TREPPENGEDICHT
Bloß flüchtige Küsse,
Bloß Treppengenüsse.
Statt rosiger Süße
Bloß Schminke – mit Rissen.
Kein Märchen – das Wissen:
Nie mehr dich grüßen.
Bloß flüchtige Stöße
Im Treppengehäuse –
Die Stufen wie Flöße.
Bleibt man schlaflos bis tief in die Nacht,
Wird jede Treppe zum reißenden Bach –
Höllensturz…
aaaaaaaaaaa– fort mit den Kohlkopfresten!
Geht die Treppe stets nur abwärts – lästig!
Ist die Treppe gleich dem Leben? – Brunst!
Ort der Liebe? Ort der Abschiedskunst?
Von frischen Lippen hingerissen –
Und vergessen: gegrüßt, mein Liebster!
Abgefallen vom Rosenmund –
Nicht vergessen: leb wohl! Schluß! Na – und?
Bloß flüchtige Scherze
Auf brüchiger Treppe,
Auf ächzender Treppe.
(…)
Übersetzung 1992/1993
DIE TREPPE
– Poem –
Kurz gekost, geknutscht –
Die Treppe schwankt.
Kurz mal aufgeflammt
Ein Gesicht unter Putz.
Kurz im Märchenland:
Für morgen kein Gruss.
Kurz mal gerammt –
Die Treppe wankt,
Die Treppe drängt.
Wo nächtens keiner schlafen kann,
Wird jede Treppe – Wasserfall:
Höllenwärts…
aaaaaaaaaaaaaa– Kohlblätter überall!
Treppe nur für Abstieg von Belang?
Mehr für Abschied denn Begegnung!
(Leben – was? Mit Brunst gesegnet!)
Von Rosenlippen hingerissen –
Vergessen manchmal: sei gegrüsst!
Sind jene Lippen dann zerschlissen –
Gibt’s kein Verzeihn, man wird gebüsst…
Kurz mal gescherzt –
Die Treppe merkt’s,
Die Treppe ächzt.
(…)
Übersetzung 2018
Marina Zwetajewa zählt zu den schwierigsten Autoren der europäischen Moderne – schwer fällt allein schon die Lektüre ihrer hochkomplexen dichterischen Werke, noch schwieriger ist deren Verständnis, am schwierigsten wohl die Übertragung der russischen Originaltexte in eine fremde Zielsprache.
Wenn diese Texte gleichwohl weithin übersetzt und extensiv kommentiert worden sind, dann – vermutlich – eben deshalb, weil sie sich dem interpretativen Zugang so dezidiert verweigern. Der grösstenteils hermetisch verdunkelte Sinngehalt der Verse und Strophen wie auch ihre eigenartige, oft defizitär und forciert wirkende formale Ausarbeitung scheint in diesem Fall nicht abschreckend, sondern – umgekehrt – höchst anregend zu wirken: Die Schwierigkeit des Verstehens wird zum Faszinosum und provoziert um so mehr die Erschliessung, die Deutung, die Vermittlung eines Werks, dessen epochale Bedeutung zu erkennen, mindestens zu ahnen ist, obwohl es auf seiner Aussageebene weitgehend unzugänglich bleibt.
Denn wo die semantische Dimension eingeschränkt oder ausgeblendet wird, gewinnt oftmals die Sprachform – Syntax, Rhythmus, Assonanz, Homophonie, Binnen- und Endreim – eine sinnbildende Funktion. Ingeniöser sprachlicher Formalismus kann sich durchaus als „selbstredend“ erweisen, kann das begriffliche Textverständnis ersetzen durch die erhöhte und geschärfte sinnliche Wahrnehmung des melodisch organisierten Sprachmaterials. Höchste formale Künstlichkeit an der Grenze zur Bedeutungsleere beweist in manchen Fällen eine durchaus authentische Naturhaftigkeit.
Poetische Texte als Naturprodukte? Es gibt von der Zwetajewa eine grosse Zahl von Naturgedichten, Landschaftsgedichten, Meeresgedichten, Himmelsgedichten, Gartengedichten, die zu einem guten Teil als Paradiesgedichte zu lesen sind. Darin werden Macht und Wahrheit der Rede an Bäume und Sträucher, an Sterne und Steine, an die Luft, an das Licht – generell an die „Dinge“ – delegiert, deren angebliche Stummheit als die einzig authentische „Sprache“ gelten soll. überall ist die Dingweit selbstredend präsent: Im Feuer, zwischen Hammer und Amboss, singt das Erz; mit den Treppenstufen und in den Dielen knackt das Holz usf. Der Mensch besagt (benennt, beschreibt, definiert), um zu bedeuten; den Dingen gehört das reine, intransitive Sagen.
Diese vorsprachliche Magie der Dinge vergegenwärtigt Marina Zwetajewa an einem Objekt, das (fast schon „naturgemäss“) zur alltäglichen zivilisatorischen Erfahrungswelt gehört – die Treppe, die Haustreppe, das Treppenhaus in unterschiedlichster Ausgestaltung und Funktion. Diesem technischen Gebrauchsobjekt hat sie unter dem schlichten, ganz und gar unpoetischen Titel Die Treppe ein hymnisches Dichtwerk gewidmet, ein ausuferndes, vielstimmig instrumentiertes hermetisches Dinggedicht (alternativ auch als „Treppengedicht“, als „Poem von der Treppe“ betitelt).
Der definitive Text ist 1926 in St-Gilles-sur-Vie (Vendée) entstanden, wo die Autorin – sie lebte seit Ende 1925 im Pariser Exil – den Sommer verbrachte. Die grossangelegte Dichtung war ursprünglich geplant als „Erzählung darüber, wie die schwarze Treppe lebt und arbeitet“. Die Grundidee, die Treppe wie ein Lebewesen, ja als ein solches zu würdigen und zu feiern, blieb in der Folge erhalten – im Poem wird sie in ihrer Materialität, das heisst in ihrer „Leiblichkeit“, in ihrer vertikalen Struktur (als Wendeltreppe oder als Treppenhaus mit Knickstellen und Absätzen) vergegenwärtigt, als ein Organismus, der sich aus lauter natürlichen, jedoch künstlich und gewalthaft zugerichteten Gegenständen zusammensetzt.
Die Treppe scheint da und dort auch als verkappte Selbstdarbietung der Autorin, als Metapher für den konvulsivisch gegen Übergriffe sich zur Wehr setzenden weiblichen Körper, vielleicht auch als Dingsymbol für die Dichtung überhaupt zu fungieren. Darüber hinaus wird sie frei assoziiert mit der kapitalistischen Gesellschaftsordnung (Unter-, Mittel-, Oberschicht), mit dem Modell von Himmel und Hölle, mit einer Feuer- oder Jakobsleiter. Dieser ebenso weitreichende wie disparate Assoziationsraum wird im Text durchgehend präsent gehalten, wobei die Perspektive der Imagination und die des sprechenden Subjekts beziehungsweise des „lyrischen Ich“ ständig wechselt.
Die zahlreichen Stimmen, aus der die dichterische Rede sich speist, sind schwerlich auseinanderzuhalten, und die oftmals wechselnde Optik ergibt insgesamt so etwas wie ein Wimmelbild, dem zwar beliebig viele Details zu entnehmen sind, nicht aber ein kohärentes Gesamtbild des Treppenhauses, das sich letztlich wie ein multiperspektivisches kubistisches Kartenhaus ausnimmt.
Bemerkenswert bleibt, dass die Zwetajewa, die sich keiner Zeitgenossenschaft verbunden fühlte und für die das Dichtertum einer überzeitlichen Sphäre zugehörte, in diesem Poem deutliche sozialkritische Akzente setzt: Das klassenkämpferische Motiv vom Fressen und/oder vom Gefressenwerden ist hier ein vordergründiges Leitmotiv, wie übrigens auch dessen allgemeinere Fassung, wonach vorab das Fressen kommt und dann erst die Moral.
Gegenüber ihrer Brieffreundin S.N. Andronikowa-Galpern charakterisierte Marina Zwetajewa ihre Arbeit an der Treppe bildhaft wie folgt:
Habe mich wie zum Schwimmen auf ein grosses Poem eingelassen. Auf unerwartete Inseln und auf Strömungen unter Wasser. Da gibt es auch Riffe. Aber ebenso gibt’s Leuchttürme.
Und in Klammern fügte sie hinzu:
Das alles ist nicht metaphorisch gemeint, sondern ist exakte Wiedergabe.
Will heissen – „exakte Wiedergabe“, genauer: Übertragung der wortlosen Sage der Dingwelt.
Hierin liegt der Hauptgrund dafür, dass diese grosse Dichtung sich dem analogen Verständnis widersetzt oder entzieht: Was realiter in der selbstredenden Sprache der Dinge artikuliert wird, klingt wie eine Fremdsprache, bisweilen auch wie formelhaftes magisches Sprechen, will jedoch gleichzeitig „realistisch“, also faktisch und begrifflich aufgefasst werden. Boris Pasternak hat dem Poem denn auch zugute gehalten, dass es „jedes ausgesprochene Wort in seiner ganzen lyrischen Sinnfülle“ zur Geltung bringe.
