin Sorescu
Übersetzung Dieter Roth
In diesem Band kommen vier profilierte Vertreter jener jungen rumänischen Dichtergeneration zu Wort, die sich etwa seit dem Beginn der sechziger Jahre energisch und massiv Gehör verschafft hat. Was diese damals zwanzig- bis dreißigjährigen Lyriker verbindet, ist die Überzeugung, einer neuen, von allen früheren Epochen grundverschiedenen Zeit anzugehören. Aus diesem Zeitgeschichtsbewußtsein resultiert ihr Bestreben, sich intensiv mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und nach neuen, konstruktiven Lösungen für die Probleme des gegenwärtigen Lebens zu suchen. Diese Suche – mag sie manchmal auch spontan und unreflektiert wirken – geht jedoch immer vom konkreten Erlebnis aus und läßt in jedem Fall Ehrlichkeit und echte Anstrengung spüren. Die ausgewählten Gedichte machen bei aller Vielfalt der Themen und Formen dieses gemeinsame Anliegen hinreichend deutlich.
In ihrer äußeren Entwicklung haben die vier Autoren ähnliche Wege beschritten – wie übrigens auch viele ihrer gleichaltrigen Dichterkollegen; sie sind selbstverständlich und uneingeschränkt mit der Entstehung und Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft verbunden. Die letzten Schuljahre und das Philologiestudium fielen für sie alle in die Zeit nach 1944. Ihnen folgten Lehrjahre an den verschiedensten kulturpolitischen und literarischen Zeitschriften, wo sie mit redaktioneller und verlegerischer Arbeit vertraut wurden und zugleich ein Versuchsfeld für erste eigenschöpferische Leistungen fanden. Heute arbeiten sie freiberuflich, mit Ausnahme Ioan Alexandrus, der als Assistent an der Philologischen Fakultät der Bukarester Universität tätig ist.
Der heute in zahlreichen europäischen Ländern bekannte Marin Sorescu setzte bereits mit seinem ersten Gedichtband Akzente, die für sein ganzes weiteres Werk bestimmend bleiben sollten. Schon der programmatische Titel Allein unter den Dichtern bezeichnete eine Sonderstellung, die dieser Autor einzunehmen entschlossen war. Als einziger unter den jüngeren Lyrikern Rumäniens begann er das zeitgenössische und historische lyrische Arsenal kritisch zu sichten. In einer Reihe geistreicher und effektvoller Parodien und Pastiches setzte sich Sorescu mit den dichterischen Konventionen auseinander, legte ihren Mechanismus bloß und überführte sie der Vordergründigkeit und Oberflächlichkeit. Konkreter Gegenstand seiner Parodien sind manierismusverdächtige Formen der zeitgenössischen rumänischen Lyrik, die er vor allem bei einigen Autoren der mittleren Dichtergeneration entdeckt hatte, aber auch europäische Dichtungsmodelle aus der Vergangenheit. Er verspottet falsches Pathos und Euphorie, die Kultivierung des Absurden in der modernistischen Literatur oder auch den übertriebenen Gebrauch von pittoresken und archaischen Formen. Später ging Sorescu in seiner Abrechnung mit der Tradition konsequent von der Form zum Inhalt über. Es gelang ihm, die zum Klischee gewordenen großen Themen der Weltliteratur zu entfetischisieren und zu parodieren. Er klopfte die lyrische Gestaltung von Liebe, Tod, Schicksal, Kosmogonie, Kunst und künstlerischem Schaffen, von Gegenständen der nationalen und internationalen Mythologie auf ihren weltanschaulich-literarischen Bestand hin ab, deckte Vorurteile und Konventionen auf und stellt ihnen in zunehmendem Maße die eigene Verarbeitung und Interpretation der großen Themen entgegen. Sie ist oft paradox, jedoch ohne Effekthascherei und niemals vordergründig geistreich. Sorescus Bestreben, die Dinge näher an den Menschen heranzurücken, sie zu entfetischisieren, drückt sich in einem prosanahen, vereinfachenden Stil aus: so stellt er die Frage nach dem Glück fast im Vorübergehen („Ich habe Licht gesehen“) oder faßt die Sonne als Seifenschaumspender, ihr morgendliches Lichtversprühen als lustiges Badeerlebnis auf. Das Konstruktive, die lebensbejahende Grundhaltung äußern sich bei Sorescu nicht in euphorischen oder pathetischen Ausbrüchen, die er ja gerade parodiert, sondern