Marina Zwetajewa: Gedichte • Prosa

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Marina Zwetajewa: Gedichte • Prosa

Zwetajewa/Gontscharowa-Gedichte • Prosa

DER DICHTER

1

Poet – aus Fernen führt er her die Rede.
Poet – die Rede führt ihn fort in Fernen.

Planetenschrift, der Zeichen Drift – mäandernd
Die Gleichnis-Landfahrt… zwischen Ja und Nein −
Vom Glockenturm sich schlagend – zwingt des
aaaaaandern
Tons Bogen er… Kometen-Flug heißt sein

Spazierpfad. Glieder, aus der Reih gerissen
Der Gründe, heißt – verbunden! Blickt empor,
Verzweifelt! Seiner Sonnen Finsternisse
Sieht kein prognostischer Kalender vor.

Er ist’s, der durcheinanderwirft die Karten,
Er, der Gewicht und Zählung fälscht und Geld,
Er ist’s, der aus der Schulbank Fragen startet,
Der Kant aufs Haupt schlägt, auf den Kopf ihn stellt.

In Kerker eingesargt, entfaltet
Baum-schön des Baumes Bildnis er…
Er, dessen Spuren immer kalt sind,
Er ist der Zug, der abfährt, leer,
Den jedermann versäumt…
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaKometen-Flug,

Poeten-Flug: er brennt, doch ohne Wärme,
Pflückt ab, doch zieht nicht auf – er sprengt, bricht ein!
Die Bahn, gekrümmt, geschweift, Poet, dein Schwärmen
Trägt kein prognostischer Kalender ein!

8. April 1923

2

Sie sind, die übrig sind, erläßlich
(Und der Gesichtskreis schließt sie aus),
Nicht aufzählbar für euer Welt-Adreßbuch:
Das Abfalloch ist ihnen – Haus.

Sie sind die nackt Gebliebenen, Verjagten,
Stumm euch wie Mist, und wortlos – Vieh,
Sind eurem seidenen Saum – ein Nagel!
Den Räderwurfdreck ekeln sie.

Sie treten in den Schein, nicht in Erscheinung.
(Ihr Signum: Lepraschuppen, Grind!)
Die Welt hat Hiobs, die des armen einen
Jobs ärmere Neider sind:

Poeten – wir −, auf Parias das Reimwort!
Und über ihre Ufer-Wand
Aufsteigend: Gott den Göttinnen entreißen!
Die Jungfrau aus der Götter Hand!

22. April 1923

3

Sagt schon, was bleibt mir Stiefbalg und Blinden
In einer Welt, die Augen und Väter bescheint,
Wo über Flüche, wie Straßen, hinweggeht
Das Grauen! Erkältet gilt, der weint!

Sagt schon, was bleibt durch Rippe und Schicksal
Sängerin! Wie Trunksucht! Sibirien! Brand!
Brücken sind meine Gesichte! Gewichtlos,
Wo Wägstücke lauern in jeder Hand.

Sagt schon, was bleibt mir Sängerin und Ersten
In einer Welt, die im Grau ihr Schwarz vergaß!
Wo Einfälle in Thermosflaschen krepieren!
Maßlosigkeit in einer Welt nach Maß?!

22. April 1923

Übersetzt 1 + 2 von Elke Erb, 3 von Richard Pietraß

 

 

 

Unglück im Unglück

– Zu einem Gedicht Marina Zwetajewas. –

Statt mich langwierig zu erinnern, was sich wann und warum zu meiner schwierigsten Übersetzung eines Gedichts auswuchs, wage ich die Rolle rückwärts zu meinen Anfängen. Mit ihr lande ich im Jahr 1974, dem Erscheinungsjahr meines Poesiealbums. Meine unbändige Freude auf dies schmale Heft, das mein Debüt wurde, doppelte sich durch die mich zugleich ehrende wie beschwerende Einladung Fritz Mieraus, für ein Album Marina Zwetajewas (1892–1941) ein Gedicht zu übertragen, das, wie ich bald bemerkte, ein Füllhorn von Schwierigkeiten barg. Es handelte sich um das Schlußgedicht des dreiteiligen Zyklus Der Poet von 1923, dessen ersten Teile, wie ich mit Erscheinen des Heftes erfuhr, Elke Erb anvertraut waren. In ihm beginnt die dreißigjährige, seit einem Jahr im Prager Exil lebende Dichterin:

Poet – aus Fernen führt er her die Rede.
Poet – die Rede führt ihn fort in Fernen.