Es mag sein, dass die extrem ungünstigen Entstehungsbedingungen des Treppenpoems – materielle Entbehrung, familiäre Probleme, dazu eine überanstrengte epistolarische Dreiecksbeziehung mit Rilke und Pasternak – zu der hermetischen Verdichtung und Verschlossenheit des Texts beigetragen, sie womöglich sogar bedingt haben. Denn die Not des Überlebens im Exil war für die Zwetajewa stets auch an Zeitnot gekoppelt, verursacht durch ihre Alltagsverpflichtungen als faktisch alleinerziehende Mutter zweier Kinder, durch private und behördliche Bittgänge, durch ständige Querelen mit ihren politischen und literarischen Widersachern im russischen Emigrantenmilieu: „Unsre Zeit“, notierte sie in einem ihrer Schreibhefte, „ist die Kürze.“
Äusserste Kürze – sprachliche Knappheit oft bis an die Grenze zum Stammeln oder zum Verstummen – ist das dominante Stilmerkmal des Treppengedichts und bietet eben dadurch ein kaum lösbares, dabei aber unausweichliches Problem für jede übersetzerische Bemühung um diesen Text. Die Autorin verzichtet fast durchweg auf den Gebrauch von vollständigen Sätzen beziehungsweise von nachvollziehbaren Aussagen zu Gunsten einer defizitären asyntaktischen Redeweise, die sich im Wesentlichen mit der Aufreihung einzelner Wörter, Wortverbindungen und kühner Metaphern begnügt. Das hat zur Folge, dass viele – die meisten – dieser sprachlichen Versatzstücke (darunter Ellipsen, Kürzel, Interjektionen, Eigennamen) ohne erkennbaren Kontext verwendet und damit bewusst der Vieldeutigkeit anheimgestellt werden.
Solcherart isolierte Worteinheiten und Wortgruppen geraten notwendigerweise in ein semantisches Flimmern, setzen also nicht bloss eine oder eine dominante Bedeutung frei, sondern präsentieren sich simultan in all ihren Bedeutungen. Da aber dieses Flimmern – man könnte es als semantische Aura bezeichnen – ein innersprachliches Phänomen ist und folglich in jeder Sprache auf eigene, andere Art vonstatten geht (das heisst – eine andere semantische Ausstrahlung hat), entzieht es sich zwischensprachlicher Übertragung.
Schon der Titel des Poems – Die Treppe – ist ein Beispiel für solche semantische Ambivalenz, da im Russischen der entsprechende Begriff („lestnica“) zugleich für die Leiter verwendet wird, eine Homonymie mithin, die das Deutsche nicht kennt. Doch nur so wird es möglich, das schmutzige Treppenhaus im Altbau mit der Jakobsleiter gleichzusetzen.
Erschwerend kommen im vorliegenden Poem zahlreiche Fremdelemente hinzu, die sich dem übersetzerischen Zugriff weitgehend entziehen, darunter Archaismen und kühne Wortneubildungen, Elemente der altrussischen Bibel- und Kirchensprache, Jargonismen und Kalauer sowie viele Zitate oder Paraphrasen aus der Folklore und Kunstliteratur. Zahlreiche Wörter können – nicht nur im Russischen – eine Vielzahl von Bedeutungen vertreten, darunter oftmals auch solche, die sich wechselseitig widersprechen oder einander ausschliessen.
Bei Marina Zwetajewa kommt nun aber, gerade in ihrem Treppengedicht, eine zusätzliche Schwierigkeit zum Tragen, bewirkt dadurch, dass ihre Wortsetzungen, also das Neben-, das Nacheinander einzelner Wörter nicht primär von ihrer Bedeutung, ihrem Bedeutungszusammenhang bestimmt sind, sondern von ihrer jeweiligen Klangähnlichkeit. Ein Gleiches gilt freilich auch für andere Dichter der europäischen Moderne seit Rimbaud und Lautréamont, für den deutschen Expressionismus, den französischen Surrealismus, den russischen Futurismus – dass „Klänge, sounds eher als Bedeutungswörter“ für die Wirkung bestimmend waren (wie einst Klaus Theweleit zu Gottfried Benn notiert), also „Wortkonglomerate, die in den Körper eingingen… nicht wie, sondern als eine Musik.“
Im vorliegenden Poem gibt es manche Verse, die bloss noch als Klangereignisse, nicht jedoch als Aussagen begriffen werden können: Bedeutungsmässig mögen sie nichtssagend oder absurd sein, derweil sie prosodisch beziehungsweise melodisch ihre unabweisbare Richtigkeit haben.
Beispielhaft dafür – gleichsam tonangebend – ist gleich schon der Beginn des Treppengedichts. Die ersten Strophen sind lautlich streng determiniert durch vielfache Wiederholung oder Variation des betonten Vokals „a“, der in immer wieder andern, aber ähnlich klingenden Wörtern auftritt, deren Bedeutungen weit auseinander liegen. Dazu gehört zunächst der elffache (!) Endreim, der einzig am Leitfaden der Lautqualität die folgenden Wörter gleichsam auf einen Nenner bringt: „laska“ (Kosung), „trjaska“ (Beben), „kraska“ (Farbe), „samaska“ (Kitt), „skaska“ (Märchen), „sdrawstwuj“ (Gruss), „s-chwatka“ (Rauferei), „schatka“ (wankend), „padka“ (erpicht), „spjat“ (schlafen), „wodopad“ (Wasserfall), „ad“ (Hölle) usw.
All diese (bedeutungsmässig unvereinbaren) Wörter setzt die Autorin zur anfänglichen Charakterisierung der Treppe ein, wobei deren Zusammenhalt allein auf Klangähnlichkeit beruht. Eine korrekte, der Bedeutung wie der Sprachform adäquate Verdeutschung dieser Vorgaben müsste für alle oben genannten Wörter eine deutsche Entsprechung aufbieten, also elf Vokabeln, deren betonte Silbe in jedem Fall auf ein „a“ lauten würde.
Beides jedoch, Semantik wie Melodik, verweigert sich solcher Anpassung und Korrektheit. Angesichts dessen bleibt dem Übersetzer nur eine Möglichkeit, nämlich die Verse nach dem Muster des Originaltexts in der Zielsprache nachzubilden, sie nachzubauen und dabei sowohl inhaltlich wie lautlich möglichst viel davon zu bewahren. Um dies zu erreichen, muss (wiederum auf beiden Ebenen) sehr viel geopfert werden.
Hier kommt es darauf an, die Aussageebene mit der Lautebene so zusammenzuführen, dass beide in ein einigermassen ausgewogenes Wechselverhältnis gelangen. Defizite auf beiden Ebenen sind allerdings unausweichlich, und sie lassen sich auch im optimalen Fall nur zu einem geringen Teil ausgleichen, etwa durch die Einführung zusätzlicher Vokabeln mit stark vom Original abweichender Bedeutung, dafür aber mit entsprechender lautlicher und metrischer Passform.
Dazu ein weiteres Beispiel:
Gleich einer Geige, einem Reigen,
Einer Notenbeige.
Leicht zu verheizen!
Diesen deutschen Verszeilen liegt der folgende russische Text (hier in Transliteration) zugrunde:
Kak skripka, kak sopka.
Kak notnaja stopka.
Rabotaet – topka.
Man braucht nicht zu verstehen, wovon die Rede ist, um zu erkennen, dass die kurze Strophe eine alle Zeilen umgreifende spezifische Intonation aufweist, die getragen ist von den Mitlauten „p“ und „k“ sowie den Selbstlauten „o“ und „a“ in mehrfach wiederkehrender, teils identischer, teils klangähnlicher Konstellation.
– Die einheitliche Intonation (damit das Verfahren der Klangbildung) wurde im Deutschen exakt nachvollzogen, nicht allerdings mit den vorgegebenen Lautelementen, sondern mit ,ein‘ > ,eiz‘ > ,eich‘ (zweimal) > ,eig‘ (dreimal). Der Effekt ist analog, die Bedeutung (Aussage) der Zeilen muss zugunsten der Klanglichkeit abgeändert, angepasst werden.
Gerade weil die Übersetzung dem Original niemals adäquat sein kann, sollte sie eigene poetische Qualitäten bieten, so etwas wie einen poetischen Mehrwert, der die übersetzerischen Defizite wenigstens partiell ausgleicht durch Qualitäten, die der Vorlage fehlen. Die Übersetzung sollte sich mithin als eigenständige produktive Überschreibung empfehlen können.
In diesem Verständnis sind die beiden vorliegenden deutschen Fassungen des Treppengedichts – andere scheint es bisher nicht zu geben – sicherlich keine perfekten Übertragungen, dafür aber mehr oder minder gelungene Nachdichtungen, die sich in der Zielsprache Deutsch als eigenständige Dichtwerke behaupten können. Mag sein, dass darin irrige Lesarten des Originals nachzuweisen sind – bei einem dichterischen Text dieses Schwierigkeitsgrads ist das (selbst für native speakers) ebenso unvermeidlich wie der formale Zwang, einzelne Wörter oder Wortverbindungen in der Übersetzung fortzulassen, andere hingegen neu einzuführen, und sei es bloss, um einen End- oder Binnenreim herzustellen.
Ein einziger, lediglich aus zwei Wörtern bestehender Vers mag diesen Sachverhalt exemplarisch belegen: „Otjel – kladut.“ (jambisch: x X – x X). – Otjèl (gegessen, Präteritum) – kladùt (legen, 3. Person Mehrzahl). Im Deutschen steht dafür keine exakte Übersetzung zur Verfügung. „Otjel“ kann gleichermassen heissen: ich habe, du hast, er hat (aus)gegessen (1., 2. oder 3. Person Einzahl); für „kladut“: sie legen oder man legt. Sinngemäss wäre zu extrapolieren: Kaum habe ich (hast du, hat er) ausgegessen, schöpft man mir (dir, ihm) gleich wieder nach. Doch wie sollte man dies in der Zielsprache gleichwertig, also in lediglich zwei Wörtern und mit Einsatz eines passenden Reims wiedergeben? Unsere Lösung:
„Kaum gegessen – Nachschlag, unverlangt.“
Das zusätzliche (interpretative) Wort unverlangt steht hier, um den Endreim auf „Gang um Gang“ zu bewerkstelligen. – Eingestandenermassen ist dem Original damit nur teilweise Genüge getan: Was in der Übersetzung erhalten bleibt, ist der Kreuzreim, ebenso die an dieser Stelle intendierte Bedeutung, nicht jedoch die metrische Knappheit. Hauptgrund dafür ist die Tatsache, dass das Deutsche für die Bildung der meisten Vergangenheitsformen ein Hilfsverb benötigt, derweil im Russischen die rudimentären Formen des Präteritums mehrheitlich kürzer sind als die jeweilige Grundform (Infinitiv).