in verhaltenen, sehr klaren und einfachen Feststellungen, wenn er sich Problemen zuwendet, die ihn und seine Generation bewegen. Sie reichen von der Bewältigung einer durch Krieg und soziale Ungerechtigkeit geprägten Vergangenheit („Die Hyäne“, „Schwejk“) über die schonungslose Absage an überkommene Haltungen der Klassengesellschaft, das Bekenntnis zum menschheitlichen Fortschritt („Die Krebse“) bis zum Verhältnis von Mensch und Technik („Der Weg“), der drohenden Entfremdung des Menschen von seinem menschlichen Sein („Vision“, „Die Roboter“) und zum heftigen Protest gegen Trägheit, Gleichgültigkeit, Gewohnheit. Parodistisches, Groteskes und Anekdotisches sind oft mit pointenreicher Auflösung eines Themas oder Problems verbunden. Dabei bedient sich der Dichter mit leichter Hand und auf gekonnte Weise der verschiedensten Mythen und Mythologien. Mit „Troja“ reaktiviert er den Mythos vom Trojanischen Pferd, und die Krieger im Bauch des Tiers symbolisieren die drohende Entfremdung des Gefühls von der Vernunft, der Sorescu jedoch seinen Glauben an die Intelligenz, den Wissensdurst und die Ausdauer des Menschen entgegenstellt. Sie müssen nur immer von neuem mobilisiert werden. Als vorwärtstreibendes Moment sieht er die ständige Unzufriedenheit des Menschen mit dem Geschaffenen und Erreichten, den Zweifel als fruchtbare Unrast („Perpetuum mobile“, „Spirale“).
Marin Sorescu ist von der Polemik gegen die künstlerisch unzulängliche Bewältigung lyrischer Themen zur Rebellion gegen platte Inhalte vorgestoßen. Dabei hat er neue, unserer Zeit angemessene, das heißt nüchterne Relationen von Möglichkeit und Wirklichkeit aufgezeigt („Perpetuum mobile“) und auf hohem künstlerischem Niveau ein reiches und gangbares Feld für die sozialistische Lyrik erschlossen.
Für das dichterische Profil Nichita Stănescus war von Anfang an nicht der Bruch mit der Tradition bestimmend; er hat sie vielmehr in eine neue Denkweise integriert, sie durch Bildgut aus dem abstrakten Bereich ergänzt, durch eine üppige, aus der modernen Astronomie, Physik, Anatomie, Geometrie und Arithmetik entlehnte Metaphorik. In Rumänien bezeichnet man Stănescu deshalb gern als „Dichter des modernen Barock“. Diese Charakterisierung läßt Stănescus weltanschauliche Haltung außer acht und gilt nur insofern, als sich gerade seine Dichtung durch eine starke inhaltliche Polarität auszeichnet und viele unausgeglichene und ungelöste Kontraste in seinen Gedichten den Eindruck des Unharmonischen vermitteln. Antrieb für einen ständigen Wechsel von Pathos und Innerlichkeit, Optimismus und Zweifel, Statik und Dynamik, Aktivität und Kontemplativität ist jedoch ohne Zweifel die von dem Dichter als fruchtbar und positiv empfundene Spannung unseres Zeitalters. Metapher und Allegorie dienen der Kennzeichnung dieser Widersprüchlichkeit und eröffnen eine neue Sicht aller heute bekannten und mehr oder weniger erschlossenen Gebiete des Lebens.
Stănescus erste Lyrikbände vermitteln uns sein Bestreben, menschliche Gefühle und Erlebnisse in eine Beziehung zu Raum und Zeit, zum Universum zu bringen und umgekehrt. Die gewaltige Distanz zwischen Mensch und Kosmos verschwindet dadurch, daß das Gefühl des Menschen selbst als eine Welt vieler Unendlicher in dreidimensionaler Sicht erscheint und das Universum und seine immensen Ausdehnungen in Raum und Zeit menschlichen Maßstäben unterworfen werden.
Die Themenskala dieser ersten Schaffensperiode macht klar, daß Stănescu in der Verarbeitung des konkreten Kindheitserlebnisses von Krieg und Faschismus weltanschaulich weiter geht als die anderen drei Autoren. So stößt er von der emotionalen Verurteilung („Als die lebendige Sonne…“, „Wenn ich mich erinnere an Krieg“) zu einer viel umfassenderen und tiefergreifenden Sicht des Problems in „Savonarola“ vor. Hier wendet er sich in Form einer Parabel gegen jeden Zerstörungsgeist, gegen die Gleichschaltung und Mystifizierung menschlichen Denkens, die er durch die Inquisitionspraktiken des späten Mittelalters symbolisiert.