Das – zwei Wochen später geschriebene – mittlere Gedicht setzt ein:

Sie sind, die übrig sind, erläßlich
(und der Gesichtskreis schließt sie aus),
nicht aufzählbar für euer Welt-Adreßbuch;
Das Abfalloch ist ihnen – Haus.

In Unkenntnis dieser beiden galt mir das dritte als gänzlich selbständiges Ars poetica-Gedicht, das ich mit Dichterin überschrieb. Als felsenfeste Basis genoß ich erstmals die ob ihrer Akribie und ihres Variantenreichtums gerühmten Interlinearübersetzungen Oskar Törnes. Da ich diese nicht mehr zur Hand habe, folgt dem Original hier meine nachträgliche Rohfassung, damit ermeßbar wird, was ich, in Echo-, Spiegel- und Analogiesucht, versuchte, erreichte und schuldig blieb.

 

 

Interlinearübersetzung

3

Was bleibt mir zu tun, mir Blindem* und Stiefsohn* *(männliche Form!)
In einer Welt wo jeder ,bevatert‘  u n d  ,sehend‘ ist,
Wo über Flüche/die Verwünschten wie über Mahlgut/ Schüttgut/ Dämme hinwegfegen
Die Schrecken! Wo ein Schnupfen
Genannt wird – das Weinen!

Was bleibt mir zu tun, durch (Adams-)Rippe und Vorsehung/ Handwerk
Der Sängerin!    Wie Abschied! Trunksucht! Sibirien!
Mit meiner Sinnestäuschung/meinen Gesichten – wie über eine Brücke!
Mit ihrer Gewichtlosigkeit/ Unwägbarkeit
In der Welt der Gewichte.

Was bleibt mir zu tun, dem Sänger* und Erstgeborenen* *(männliche Form)
In einer Welt, in welcher der Schwärzeste – grau ist!
Wo man Eingebung/ Inspiration aufbewahrt/ hütet, wie in Thermosflaschen!
Mit dieser Maßlosigkeit
In der Welt der Maße?

Als kaum Dreißigjähriger einer eben Dreißigjährigen das Kreuz ihres Jahrhunderts von den wunden Schultern zu nehmen, schien meine brüderliche Aufgabe. Ich habe mich gebückt und es Millimeter Richtung unsres Horizonts gerückt. Mag es verwaist stehen und von ihr zeugen, der hochgemuten Freundin Rilkes und Pasternaks, der, mit ihren Nächsten, weder in Rußland noch Deutschland, Prag noch Paris, und zuletzt in Stalins Schlangengrube zu helfen war.

DICHTERIN

Sagt schon, was bleibt mir Stiefbalg und Blinden
In einer Welt, die Augen und Väter bescheint,
Wo über Flüche, wie Straßen, hinweggeht
Das Grauen! Erkältet gilt, der weint!

Sagt schon, was bleibt durch Rippe und Schicksal!
Sängerin! Wie Trunksucht! Sibirien! Brand!
Brücken sind meine Gesichte! Gewichtlos,
Wo Wägstücke lauern in jeder Hand.

Sagt schon, was bleibt mir Sängerin und Ersten
In einer Welt, die grau ihr Schwarz vergaß!
Wo Einfälle in Thermosflaschen krepieren!
Maßlosigkeit in einer Welt nach Maß?!