Zum Reim – der für das Treppengedicht konstitutiv ist – bleibt zu präzisieren, dass er von Marina Zwetajewa in aller Regel in ungenauer, auf den silbentragenden Vokal reduzierter Lautung eingesetzt wird, in einer bloss so assonantischen (klangähnlichen) Art mithin, die in der deutschsprachigen poetischen Tradition bis heute als „unrein“, in der russischen aber, umgekehrt, als besonders „reich“ gilt. Wenn also in der Übersetzung vorwiegend unreine Endreime zum Einsatz kommen, hat dies durchaus seine Richtigkeit und ist keineswegs auf die Missachtung der originalen Reimqualitäten zurückzuführen.
Insgesamt allerdings erweist sich die Verdeutschung des Treppengedichts als ein Defizitgeschäft – semantische und klangliche Verluste konnten in der Zielsprache nur teilweise kompensiert werden durch analoge, teilweise zusätzliche Elemente. Die vorgängig aufgezeigten Probleme des Verstehens wie auch die formale Komplexität des Dichtwerks machen klar, dass eine adäquate, gar gültige Übersetzung in diesem Fall nicht zu leisten ist, selbst dann nicht, wenn eine lückenlose Auslegung des Originaltexts auf der Bedeutungsebene gelingen sollte.
Der Übersetzer selbst gibt offen zu Protokoll, dass er auch mit Beihilfe russischsprachiger Mitleser an manchen Stellen kein definitives Verständnis der Originalvorlage hat gewinnen können, dass also durchaus auch andere Lesarten und Übersetzungsvarianten ihre Berechtigung hätten. Unsere Neuübersetzung (angefertigt auf Grund des Prager Erstdrucks von 1926) kann und muss nicht in jedem Detail korrekt sein, sie soll aber insgesamt – nehmt alles bloss in allem! – dem Urtext entsprechen.
Um die Annäherung an den russischen Urtext auf einem ungewöhnlichen Umweg zu erleichtern, erscheint das Poem hier in zwei deutschen Fassungen, deren Entstehung rund ein Vierteljahrhundert auseinander liegt. Einer aktuell erstellten Fassung („Die Treppe“, Erstübersetzung 2018) wird eine im Wortlaut unveränderte, wenn auch sicherlich korrekturbedürftige frühere Version von 1992/1993 gegenübergestellt („Treppengedicht“; übersetzt nach M.Z., Stichotworenija i poemy, 1979). Mag ja sein, dass sich aus den beiden Fassungen eine dritte synthetisieren liesse, die dem Original noch besser gerecht würde?
Felix Philipp Ingold, Romainmôtier, im Juni 2018, Nachwort
in zwei unterschiedlichen deutschen Fassungen vorliegende Treppengedicht (ergänzt durch das Faksimile des Erstdrucks von 1926) gehört zu den Meisterwerken der Autorin, die dem russischen Langgedicht neue Impulse und unverwechselbare Prägung gegen hat.
Moloko Print, Klappentext, 2018
Jan Kuhlbrodt: Das Treppengedicht von Marina Zwetajewa
signaturen-magazin.de
Marina Iwanowna Zwetajewa, geboren 1892 in Moskau, gestorben 1941 in Jelabuga, Dichterin, Dramatikerin, Essayistin. Fast bin ich mit ihr befreundet, so viele Jahre habe ich mich lesend und übersetzend mit ihr beschäftigt, sie in imaginären Gesprächen um Rat gefragt. „Marinotschka, was wollten Sie mit diesem Vers sagen? Ich komme nicht weiter, beim besten Willen nicht. Und das Grübeln tut weh.“ Sie schwieg aus ihrem Jenseits. Oder schickte mir, völlig unerwartet, einen Wink. Eigensinnige Einzelgängerin, die sie ist.
Heute überlege ich, wie ich ihr begegnen würde. Zum Beispiel in Meudon, Clamart oder Vanves, Pariser Vororten, wo sie zwischen 1926 und 1938 als Emigrantin lebte.
Ich weiß, ihr Scharfsinn, ihre Schnelligkeit und ihr herrisches Temperament schüchterten ein. Dagegen wäre auch ich nicht gefeit. Würden wir, statt am bescheidenen Küchentisch zu sitzen, gleich spazieren gehen? Könnte ich mit ihrem männlichen Schritt mithalten? Wieviele Zigaretten würde sie unterwegs rauchen? Und würde sich unser Gespräch um Liebe oder Poesie drehen? Im Zweifelsfall um letztere. Denn Marina zog sie der wankelmütigen Passion vor.
Schreiben, Schreiben. Immer hinderte das Leben sie an dieser allerwichtigsten Sache. Drei Kinder, von denen das zweite, die kleine Irina, im Moskauer Bürgerkriegsjahr 1920 verhungerte. Ein kränklicher Ehemann, dem sie 1922 in die Emigration und 1939 zurück in die Sowjetunion folgte. Permanente Armut, Unbehaustheit, Verlorenheit zwischen allen Fronten. Weder politisch noch literarisch hatte sie ein Zuhause, „maßlos in einer Welt nach Maß“. Sie war stolz, unbeugsam, äußerst diszipliniert (das strenge Elternhaus, Moskauer Intelligenzija). Und bis zuletzt kämpferisch. Erst als Mann und Tochter im schicksalhaften Sommer 1939 vom sowjetischen Geheimdienst verhaftet wurden und sie nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion mit ihrem Sohn ins tatarische Jelabuga evakuiert wurde, wo sich die Schlinge des NKWD auch um sie zusammenzog, gab sie auf. Am 31. August 1941 nahm sie sich das Leben, knapp 49 Jahre alt.
„Wann schreiben Sie denn überhaupt?“, würde ich sie fragen, obwohl ich die Antwort aus ihren Briefen kenne. („In den frühen Morgenstunden, wenn die Familie noch schläft.“)
„Und der Schlaf?“ Dafür bleibe wenig Zeit, das Leben sei zu kurz für Erholung.
Sie kappt die Sätze, fällt in jähes Nachdenken. Vielleicht dichtet sie gerade. Oder es dichtet in ihr. („Ernsthafter werden wir auch beim Sterben nicht sein.“)
„Marina!“ Sie schaut mich an. Wachsam. Hinter der Wachsamkeit erkenne ich tiefe Müdigkeit. Aber es kommt keine Klage. Nur der Satz, sie müsse noch auf den Markt.
„Gehen wir zusammen.“
Sie, die beim Schreiben nie zu zögern scheint, wirkt in diesen Vorortstraßen seltsam verloren und geistesabwesend. Als folgte sie mechanisch einer Pflicht, genauer: als wäre ihr Körper völlig abgekoppelt von ihr selbst. Kartoffeln, Karotten, Milch, Brot, weil Sohn Murr gesunde Ernährung braucht. Ansonsten… „Hier bin ich überflüssig, dort – unmöglich.“ Ein bitteres Geständnis.
Der Mantel altmodisch, das Kleid abgetragen, nur die Bernsteinkette leuchtet gelb. An der Rechten zwei Armreifen, am Mittelfinger ein Silberring, dieser Schmuck begleitet sie seit ihrer Jugend. Als es noch Überschwang und Übermut gegeben hatte, unbändigen Lebensdrang. Und jetzt?
Für mich sein. Ein Kamtschatkabär
Ohne das Eis. Kann nicht dabeisein,
Kann nicht (wills auch nicht mehr).
Wo man sich beugen muss, mir gleich.
Von Heimweh will sie nichts wissen – eine „entlarvte Illusion“. Und hat damit so grausam recht behalten.
Mir ist es ganz egal,
Wo ich allein bin.
Eine Zeitlang gehen wir schweigend nebeneinander. Als ich sie nach Rilke frage, lebt sie auf. „Kennen Sie das Gedicht, das ich ihm gewidmet habe?“ Ich nicke. „Wir haben uns nie gesehen, es hat nicht sollen sein. Dabei…“ Dabei wäre die Begegnung zu einer Sternstunde geworden. Vielleicht.
In Gedanken rekapituliert sie die Tode. Der Mutter, da war sie erst vierzehn. Des Vaters, da war sie einundzwanzig. Der jüngeren Tochter, da war sie achtundzwanzig. Rainer Maria Rilkes, da war sie vierunddreißig. 1932 stirbt ihr väterlicher Dichterfreund Maximilian Woloschin, 1934 Nikolaj Gronskij und Andrej Belyj. Sie alle hat sie in Porträts und Erzählungen vergegenwärtigt, damit das Vergangene nicht vergangen und vergeblich sei. Mit Worten kennt sie sich aus.
Nur kein Abschied – schreib’s gleich nieder: keiner!
Aufs Papier die neuen Klänge, Rainer!
Trotz, Provokation, Kontra sind ihr wesensgemäß, dem Elegischen möchte sie sich verweigern. Wie schrieb sie doch einst mit selbstbewusstem Pathos:
Poet bleibe ich noch im letzten Röcheln vorm Ende!
Und jetzt? Gleicht ihr Leben nicht dem, das sie in fernen Bürgerkriegsjahren vorweggenommen hatte?