Die Absage an Askese und Vernichtung schließt für Stănescu das Ringen um eine konstruktive Haltung gegenüber der Welt ein. Dabei gilt es, die „Schwerkraft“ zu überwinden („Nach der Errichtung der Mauern“), und das sind für ihn Trägheit, Gleichgültigkeit und Abstumpfung gegenüber der Gefahr des Inhumanen. In diesem Sinne singt er ein Loblied auf die Schaffens- und Schöpferkraft des Menschen, die aus gesellschaftlichem Verantwortungsbewußtsein, aber auch aus der Erfüllung des persönlichen Glücksstrebens geboren wird („Amphion – der Erbauer“). So wird der Aufbauwille des Menschen entscheidend durch die Liebe stimuliert. Dieser Gedanke stellt einen konstitutiven Aspekt von Stănescus Liebesauffassung dar und macht unter anderem deutlich, daß sich dieser Dichter nicht in ein „barockes“ Schema einordnen läßt. Mit seiner Liebesvorstellung geht er unverkennbar auf die revolutionär-romantische Tradition in der rumänischen Lyrik zurück, in der die Gemeinschaft der Liebenden für den Dichter, der zugleich Mitgestalter der Gesellschaft ist, ein wichtiges mobilisierendes Moment war.
Konkrete Bilder, doch auch Metaphern des Fliegens und Schwebens verleihen dem Gedanken des Vorwärts- und Höherstrebens bei Stănescu eine starke individuelle Aussagekraft. Seine 11 Elegien und auch die späteren Bände machen jedoch deutlich, daß dieses Streben nicht geradlinig verläuft und daß der Dichter erst nach Irrfahrten ins Spekulative, ins Mystische und Abstrakte einen gangbaren Weg findet, der nur durch große, andauernde Anstrengungen zum Erfolg führt. Als entscheidende Etappe auf diesem Weg besingt Stănescu die Bezwingung des Kosmos durch den Menschen, die für ihn „das Aufgehen der großen, unsichtbaren Sonne“ ist.
Die Gedichte Ioan Alexandrus gelten in Rumänien bei Kritik und Lesern als glückliche Verbindung von Tradition und Originalität. Bei ihm erscheint der Schritt vom Gestern zum Heute wie bei kaum einem anderen Lyriker seiner Generation als gewaltiger Abgrund, wie es ihn in der Menschheitsgeschichte noch nie gegeben hat. Hieraus erhält seine Sicht der Vergangenheit, also der Kindheitsjahre, eine leichte Verklärung, hat seine Haltung zur Gegenwart etwas Suchendes. Unverkennbar ist der philosophisch-konfessionelle Charakter seiner Lyrik, der ihn in eine bedeutende Traditionslinie der rumänischen Literatur stellt. Dennoch wurzeln seine Gedanken, Ideen und Erlebnisse auf einzigartige Weise im Materiell-Ursprünglichen. Das gilt bereits für Alexandrus frühe Gedichte, die seine Kinderjahre auf dem Lande, die Begegnung mit der Natur und erstes erfülltes Liebesglück gestalten („Die Erde“, „Abstieg“, „Die Lerchen“). Alexandrus Dichtung ist nicht Beschreibung, sondern kraftvoll-affektives Erleben, dem ein Hauch von Ursprünglichkeit anhaftet und das sich in einer sehr materiellen Bildhaftigkeit ausdrückt („Ich trinke Milch“, „Das Fohlen“). Doch bereits in dem Band Das Leben bisher beginnt Alexandru jene Frage zu stellen, die von nun an sein Werk leitmotivisch durchziehen wird. Es ist die Suche nach dem inneren Gleichgewicht des Menschen, der Welt und des Kosmos. Die Frage nach der Meisterung und Erfüllung des Lebens wird seiner gesamten Dichtung eine mehr nach Unruhe als nach Ruhe strebende Spannung geben. Zunächst manifestiert sich diese Suche vor allem im Aufspüren von Widersprüchen. Nach ihnen durchforscht er das bisherige Leben in all seinen Bereichen, und es erweist sich ihm als eine Welt von Gut und Böse, in der Harmonie und Lebenserfüllung ständig bedroht sind. In dem Gedicht „Das Schaukelbrett“ wird dieser Zwiespalt mit einem Bild aus der Kindheit veranschaulicht: der Verlust der kindlichen Naivität, das heißt einer „heilen“, widerspruchslosen Welt, hinterläßt in dem Dichter plötzlich Leere und Ratlosigkeit. Die schmerzlich empfundene Dualität, die dauernde Spannung zwischen Gut und Böse dämpft den optimistischen Ton von Alexandrus ersten Gedichten und verleiht seiner Liebesdichtung eine eher nostalgische Stimmung. Nicht Freude oder Glück, sondern Scheu, ja Angst vor der Erfüllung und Verzicht werden zu seelischen Gipfelwerten seiner Liebeslyrik. Dieser inhaltliche Aspekt wirkt sich auch auf Form und Stil aus; es tauchen Umkehrungen und Verzerrungen auf, die in beabsichtigter Korrelation zur Aussage stehen („Verkehrte Welt“, „Sehnsucht“). Bei der Gestaltung anderer Themen macht sich die Tendenz zur Auflösung des Geläufigen, zur Umkehrung, ebenfalls bemerkbar. Dennoch bleiben Alexandrus Gedichte fest gebunden an eine Metaphorik von robuster Erdbezogenheit: So steigt der Regen vom Mond herunter, die Steine werden zu Stützen des vertrockneten Baums, der Himmel hängt an den Vögeln, die Trockenheit schlägt Salzpflöcke in den Boden.
Die Widersprüchlichkeit zwischen Mensch und Welt wird für Alexandru immer mehr zum notwendigen dialektischen Wechselspiel, eben zur „diskutablen Hölle“. Er empfindet das „Böse“, das Stückchen „Hölle“, das jedem und allem innewohnt, nicht etwa als einen negativen Aspekt der menschlichen „Infrastruktur“, als tiefen psychologisches Problem schlechthin, sondern als ein für die menschliche Entwicklung notwendiges Element. Alexandrus unbestreitbar konstruktive Haltung liegt in jener unermüdlichen Suche nach menschlicher Solidarität, die aus all seinen Gedichten spricht. Daß der Weg dahin oft qualvoll ist und den ganzen Einsatz fordert, zeigt er in Gedichten wie „Der Aufstieg“. Die Zölle, die dabei zu zahlen sind, symbolisieren die Proben und Hindernisse, die der Mensch zu bestehen und zu überwinden hat, die Schwächen, die ihn im Voranschreiten hemmen.
Dabei mißt Alexandru dem Dichter die Rolle des Wegbereiters zu, er bekennt sich also zur erzieherischen und ideologiebildenden Funktion der Dichtung. Sein weltanschaulicher Ausgangspunkt, der auch durch zeitweilige Empfindungen von Disharmonie und Entfremdung nie verschüttet wurde, ist die feste Überzeugung von der Unbesiegbarkeit des Lebens („Die Schildkröte“) und vom Solidaritätswillen des Menschen („Begebenheit“).
Die Gedichte Ana Blandianas, die bei den rumänischen Lesern rasch ein starkes Echo gefunden haben, machen die Schwierigkeiten deutlich, mit den Widersprüchen unserer heutigen Zeit fertigzuwerden.
Den ersten Gedichtband durchzieht noch das jubelnde Bewußtsein der damals erst zweiundzwanzigjährigen Autorin, einer neuen, freien Generation anzugehören, die sich in einer ungebrochen harmonischen Beziehung zu ihrer gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt befindet. Stolz und Freude über die eigene unantastbare Integrität werden in stark sensitiv-individueller Weise geschildert, die die Lyrik Ana Blandianas so mitreißend macht (Flug ins All). Das bereits in den frühen Gedichten immer wiederkehrende Bekenntnis zur „Lauterkeit“ hat für die Dichterin vielfältige Bedeutung: Sie ist die Grundlage der zwischenmenschlichen Beziehungen, der Antrieb für uneingeschränkte Einsatzbereitschaft, der Leitgedanke bei der Aneignung der Wirklichkeit, bei der Verarbeitung aller gesammelten Erfahrungen. In ihrem Bemühen, einen aus der christlichen Religion überkommenen ethischen Grundsatz in diesem Sinne umzuwerten und ihm eine gesellschaftliche Bezogenheit für unsere Tage zu geben, geht Ana Blandiana von der Absicht aus, sich mit diesen gerade in der persönlichen Sphäre noch sehr wirksamen Normen auseinanderzusetzen. Das gilt auch für ihre späteren Gedichte, in denen die überschwenglich optimistische Stimmung einem skeptisch prüfenden, hier und da sogar elegischen Ton weicht. Denn die Dichterin entdeckt, daß es unmöglich ist, immer eine Entscheidung für das „Gute“ zu treffen, immer „rein“, das heißt integer, zu bleiben. Teils mit Bedauern, teils mit einer leisen, aber deutlich spürbaren Distanzierung von der selbstgesteckten Norm spricht sie in Gedichten wie „Ich weiß, die Reinheit“ und „Die Grenze“ von der Sinnlosigkeit einer solchen Forderung. Und „Das Kleingeld auf dem Tisch“ deutet, in eine alltäglich-banale Handlung gekleidet, die Konsequenzen einer solchen Verhaltensweise an: totale Tugend oder vollkommenes gesellschaftliches Wohlverhalten kann zur Isolierung führen. Hier setzt sich Ana Blandiana mit einem moralischen Perfektionsideal auseinander, das niemals der entscheidende Faktor für gesellschaftlichen Zusammenhalt sein kann.