Baut einer kein Haus –
Spuckt die Erde vor ihm aus.
(…) Ich baute kein Haus.
Als sie Karotten, Kartoffeln und den ganzen Rest in eine große Tasche stopfe, verabschiede ich mich von ihr.
„Sie gehen schon? Dabei haben wir uns noch gar nicht unterhalten.“
„Ein andermal, Marina. Sie haben genug zu tun.“
„Genug vom Falschen“, sagt sie lakonisch. „Manchmal weiß ich nicht, wie ich aus dieser Mühle herauskomme. Ich glaube, ich muss die Wahrsagerin fragen.“
Das hat nicht geholfen.
Aber da sind die Verse, Verse. Diese unglaublich schmerzlichen und großartigen Verse. Nimm und lies.
Ilma Rakusa, aus Ilma Rakusa: Mein Alphabet, Literaturverlag Droschl, 2019
Als Marina eines Tages in der Straße der Drei Teiche stand, fand sie das heißgeliebte Haus ihrer Kindheit zerstört vor: Da es aus Kiefernholz erbaut war, hatte man es zur Gewinnung von Feuerholz niedergerissen. Sie sollte diesen Schock nie vergessen; noch Jahre später brauchte sie bloß die Augen zu schließen, um sich sofort der Ruinen des Hauses zu erinnern, das sie liebte. Inzwischen wohnten sie und Alja im Eßzimmer der Wohnung in der Boris-und-Gleb-Straße, und um diesen einen Raum zu heizen, mußten sie das Mobiliar der übrigen Zimmer verfeuern.
Immer, wenn sie an Irina dachte, war Marina von Schmerz gequält, und wenn sie sich vorstellte, daß Serjoscha möglicherweise getötet worden war, überlief sie ein Schauer. Sie und Alja waren nicht die einzigen, die in der von Hungersnot heimgesuchten Stadt Moskau ums Überleben kämpften. Als sie 1919 Boris Pasternak auf der Straße traf, war er gerade unterwegs, um wertvolle Bücher aus der Familienbibliothek zu Geld zu machen, um Brot kaufen zu können. Sie waren keine engen Freunde, doch sie sahen sich als Teil derselben Gemeinschaft von Dichtern.
Ihre politischen Ansichten wichen um diese Zeit erheblich voneinander ab. Die Februarrevolution hatte Boris mit Heiterkeit erfüllt, als sei „ganz Rußland das Dach abgerissen worden“. Obgleich die schönen Gedichte seines Buches Meine Schwester, Das Leben auf besondere Ereignisse des Revolutionsjahres kaum Bezug nehmen, sah er „auf Erden einen Sommer, der sich wiederzuerkennen schien – natürlich, urzeitlich, wie in einer Offenbarung“.1 Marina, welche die Sammlung Jahre später im Exil las, erkannte, wie nachdrücklich er diese Stimmung vermittelt hatte, „ohne sich vor der Revolution in einem der vorhandenen Keller zu verbergen“.
Obgleich Boris in einer Unterhaltung mit Marina während des Frühlings 1918 von seinen Plänen sprach, neben Lyrik auch Prosa zu schreiben, war er nicht eng genug mit ihr befreundet, um über die komplizierten politischen Aspekte der sich verändernden Lage mit ihr zu diskutieren. Sie hätten wohl kaum ein friedliches Gespräch geführt. Immerhin schrieb Pasternak noch im August 1920 an Valeri Brjussow, das Stadium der Revolution, das dem Herzen und der Dichtung am nächsten stehe, sei „ihr Morgen, ihre Explosion“, und anders als Juri in Doktor Schiwago zweifelte er bis dahin nicht an seiner Einstellung. Er blieb unerschütterlich dabei, obgleich er den ganzen Bürgerkrieg hindurch in einer Wohnung in der Wolkonka-Straße die drei schlimmsten Winter Moskaus mit Hunger, Krankheit und schrecklichem Brennstoffmangel erleiden mußte.
In einem Punkt hätten Marina und Boris vielleicht doch übereingestimmt: Im Lauf des Frühjahrs 1920 begann sich die Lage zu bessern, zumindest in Moskau. Marina erhielt von offizieller Seite eine Lebensmittelzuteilung, und das veranlaßte sie, ihre Schwester zur Rückkehr von der Krim nach Moskau zu ermutigen. Aus Woloschins Briefen wußte sie, wie verheerend dort die Lage war. Leichen dienten als Nahrung, nicht den Hunden, sondern den Hungernden. Im letzten Monat ihres Lebens, bevor sie an einem Emphysem starb, aß Pra Adlerfleisch.
Im Dezember hatte Marina durch den Romancier Ehrenburg vom Tod ihres Schwagers Boris erfahren; trotzdem schrieb sie an Assja, daß sie es ablehnte, dieser Nachricht zu glauben, sie rührte zu sehr an ihrem eigenen schlimmsten Kummer. Marinas einziger Trost angesichts des Ausbleibens jeglicher Nachricht, war ihr Glauben an Woloschins ständige Versicherung:
Mach Dir um Serjoscha keine Sorgen. Ich weiß, daß er lebt, und er wird am Leben bleiben.
Ihre Weigerung, an seinen Tod zu glauben, entsprach ihrem Bedürfnis nach Hoffnung. Und schließlich tauchten auch andere Freunde wieder auf, zwar krank, aber am Leben. Also schrieb sie:
Assja!… Komm nach Moskau. Du hast ein elendes Leben. Hier normalisieren sich die Dinge allmählich, doch dort, wo Du bist, wird das noch lange auf sich warten lassen. Wir haben genug Brot. Für Kinder gibt es häufig Zuteilungen; und wenn Du unbedingt eine Arbeit haben willst, könnte ich Dir (meine großartigen Verbindungen!) einen wunderbaren Posten verschaffen mit einer großen Lebensmittelzuteilung und Feuerholz. Davon abgesehen wärst Du ein Mitglied des „Palastes der Künste“ (früher das Palais Sologub) und bekämst drei anständige Mahlzeiten fast umsonst. Verzeih diese praktischen Dinge, aber ich will sie hinter mich bringen. Du wirst Dich in Moskau wohlfühlen; wir werden es schaffen. Sei dessen sicher.
Ich hasse Moskau, aber ich kann von hier nicht fort, weil es der einzige Ort ist, wo Serjoscha mich finden kann – wenn er noch lebt. Ich denke Tag und Nacht an ihn. Ich liebe nur ihn und Dich. Ich bin sehr einsam, obwohl ganz Moskau von Bekannten wimmelt… Alle diese Jahre habe ich immer jemanden an meiner Seite gehabt, aber trotzdem habe ich mich mit meinem Bedürfnis nach Menschen völlig verlassen gefühlt!2
Es war klar, daß die alte Lebensweise für immer dahin war:
Ich liebe nichts, außer dem, was ich in meiner Brust habe. Bücher sind mir gleichgültig; meine französischen habe ich allesamt verkauft. Was ich brauche, werde ich selbst schreiben!
Im selben Brief berichtet sie vom Besuch ihres Freundes Lann (den sie mit einer Überschwenglichkeit beschreibt, daß man an einen Liebhaber denken muß), der Geschenke und Nachrichten von Assjas Sohn, Andrjuscha, mitgebracht habe. Sein Besuch verstärkte das Heimweh, das beim Gedanken an ihre Schwester erwachte. Sie schrieb:
Assja! Ich warte auf Dich. Ich bin jetzt schon jahrelang allein (eine dicht bevölkerte Wüste). Wir müssen zusammensein. Du wirst Dich hier wohlfühlen.
Wie leicht das Sterben ist. Aber – sonderbar – während dieser Jahre habe ich mir Deinetwegen nicht die geringsten Sorgen gemacht (die höchste Form von Vertrauen!), ebensowenig wie um mich. Ich habe gewußt, daß Du am Leben bist.
Assja! Boris’ Tod hat mir eine Wunde zugefügt, die nie heilen wird. Es ist ein großer und schrecklicher Schmerz. Ich glaubte es erst, als Lann es mir bestätigte. Ich liebte Boris wie den Bruder, den wir nicht hatten. Ich schreibe tränenlos. Das wirst Du verstehen!
Der Brief enthält eine Reihe von Postscripta:
Assja, warte bis die Züge wieder fahren und schreib, wieviel Geld Du für Deine Abreise brauchst. Ich werde es schicken… Ich werde Dir jeden Tag schreiben. Verzeih mir, daß meine Briefe so kurz angebunden sind.
Alja ist nicht sehr groß; mager, hübsch – wie Psyche. Ihr Brief und ihre Gedichte lagen dem ersten Brief bei.
Gleich nach der Besetzung der Krim habe ich Max durch Lunatscharski ein Telegramm geschickt. Ist es wirklich nicht angekommen? Moskau ist ohne Gartenzäune (verfeuert) und voll von Plünderern und Dieben.
Wenn ich wüßte, daß Serjoscha lebt, wäre ich vollkommen glücklich. Ich brauche nichts, außer Euch beiden.
Jeder Bissen, den ich esse, bleibt mir im Hals stecken, und ich gräme mich, daß ich ihn Dir nicht schicken kann. Ich werde herauskriegen, wie ich Dir Geld zukommen lassen kann und werde es sofort abschicken. Laß den Gedanken nicht fallen, nach Moskau zu ziehen.
Liebe Küsse für Dich und Andrjuscha. Sein kleiner Brief hat mich gerührt.3
Marinas Brief an ihre Schwester zeigt, daß sie für das literarische Leben ringsum wenig Zeit übrig hatte, und sie spricht verächtlich von den Möglichkeiten, Versammlungen abzuhalten und Stücke aufzuführen, die das neue Regime anbot. Marina fand die Zuhörer so buntscheckig wie Zirkusclowns und klagte, daß man sie nur selten auftreten lasse und keine Zeile von ihr drucke, weil der Dichter Brjussow die Veröffentlichung aller Bücher kontrolliere.
Brjussow war einer der vier Dichter gewesen, die Abendalbum, Marinas ersten Gedichtband, besprochen hatten, und er hatte an vielen der Qualitäten Anstoß genommen, die Gumiljow so bestochen hatten, insbesondere an der Spontaneität des Ausdrucks, die er als schlampig bezeichnet hatte. Er wäre wohl kaum ein so erbitterter Feind geworden, hätte ihm das achtzehnjährige Mädchen seinerseits nicht einen wütenden Brief über seine Einstellung gegenüber Rostand geschrieben und ihm später ein Spottgedicht gewidmet, das ihn beschuldigte, blindlings der Mode nachzulaufen.
Trotz dieses unverhüllten Widerstreits war Marina nicht ganz vom Leben im Palast der Künste ausgeschlossen. Die vorzügliche Küche, die das Restaurant in späteren Jahren, als der Schriftstellerverband über mehr Geld verfügte, auszeichnete, gab es damals noch nicht, aber die drei täglichen spottbilligen Gerichte waren reichlich, und das Restaurant war bereits ein Ort, wo man sich treffen und mit Schriftstellern jeder politischen Richtung schwatzen konnte. 1920 wurde ihr gestattet, dort ihr Gedicht „Das Königsmädchen“ vorzutragen. Dieses Gedicht ist ein Volksmärchen in Versen, in dem man Elemente von Afanassjews Märchen ebenso findet wie das Motiv von Phaedras inzestuöser Liebe zu ihrem Stiefsohn Hippolyt. Die Heldin, eine kriegerische Frau, die in einen feinsinnigen Mann verliebt ist, merkt, daß er gleichzeitig durch seine Stiefmutter mittels schwarzer Magie umworben wird. Das Thema inzestuöser Liebe taucht im Schaffen Marinas während der 20er Jahre häufig auf.
Im Winter 1921 wurde Marina eingeladen, an einer Lesung „dichtender Frauen“ teilzunehmen, die Brjussow organisiert hatte; eine Klassifizierung, die Marina an sich als eine Beleidigung empfand, trotzdem erklärte sie sich einverstanden, an der Veranstaltung teilzunehmen. Als Brjussow sie alle mit schelmischen Hinweisen auf die einzige Fähigkeit der Frauen, über Liebe und Leidenschaft schreiben zu können, vorstellte, war ihre Wut vollkommen. Im Gegensatz zu den Rüschenkleidern der anderen Frauen, erschien Marina in einer Soutane mit Gürtel und grauen Pelzschuhen. Als sie an die Reihe kam, stieg sie auf das Podium und las Gedichte aus dem Lager der Schwäne, in denen das Lob der Weißen Armee gesungen wurde. Das war mehr als ein vorsätzliches Wagnis, wie Marina wohl wußte, und später sprach sie von „offensichtlicher Verrücktheit“:
Als ich etwas derart Verrücktes tat, hatte ich zwei, nein drei Ziele vor Augen: (1) Sieben weibliche Gedichte ohne Liebe und ohne das Pronomen ,Ich‘ (2) den Beweis, daß es sinnlos ist, vor einem Publikum Gedichte vorzutragen; (3) einen Dialog mit einem einzelnen, der mich verstand (und sei es ein Student); (4) und vor allem: die Erfüllung einer Ehrenpflicht, hier im Moskau des Jahres 1921. Und darüber hinaus, von allen anderen Zielen abgesehen, ein schlichtes, außerordentliches Gefühl der Herausforderung: was wird geschehen, wenn ich es tue?4
Zu den bedeutungsvollsten Lesungen, die sie besuchte, gehörten die von Alexander Blok. Marina hatte ihn immer glühend bewundert und 1916 begonnen, einen Gedichtzyklus für ihn zu schreiben. Sie verehrte sein Genie, das in ihren Augen das aller anderen lebenden Dichter übertraf.
Dein Name: Vogel in der Hand;
Dein Name: Eiskorn, der Zung eingebrannt,
Knappe Bewegung der Lippen, jetzt, hier:
Dein großer Name, Buchstaben, vier,
Aus dem Flug gefangenes Bällchen und
Die Silbersehelle innen im Mund.
Steine, geworfen in einen Teich…
Dich rufen: ihrem Aufseufzen gleich.
Näher und näher: dein Name verhallt
Im Klappern der Hufe nächtens im Wald.
Es nennt ihn metallisch das leise Klick
Des Hahns an der Schläfe –
Dein Name (ach, daß ichs missen muß!),
Dein Nam’: auf geschloßnen Augen ein Kuß,
Auf reglosem Lid, auf zartestem Weh;
Dein ruhmvoller Name: Kuß auf den Schnee,
Eisblauer Quell – Schluck aus Händen konkav.
Mit deinem Namen: Schlaf, tiefer Schlaf.5
Es war eine Begeisterung, die sie mit Antokolski während der Wochen intimer Freundschaft 1917 geteilt hatte, als er ein Gedichtbuch von Blok mitgebracht und ihr daraus vorgelesen hatte. Doch Blok selbst hörte sie erst 1920 aus seinen Gedichten lesen, und zwar zweimal binnen weniger Tage: einmal im „Palast der Künste“, ein zweites Mal im Polytechnischen Museum. Sie kannte ihn persönlich nicht, und wagte nicht, sich ihm vorzustellen, obwohl sie sonst alles andere als schüchtern war. Statt dessen schickte sie, als er im „Palast der Künste“ las, Alja mit einem Briefumschlag zu ihm, der ein paar ihrer Gedichte und einen Brief enthielt. Sie sollte später bereuen, diese Gelegenheit verpaßt zu haben.
Als sie und Alja zum „Palast der Künste“ kamen, schienen bereits alle rosafarbenen Samtsessel besetzt, und nur mit Hilfe Antokolskis fanden sie noch einen Platz, bevor Blok eintraf. Gerade als sie sich setzten, ging ein aufgeregtes Raunen durch die Zuhörer: Blok kam herein.
Die Aufregung des Publikums teilte er nicht. Seine Augen waren niedergeschlagen; sein Gesicht dunkelbraun, sein Mund unbewegt. In seinen Augen und auf seinen Lippen lag ein völlig toter Ausdruck, und seine Gesichtshaut schien über die Knochen gespannt zu sein. Zuerst las er ein Gedicht mit dem Titel „Verehrung“ über Byron und die jüngste Tochter einer altadligen englischen Familie, die von Byron bezaubert war. Das Publikum verlangte stürmisch „Die Zwölf“ zu hören, doch Blok weigerte sich: Dies war Bloks umstrittenes Gedicht, in dem Christus plötzlich an der Spitze eines Haufens von Raufbolden und Trunkenbolden auftaucht, welche die Standarte der Revolution tragen. Er könne es nicht lesen, sagte er ohne weitere Erklärung. Und das Publikum begriff, daß es ihm an Gesundheit und Kraft mangelte.
Marinas Erlebnis der Lesung im Polytechnischen Museum fand seinen Niederschlag in einem Gedicht, das am Ende ihres Zyklus „Gedichte für Blok“ steht:
Ein schwacher Strahl durch schwarze Höllenschwaden
Ist deine Stimme unterm Schall der Kanonaden.
Und wie ein Seraph unter Donnerschlägen
Aus fernen Nebeln her auf unsern Wegen
Erschienen, spricht sie dunkel, wie er hier
Uns, Blinde, Namenlose, liebte – für
Den blauen Mantel, Wortbruch, Fehltritt, Fall,
Und wie am innigsten – sie, die ins All
Der Nacht sich warf, zu wilder Tat getrieben.
Und wie er, Rußland, nie ließ, dich zu lieben…
Und mit dem Finger – ein verlorner Hirt –
Die Schläfe streicht… Und doch – was kommen wird:
Wie Gott sein Antlitz umkehrt, dich betrügend,
Du rufen wirst den Tag, der Nacht erliegend…
Wie ein Verurteilter in Einzelhaft
(Oder ein Kind, das seufzend spricht im Schlaf?) –
so hat sich uns – dem ganzen Straßenplan –
Dein heiliges Herz gezeigt und aufgetan.6
Die „empfindliche Mitte“, der unzerstörbare Geist von Marinas Gedichten war ein kranker Mann geworden, dessen Lebenskraft nachließ. Er starb im August 1921.
Unter den Dichtern, die Marina näher kennenlernte, war Konstantin Balmont. Sie waren einige Zeit Freunde gewesen: Er hatte zu den frühesten Kritikern gehört, die ihr Werk würdigten, und im ersten Jahr der Revolution hatten sie an denselben literarischen Abendveranstaltungen teilgenommen. Jetzt war er ihr für ihre gelassene Freundschaft dankbar. Er dauerte sie zu sehr, als daß sie heftigere Gefühle hätte entwickeln können. Sein Ruhm war im Schwinden. Vor der Revolution war er eine legendäre Gestalt gewesen, doch als die neue Regierung 1920 im „Palast der Künste“ ein Jubelfest für ihn veranstaltete, gab es nicht viel Beifall. Balmont war bereits gelbgesichtig, runzlig, hatte verschleierte Augen, eine zerklüftete Nase und ein sonderbares, verloren wirkendes Lächeln. Er machte keine Späße mehr, und er sprach mit einer kleinen Pause nach jedem Wort: das Feuer war verschwunden, der heitere Sinn getrübt. Das reichte aus, um Marina zur steten Freundin des sanften, hilflosen Mannes zu machen, der voller Liebe und Ergebenheit an seiner Frau hing. Elena begleitete ihn auf Schritt und Tritt: eine kleine, magere, lebensprühende Person mit riesigen violetten Augen, die ihn umsorgte und ihm jeden Wunsch von den Lippen ablas. Auch Marina half, sie wartete mit ihr in den Schlangen vor den Läden und spannte sich sogar selbst vor Aljas Schlitten, um Elena zu helfen, gefrorene Kartoffeln, Brennmaterial oder andere wichtige Dinge zum Hause der Balmonts zu transportieren. Noch in einem anderen Punkt war Marina großzügig: wenn sie ihre Ration von zwei Unzen Tabak erhielt, gab sie die Hälfte davon an Balmont weiter, und es kam vor, daß sie und Balmont, um Tabak zu sparen, wie Indianer abwechselnd aus einer Pfeife rauchten.