Dennoch geht sie in keinem ihrer Gedichte über eine Distanzierung von dieser metaphysischen Gut-Böse-Auffassung hinaus. Sie erkennt zwar, daß beide in unserem Leben eng miteinander verbunden sind, aber sie gestaltet diesen Widerspruch nicht – wie etwa Alexandru oder Stănescu – als vorantreibendes Element der Entwicklung. So verharrt sie in einer Protesthaltung („Die alten Klausner“, „Intoleranz“) ohne einen konstruktiven dialektischen Gegenentwurf zu machen. Damit bleibt die künstlerisch so beeindruckende Lyrik Ana Blandianas weltanschaulich doch weitgehend dem verhaftet, was sie attackiert, das heißt einem mechanischen Dualismus von Gut und Böse und einem ethischen Perfektionsmodell. Der Schritt aus der Situation des „Nur-Suchens“ ist ihr noch nicht gelungen.
Es ist natürlich nicht möglich, über einen der hier vorgestellten Dichter ein endgültiges Urteil abzugeben. Betrachten sie ihr bisheriges Werk doch selbst als Durchgangsstadium zu neuen Erkenntnissen und Einsichten. Dennoch lohnt der Blick auf ihren Entwicklungsweg und ihren gegenwärtigen Standort. Denn er zeigt, daß die jungen Dichter Rumäniens vor ähnlichen Fragen stehen wie die Lyriker in der DDR, daß sie ähnliche Antworten geben oder auf der Suche nach Antworten die gleiche Richtung einschlagen. Ihre Lyrik zeigt, daß sie fest in der sozialistischen Weltanschauung verwurzelt sind, daß sie sich um praktisches sozialistisches Verhalten bemühen, indem sie den ungebrochenen Glauben an die menschliche Schöpferkraft, an das handelnde und mitgestaltende Eingreifen des Menschen in diese Welt darstellen.
Eva Behring, März 1974, Nachwort
wurden Gedichte von vier zeitgenössischen rumänischen Schriftstellern zusammengetragen, die vieles miteinander gemeinsam haben: Sie repräsentieren eine Generation, sie haben die gleichen Bildungschancen genossen, die sie auf geradem Weg zur Literatur führten, sie sind annähernd zur gleichen Zeit mit ersten Arbeiten an die Öffentlichkeit getreten. Und doch besitzt jeder von ihnen eine stark ausgeprägte Individualität, ein unverwechselbar eigenes künstlerisches Profil. Intellektuell unterkühlt, ironisch distanziert ist die Lyrik Marin Sorescus, dessen verspielte Phantasie nicht selten in eine groteske Weltsicht umschlägt; leidenschaftliches Empfinden, schöpferische Unrast und ständige Suche nach Erkenntnis prägen die Verse von Nichita Stănescu; Sinnenfreude und rustikale Naturverbundenheit sprechen aus den Gedichten des Siebenbürger Bauernsohns Ioan Alexandru, während Ana Blandiana eher überirdisch ätherische Bilder benutzt, wenn sie ihre Forderung nach Lauterkeit als ethisches Programm formuliert.
So reich die Skala der kontrastierenden Stimmungen, Töne und Klangfarben auch erscheinen mag, eines ist nicht zu übersehen: Hier stellen sich vier Dichter des sozialistischen Rumänien vor, die ihre Zeit bewußt leben, die sich zum handelnden und mitgestaltenden Eingreifen des Menschen in unsere Welt bekennen.
Verlag Volk und Welt, Klappentext, 1976
Interview von Vartan Arachelian mit dem Dichter Ioan Alexandru 1990.
Gesprächsporträt mit Nichita Stănescu.
Ana Blandiana liest beim 8. Internationale Poesiefestival am 17. Mai 2017 zum Musik- und Poesie-Marathon in der zentralen Universitätsbibliothek Halle I in Bukarest.
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