Die Balmonts wohnten zwei Schritte vom Arbat entfernt, in der Nähe des früheren Hauses des Komponisten Skrjabin, wo sie sich, so gut es ging, in einem großen Zimmer mit Fenstern zum Vorgarten eingerichtet hatten. Ihre Wohnung wurde von einem kleinen, rußenden Ofen geheizt, den Elena versorgte, während Balmont schrieb. Wenn er Marina besuchte, pflegte sie ihren kleinen Ofen mit ähnlicher Mühe zu heizen.
Als die Balmonts sich darauf vorbereiteten, ins Ausland zu gehen, zögerten sie verständlicherweise immer wieder und änderten ihre Meinung andauernd. So kam es, daß Marina und Alja sich zweimal von ihnen verabschiedeten. Als ihre Abreise zum ersten Mal bevorstand, gaben die Skrjabins ein Abschiedsfest, wo jedem Gast Kartoffeln mit Pfeffer (ein Luxus) vorgesetzt wurden und man echten Tee aus richtigen Porzellantassen trank. Am nächsten Tag jedoch gab es Schwierigkeiten mit den Visa für Estland, und die Abreise wurde verschoben. Die endgültige Abreise vollzog sich dann in einem unbeschreiblichen Durcheinander. In Wolken von Tabakrauch und Samowardampf verließen die Balmonts ihr Haus fast wie Zigeuner, die ihr Lager abbrechen. Dennoch kamen viele Freunde, um Lebewohl zu sagen, und Marina war die Fröhlichste von allen. Sie erzählte Anekdoten, lachte und brachte andere zum Lachen, als ob sie jeden Gedanken an die Trennung verscheuchen wolle. Es war eine Reise in die Emigration, von der die Balmonts nicht zurückkehren sollten.
Während dieser Jahre des Hungers und der Erschütterungen wurde Marina von offizieller Seite nicht schlecht behandelt, und im Winter 1921 machte sie die Bekanntschaft von P.S. Kogan, einem überzeugten Bolschewiken, und seiner Frau. Kogan meinte, kein guter Schriftsteller (selbst Andrej Bely, den er nicht schätzte) könne der Revolution feindlich gegenüberstehen. Er war unter den neuen Sowjetfunktionären einer der wohlwollendsten, und die Unterhaltungen mit ihm, die Marina später aufschrieb, zeigen, daß ihre Beziehungen zur neuen Regierung überraschend gut waren. Man hatte sie mit einer Lebensmittelkarte versorgt, und ihr Königsmädchen wurde zur Veröffentlichung angenommen. Ihre Sympathien für die Gegenseite, aus denen sie nie ein Hehl machte, nahm man hin, weil man der Ansicht war, daß Schriftsteller ein notwendiger Bestandteil der neuen sowjetischen Gesellschaft seien.
Im vergangenen Frühjahr war Marinas Schwester von der Krim zurückgekehrt und wußte von Leuten zu erzählen, die nur am Leben blieben, weil sie gekochtes Moos aßen. Obgleich abgemagert und zerlumpt, war Assja entschlossen, sich Arbeit zu suchen. Ironischerweise fand sie einen Posten in dem Museum, das ihr Vater gegründet hatte und das weiterbestand. Assjas Bemühungen bei den sowjetischen Behörden waren nicht so erfolgreich wie die ihrer Schwester. Zufällig hatte die neue Regierung als Direktor einen für das Amt kaum qualifizierten jungen Mann eingesetzt, der früher beiden Zwetajew-Töchtern den Hof gemacht hatte. Sie hatten ihn damals mit Verachtung behandelt, was sich jetzt rächte. Marina beschreibt, wie Anatoli, hinter dem Schreibtisch ihres Vaters sitzend, die beiden Schwestern empfängt und es nicht für nötig hält, aufzustehen, als sie eintreten; als Assja um einen Posten bittet, erwidert er brüsk, es sei keiner frei. Erst als sie ihn nachdrücklich darauf hinweist, daß in Anbetracht ihres besonderen Verhältnisses zum Museum wohl ein Posten zu finden sein müsse, verspricht er, darüber nachzudenken. Eine Woche später wurde ihr brieflich eine Stellung als außerplanmäßige Mitarbeiterin zu einem jämmerlichen Gehalt angeboten.
Während sie ständig von Todesfällen unter Freunden erfuhren, hörten sie von Serjoscha kein Wort. Als Ilja Ehrenburg im Herbst 1920 aus Koktebel zurückkehrte und Marina in „verzweifelter Einsamkeit“ vorfand, las er ihren Gedichtzyklus Lager der Schwäne und versuchte ihr klarzumachen, wie gänzlich anders sich ihre Helden der Weißen Armee verhalten hatten. Die Beweise dafür, daß sie unschuldige Bauern ausgeplündert und ermordet hatten, waren in der Tat überwältigend, und Marina mußte davon auch aus anderen Quellen erfahren haben. Aber sie weigerte sich hartnäckig, Berichten Glauben zu schenken, in denen von Ausschreitungen einer Armee die Rede war, der ihr zärtlich geliebter Serjoscha angehörte. Dieser „schwerfällige Charakter“, von dem Ehrenburg (in seinen Erinnerungen Menschen, Jahre, Leben)7 wehmütig spricht, machte es unmöglich, sie mit vernünftigen Gründen zu überzeugen.
Allmählich begann der Bürgerkrieg sich dem Ende zuzuneigen, aus dem die Bolschewiken als Sieger hervorgingen. Doch als man sich gerade auf den Frieden einstellte, zeichnete sich eine neue Bedrohung ab. Die Intelligenzija in Moskau und Petersburg (in Rußland immer mit Argwohn betrachtet) stellte plötzlich fest, daß ihr politischer Leumund sorgfältig unter die Lupe genommen wurde, und neben vielen anderen wurde auch der geschiedene Mann Anna Achmatowas, der Dichter Gumiljow, verhaftet. Die unheilschwangere Atmosphäre des August 1921 hat Nina Berberova eingefangen; sie beschreibt, wie jeder zum ersten Mal im Haus des Schriftstellerverbandes und im Haus der Künste in Petersburg lernte, zu flüstern.
Überall Schweigen, Warten, Ungewißheit. Dann kam der 24. August. Früh am Morgen, als ich noch im Bett lag, kam Ida Nappelbaum zu mir, um mir zu sagen, daß an den Straßenecken Mitteilungen hingen, in denen stand, daß alle erschossen worden seien… insgesamt zweiundsechzig Menschen. Dieser August war nicht nur „wie eine gelbe Flamme, wie Rauch“ (Achmatowa), er markierte eine Grenze.8
Wie viele andere spätere Emigranten, hatte Nina Berberova weder Achtung vor Zar Nikolaus II. noch den Wunsch, die Tyrranei oder Unfähigkeit seiner Regierung zu verteidigen, doch sie spürte, daß dieser August 1921 eine Grenzlinie bildete, die 200 Jahre legitimer politischer Bestrebungen von der geplanten Zerstörung der gesamten Gesellschaftsstruktur trennte, die folgen sollte.
Anna Achmatowa war eine Dichterin, deren überragendes Können Marina 1916 dazu angeregt hatte, einen Gedichtzyklus für sie zu schreiben, der von der Achmatowa so geschätzt wurde (die es gewöhnt war, zu loben, und zu stolz war, um sich schmeicheln zu lassen), daß sie die Gedichte auf all ihren späteren Wanderungen bei sich trug. Dennoch hätten die beiden Dichterinnen kaum verschiedener sein können. Zum einen war die Achmatowa eine anerkannte Schönheit, deren Eleganz und Stolz bereits von Modigliani in einer Zeichnung festgehalten war, und in die sich viele Männer verliebt hatten. Doch nur für Gumiljow empfand sie Liebe, die nie in gleicher Weise erwidert wurde, und sie bewahrte die Erinnerung an ihn als einen großmütigen, leidenschaftlichen Geist (die Liebhaber, die sie sich später wählte, sollten sich als viel herrschsüchtiger erweisen). Darüber hinaus war er der Vater ihres einzigen Sohnes. Als sie von seiner Hinrichtung erfuhr, überkam sie tiefe Verzweiflung:
Besser, wenn man rasch zum Platz mich führte
Und mich legte auf das Holzgerüst,
Wo ich unter Freudenschreien spürte,
Wie das Blut aus meinem Körper fließt.
An mein Herz drück’ ich das Kreuz voll Bangen:
Gott, gib meiner Seele Frieden bald!
Wie die Moderdüfte mich umfangen,
Aus den Laken weht es süß und kalt.9
Sie muß gespürt haben, daß sie selbst in Gefahr war. In Moskau begannen Gerüchte laut zu werden, sie habe sich das Leben genommen. Die Leidenschaft in Marinas Brief an Anna Achmatowa vom 31. August, in dem sie ihr ihre Treue versichert, ist von charakteristischer Rücksichtslosigkeit:
31. russischer August 1921
Liebe Anna Andrejewna!
All diese Tage waren düstere Gerüchte über Sie im Umlauf, mit jeder Stunde hartnäckiger und unwiderleglicher. Ich schreibe Ihnen das, da Sie es ohnehin erfahren werden – ich will, daß Sie es wenigstens wahrheitsgetreu erfahren. Lassen Sie mich Ihnen sagen, daß sich unter den Dichtern – meines Wissens – einzig Majakowski als Ihr Freund (ein Freund der Tat!) erwiesen hat, der mit der Miene eines erschlagenen Stiers durch die Dekors des „Poetencafés“ irrte.
Erschlagen vom Leid – er sah wirklich so aus. Er war es auch, der über Bekannte telegraphische Auskunft über Sie einholte, und ihm verdanke ich die zweite unermeßliche Freude in meinem Leben (die erste war die Nachricht über S., von dem ich zwei Jahre lang nichts wußte). Von den anderen Dichtern werde ich nichts berichten – nicht deshalb, weil Sie das bekümmern könnte: wer sind denn jene, daß Sie das kränken könnte? – ich habe einfach keine Lust, mir die Feder stumpf zu machen. Die letzten Tage habe ich – in der Hoffnung, etwas über Sie zu erfahren – im „Poetencafé“ zugebracht – was für Mißgeburten! was für armselige Gestalten! – was für Bastarde! Da gibt es alles: Homunkulusse und Automaten, wiehernde Pferde und Fremdenführer aus Jalta mit geschminkten Lippen…
Im folgenden gab Marina eine Schilderung von einem Wettstreit zwischen Dichtern, die als vollwertige Mitglieder des Schriftstellerverbandes betrachtet zu werden wünschten. Ungeduldig saß Marina dabei, bis sie schließlich Axjonow auf dem Podium eine Notiz zukommen ließ und um verläßliche Auskunft über das Schicksal der Achmatowa bat. Sein Nicken nahm sie als Zeichen, daß Anna am Leben war:
Liebe Anna Achmatowa,
um diesen meinen gestrigen Abend verstehen zu können, dieses Nicken Axjonows in meine Richtung, müßten Sie um die drei vorangegangenen – nicht beschreibbaren – Tage wissen. Ein fürchterlicher Traum: ich will aufwachen – und kann nicht. Ich wandte mich beharrlich an alle, flehte um Ihr Leben. Es fehlte nicht viel – und ich hätte wörtlich gesagt: „Meine Herren, machen Sie, daß die Achmatowa am Leben ist!“… Getröstet hat mich Alja: „Marina, Sie hat doch einen Sohn!“
Gestern, nachdem die Veranstaltung zu Ende war, bat ich Bobrow um eine Dienstreise: zur Achmatowa. Ringsum Gelächter. „Meine Herren! Ich werde zehn Abende hintereinander kostenlos lesen – und ich habe immer einen vollen Saal!“
Diese drei Tage (ohne Sie) existierte Petersburg für mich nicht mehr, und nicht nur Petersburg… Der gestrige Abend war ein Wunder:
„… zum lichten Wölkchen wird im Strahlenkranz.“
In Kürze werde ich eine Lesung über Sie machen – zum erstenmal in meinem Leben: ich verabscheue Vorträge, aber ich kann diese Ehre keinem anderen überlassen! Im übrigen ist alles, was ich sagen kann – Hosianna!
Ich schließe – wie Alja ihre Briefe an den Vater schließt:
Ich küsse Sie und verneige mich tief, M. Z.10
Vielleicht war Marinas Rückhaltlosigkeit auch dadurch zu erklären, daß ihre eigene Ungewißheit von ihr genommen war. Nur zwei Monate bevor Anna Achmatowa Gumiljow verlor, erhielt Marina von Ehrenburg die verläßliche Nachricht, daß Serjoscha am Leben war. Als einer der ersten Sowjetbürger, die ins Ausland reisen durften, hatte Ehrenburg im Frühjahr 1921 herausgefunden, daß viele Soldaten der geschlagenen Weißen Armee nach Prag gegangen waren und dort Studienplätze an der Universität bekommen hatten, darunter auch Serjoscha.
Sobald sie darüber Gewißheit hatte, beantragte Marina einen Ausreisepaß. Mirkin, Beamter im Volkskommissariat für Auswärtiges, bemerkte dazu:
Eines Tages wird es Ihnen leid tun, daß Sie gehen.
Ehrenburg, der die Anekdote erzählt, schreibt nichts von ihrer Antwort, doch später äußerte ihre Tochter, Marina habe Serjoschas wegen zwei Entscheidungen getroffen, für die sie bitter bezahlen mußte: Die erste war, ihm ins Exil zu folgen, die zweite, ihm vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wieder in die Sowjetunion zu folgen. 1921 jedoch gab es für Marina keinen Zweifel an dem, was zu tun war. Das Entsetzen, das sie in den kommenden Wochen empfand, resultierte aus der fast überwältigenden abergläubischen Furcht, ein bösartiger Zufall könne die Möglichkeit, auf wundersame Weise mit Serjoscha wiedervereinigt werden, zunichte machen.
Marinas Entschluß, die Sowjetunion zu verlassen, fiel mit dem Zeitpunkt zusammen, als ihre Dichtung bei dem neuen Regime eingeschränkte Zustimmung zu finden begann. In einem Brief vom 22. Januar 1922 an Evdoksija Fedorovna Nikitina schreibt sie, zwei ihrer längeren Gedichte stünden vor der Veröffentlichung, und es seien bereits zwei Millionen Rubel Vorschuß gezahlt worden.
Für ihre Entscheidung, ins Ausland zu gehen, gab es keine politischen Gründe, und es ist außerordentlich unwahrscheinlich, daß ihr die Ungeheuerlichkeit ihres Entschlusses oder seine unerbittlichen Folgen bewußt waren. Ehrenburg sagte von ihr:
In dem, was man Politik nennt, war Zwetajewa harmlos, halsstarrig und aufrichtig.
Am 1. Juli 1921, abends um zehn Uhr, erhielt Marina den ersten Brief von Serjoscha. Ihn hatte die Nachricht, daß Marina noch lebte, aus dem Gleichgewicht gebracht und er war außer sich vor Freude den ganzen Tag durch die Straßen gelaufen. Ihre gegenseitige Abhängigkeit war tief und wurde von beiden mit derselben Intensität erfahren: Marina brauchte vor allen anderen Dingen die Gewißheit, gebraucht zu werden und unersetzlich zu sein; und für Serjoscha stellte sie die einzige sichere und Zuflucht bietende Liebe dar, die er seit dem Tod seiner Mutter empfangen hatte. Serjoscha schrieb:
Unsere erste Begegnung war ein großes Wunder, und unsere bevorstehende wird ein noch größeres sein. Wenn ich daran denke, hört mein Herz vor Furcht zu schlagen auf, denn es kann keine größere Freude geben als die, die uns erwartet. Aber ich bin abergläubisch – also werde ich nicht davon reden…
All die Jahre unserer Trennung – jeden Tag, jede Stunde – warst Du bei mir, in mir. Aber das weißt Du natürlich schon.
Es ist schwer, über mich selbst zu schreiben. All die Jahre, die ich ohne Dich verbracht habe, sind wie ein Traum gewesen. Mein Leben ist in ,Vorher‘ und ,Nachher‘ geteilt, und das ,Nachher‘ ist ein schrecklicher Traum, aus dem ich erwachen möchte, aber nicht kann…
Was soll ich über mein Leben sagen? Ich lebe von einem Tag zum anderen. Jeder Tag ist ein Kampf, und jeder bringt unser Wiedersehen näher. Das letztere gibt mir Fröhlichkeit und Kraft. Ansonsten ist alles ringsum sehr schlimm und hoffnungslos. Doch ich werde Dir alles erzählen, wenn wir uns wiedersehen.11
Marinas Tagebuchnotizen aus dieser Zeit sind unzusammenhängend. Wie Serjoscha in seinem Brief andeutete, wuchs die Furcht, als die Möglichkeit eines Wiedersehens sich abzeichnete.
Doch selbst in dieser Lage schrieb sie weiter. Von dem Tag, an dem sie den Brief ihres Mannes erhielt, bis zum Tag ihrer Abreise im Frühling 19221 schrieb sie mehr als hundert Gedichte, darunter das lange Poem „Seitengäßchen“ (ein Gedicht von magischer Virtuosität, das die Geschichte eines Mädchens erzählt, das durch Zauberkraft Männer täuscht und verführt). Sie begann auch noch mit einem anderen längerem Poem: „Der Recke“. Alja berichtet in ihren Erinnerungen von Notizbüchern, gefüllt mit Unterhaltungen und Geschichten, die sie in der Straßenbahn, in Trödelläden oder beim Schlangestehen aufgeschnappt habe. Aljas Wunsch, Marinas erwachendes Interesse an den Arbeitern zu unterstreichen, hat möglicherweise politische Gründe, wie Karlinsky vermutet.
Kurz vor ihrer Abreise klopften Ossip und Nadeshda Mandelstam an ihre Tür. Marina war zwar entzückt, Ossip so unerwartet wiederzusehen, doch sie konnte es kaum über sich bringen, Nadeshda die Hand zu geben. Tatsächlich benahm sie sich, wenn man dem Bericht von Madame Mandelstam Glauben schenken darf, mit abscheulicher Grobheit, indem sie zu Mandelstam sagte:
„Komm, gehn wir zu Alja“, und ohne Nadeshda anzusehen, fügte sie hinzu:
Und Sie, Sie können ja hier warten – Alja kann keine fremden Leute ertragen.
Mit entsprechend sarkastischer Distanz wird in Madame Mandelstams Erinnerungen die totale Unordnung in Marinas Zimmer beschrieben:
Wie all die ehemals besseren Wohnungen war auch diese dem Staub, Schmutz und Verfall anheimgegeben, und trotzdem lag so etwas wie ein Zauber über dem Ganzen. An den Wänden hingen dicht an dicht selbstgenähte Tiere aller Art, und altmodisches Spielzeug, mit dem zweifelsohne alle drei Zwetajewa-Schwestern in ihrer Kindheit gespielt hatten, füllte in einem unbeschreiblichen Wirrwarr den ganzen Raum. Dazu ein großes Bett mit einer nackten Matratze und ein hölzernes Schaukelpferd. Ich dachte unwillkürlich an irgendwelche Riesenspinnen, die unsichtbar in der Dunkelheit lauerten, an tanzende Mäuse und weiß Gott was für Ungeziefer, und meine ingrimmige Wut trug dazu bei, diesen Eindruck noch zu verstärken.12
Als für Marina und Alja die Zeit der Abreise näherrückte, bewohnten sie drei Räume: das Eßzimmer, das Kinderzimmer (was das Spielzeug und das Schaukelpferd erklären mag) und Marinas Zimmer. Alja beschreibt, wie sie den letzten Tag in Moskau voller Schmerz mit Packen verbrachten. Es gab so viele Dinge, die sie zurücklassen mußten. Einige davon waren Marina außerordentlich teuer – nicht als Gegenstände, sondern weil sie durch und durch mit Erinnerungen verbunden waren. (Marinas Schwester hatte die Vollmacht, soviel sie konnte, mitzunehmen.) Da waren Lieblingsbücher, Porträts von Serjoscha, die Spieldose, die Marinas Mutter gehört hatte, die Photographien von Marina und Serjoscha in ihrer Jugend, Marinas Tagebücher aus der Kinderzeit.
Alle wertvollen Sachen, die sie mitnahmen, wurden in einem der Notizbücher Marinas aufgelistet; in Aljas Handschrift sind ein paar zusätzliche Dinge aufgeführt:
Bleistiftkästchen mit dem Porträt von Tuschkow IV
Tschabrows Tintenfaß mit dem kleinen Trommler
Der Teller mit dem Löwen
Serjoschas Glasbehälter
Aljas Porträt
Nähkasten
Bernsteinhalsband
(In Aljas Handschrift)
Meine Pelzstiefel
Marinas Stiefel
Die rote Kaffeekanne
Die neue blaue Schale
Primuskocher mit Zubehör
Samtlöwe13
Der „Teller mit dem Löwen“ war aus Porzellan und hatte eine goldbraune Bemalung, die „den König der Tiere mit dem Antlitz von Max Woloschin“ darstellte; der silberne Glasbehälter Serjoschas war ein Hochzeitsgeschenk gewesen. Marina entschied sich auch dafür, einen Plüschteppich – das letzte Geschenk ihres Vaters –, ein paar handgefertigte Spielzeuge und, ein wenig überraschend, eine sowjetische Fibel mitzunehmen; darin waren Karikaturen von Lenin abgebildet, der eine Schürze trug, und o-beinige imperialistische Feinde, die in einen Graben flohen. Die aufgelisteten Gegenstände waren ihr heilig, und mit Ausnahme eines Stückes sollte sie sich während all ihrer Wanderungen nicht von ihnen trennen, bis sie sie 1939 wieder mit in die Sowjetunion brachte. Das ungefüge Bernsteinhalsband wurde lange danach während eines Hungerwinters in der Nähe von Rjasan von Alja gegen Brot eingetauscht.
Der Schauspieler Podwatschewski-Tschabrow, dessen Tintenfaß auf der Liste stand, packte zur gleichen Zeit wie Marina seine Habseligkeiten, um ins Exil zu gehen, und er half ihr am Tag der Abreise. Marina mochte Tschabrows Scharfsinn und seine Fähigkeit, den allergrößten Katastrophen eine heitere Seite abzugewinnen. Freilich schloß der große Unterschied in der Lebensweise mehr als eine heitere Kameraderie aus, wie sie ein wenig traurig in einem Brief an Ehrenburg betont:
Er ist ein Edelmann, der fähig ist, ein verwöhntes Leben zu führen – dagegen ich? Was bin ich? Nicht einmal ein Bohemien.14
Nichtsdestotrotz konnten sie beide ihre Späßchen über den Aufwand machen, der nötig war, um ins Exil zu gehen.
Der Augenblick der Abreise kam. Marina saß in einer Droschke, ihre Tochter auf dem Schoß, ihr Gepäck zu Füßen, und sie bekreuzigte sich, als sie an der vertrauten weißen Boris-und-Gleb-Kirche vorüberkamen. Sie forderte ihre Tochter auf, es ebenfalls zu tun. Das war ihre Art, von Moskau Abschied zu nehmen, und jede Kirche, an der sie vorbeikamen, grüßte sie auf diese feierliche Weise.
In die Trauer des Abschieds mischte sich ihre entsetzliche Angst, so daß sie sich auf dem ganzen Weg Sorgen machte, sie könnten den Zug verpassen. Sie waren pünktlich. Alles war in Ordnung. Es gab kein Gedrängel und kaum Lärm. Alja erinnerte sich, daß sie das Abteil mit einer anspruchslos gekleideten Dame teilten, die an Krücken ging; offenbar hatte sie im Bürgerkrieg ein Bein verloren und wurde zur Behandlung ins Ausland geschickt. Tschabrow gab Alja für die Reise ein hübsch verpacktes Päckchen, das eine Bonbonniere enthielt. Alja notierte, daß Marina ihr die Büchse, bevor sie auch nur einen Blick auf die NEP-Brünette15 auf dem Deckel werfen konnte, aus der Hand nahm und sagte:
Wie hübsch! Die werden wir Papa mitbringen.
Tschabrow verkündete ihnen auch die Neuigkeit, daß Isadora Duncan in ihrem Waggon reisen werde. Diese aufregende Nachricht erwies sich als falsch, wie sich herausstellte, als der Zug abfuhr. Sie mußten sich mit Miss Duncans Begleiterin begnügen, die ihrer Herrin bei der Ausreise aus der Sowjetunion folgte und die acht gewichtigen Reisekoffer der berühmten Tänzerin in ihrer Obhut hatte. Diese enthielten offenbar hauptsächlich die gebrauchten Andenken an Rußland: ausgetrocknete Tuben, Schürhaken ohne Zinken und zerfetzte Bastkörbe – eine Ansammlung von Plunder, der die zahlreichen Zöllner in Erstaunen versetzen sollte, die unterwegs den Zug kontrollierten.
Alja erinnerte sich an die drei Glockenschläge, die ertönten, als der Zug sich in Bewegung setzte:
So verließen wir Moskau, unbemerkt, als wären wir plötzlich zu einem Nichts geschrumpft.
Was an diesem traurigen Bericht vom Abschiednehmen besonders auffällt, ist die Abwesenheit von Marinas literarischen Freunden aus dieser Zeit. Immerhin galt das Verlassen des Landes noch nicht als Vergehen. Hatte man vielleicht schon das Gefühl, es könne gefährlich sein, zum Bahnhof zu kommen und Lebewohl zu sagen? Es stimmt zwar, daß Freunde in die Wohnung gekommen waren, um sich zu verabschieden (zum Beispiel eine von Woloschins Töchtern), doch es handelte sich zum größten Teil um flüchtige Bekannte. Das letzte freundliche, hilfsbereite Gesicht, das Marina in Moskau sah, war das von Tschabrow, ein ritterlicher Aristokrat, den selbst in Bälde das Exil erwartete.
(…)
Elaine Feinstein, aus Elaine Feinstein: Marina Zwetajewa. Eine Biographie, Frankfurter Verlagsanstalt, 1990
Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa
Zwiesprachen VI: Katharina Schultens spricht über Marina Zwetajewa am 24.1.2016 im Lyrik Kabinett, München
Katharina Kohm: Die Begegnung an der Naht. Zu der Vortragsreihe Zwiesprachen VI: Katharina Schultens über Marina Zwetajewa am 25.1.2016 im Lyrik Kabinett
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MARINA ZWETAJEWA
Skizzen von Komarowo
O Muse des Weinens…
M. Zwetajewa
… Von allem bin ich hier weit fort –
Von dem, was die Welt uns bietet.
Der „gute Geist“ an diesem Ort
Ist ein knorriger Ast, der ihn hütet.
Alle sind wir beim Leben zu Gast,
Gewohnheit nur ist das Leben.
Auf Luftwegen hörte ich, schien es mir fast,
Zwei Stimmen, die riefen sich eben.
Zwei? Aber dort, an der östlichen Wand,
Mitten in Himbeertrieben,
Der dunkle frische Holunder stand
Ein Brief, von Marina geschrieben.
19.–20. November 1961 · Leningrad, Krankenhaus im Hafenbezirk
Anna Achmatowa
Übersetzung: Kay Borowsky
1. Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung 2005 an Felix Philipp Ingold.
Jan Kuhlbrodt: Versuch über Ingold
poetenladen.de, 28.10.2012
Jan Kuhlbrodt: Vom Abtragen der Monumente oder das Wesen der Chronologie
Ulrich M. Schmidt: Das Leben als Werk
Neue Zürcher Zeitung, 25.7.2012
Magnus Wieland: Der Autor, der die Autorschaft hinterfragt
Berner Zeitung, 25.7.2022
Bettina Wöhrmann: Der Granatapfelkern Persephones
Ostragehege, Heft 64, 2011
Doris Liebermann: Vor 75 Jahren – Dichterin Marina Zwetajewa gestorben
Deutschlandfunk Kultur, 31.8.2016
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