Richard Pietraß, in Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen, 24. Jahr, 1. Heft, 2016

 

Marina Zwetajewa lesen

Kein russischer Dichter hat sich so sehr selber erfinden müssen wie Marina Zwetajewa. Tochter, die ein Sohn sein sollte. Dichter, in dem man die Poetessa lieber sah als den Poeten.
Als Sohn erwartet und als die unerwünschte Tochter zur Pianistin bestimmt (dem Wunschleben der Mutter), erträumt sie sich phantastische Adoptionen: durch einen Teufel im Zimmer der Stiefschwester, durch Altgläubigen-Nonnen in Tarussa, dem mittelrussischen Sommersitz der Familie, durch eine Tante in der Schweiz. Daß man eine Poetessa vor sich habe, war ein Gemeinplatz der beginnenden zwanziger Jahre. Ossip Mandelstam, konnte sich nicht fassen vor Entrüstung über die „Muttergottesstrickereien“ der Zwetajewa; ihr ganzes Moskau sei erlogen, bestenfalls unfreiwillige Parodie und überhaupt gebe es nur eine Frau, die mit dem Recht einer neuen Muse in den Kreis der Poesie getreten sei – die russische Wissenschaft von der Poesie, wie sie jetzt in der Formalen Schule von Eichenbaum, Shirmunski und Schklowski an Kraft gewonnen habe. „Zigeunerlyrismen“ sagt Majakowski. „Kleine Welt“, sagt Leo Trotzki: „Sie umfaßt die Dichterin selbst, einen Unbekannten mit Melone oder mit Sporen und – unvermeidlich – Gott, ohne besondere Kennzeichen.“ Valeri Brjussow, der Symbolist und frühe Förderer der Zwetajewa, will die Verkennung steuern, worauf kommt er? Auf einen Abend der Poetessen, von ihm präsidiert. Noch als Boris Pasternak 1926 Rilke auf Marina Zwetajewa aufmerksam macht, weiß er nur Marceline Desbordes-Valmore, die französische Romantikerin, zum Vergleich zu empfehlen.
Und das einer Frau, die ein „Wunder an Verstehen“ erwartet. Das Wunder zwischen „Ich küsse immer – als erste“ und „Zwischen uns – die Doppelklinge“. In ihrer „Erzählung von Sonetschka“, ihrer Geliebten während des Kriegskommunismus in Rußland, gibt es eine Stelle, die keiner der Sprecherinnen ausdrücklich zugewiesen ist, beide könnten sie sprechen:

Vor allem aber, ich küsse immer als erste, einfach so wie ich die Hand gebe; nur – unwiderstehlicher: Ich kann es einfach nicht erwarten! Danach, jedes Mal: Wer treibt dich bloß? Du bist selber schuld! Ich weiß genau, daß das niemandem gefällt, daß sie alle gern demütig tun und scharwenzeln, eine Gelegenheit abpassen, hinterherrennen, Jagd machen… Vor allem das – ich kann es nicht ausstehen, wenn der andere als erster küßt. Jedenfalls weiß ich, daß ich das will.

Aber dann „Die Klinge“:

Zwischen uns – die Doppelklinge,
Treueschneide – auch im Geist…
Aber der Bruder, herzbezwingend?
Und die Bezaubrung, die Schwester heißt?
……………………..
Zwei Seiten geschärft – und schneidet?
Es vereint! Zerreiß, Schwert, das Kleid,
Und, Wunde zu Wunde, Bein zu Beine,
Zueinander uns, drohender Wächter, befreit!

Marina Zwetajewa erfand das „ewige Paar der Sich-Nie-Begegnenden“. So bezeichnete sie 1929 (in deutsch) ihr Leben, das sie mit den Männern und Frauen ihrer Liebe lebte. Die Irritationen waren ungeheuer, beginnend bei ihrem Mann Sergej Efron, der nicht ahnte, wem er zugefallen war und endend bei Tanja Kwanina, ihrer letzten Liebe in Moskau, die auch nachdem sie die „Erzählung von Sonetschka“ gelesen hatte, nicht begriff, wie sie geliebt wurde. Das Wunder blieb aus und der eine, von dem Marina Zwetajewa sagt, er sei der einzige gewesen, der gewußt habe, wie sie geliebt sein wolle, Nikodim Plutzer-Sarna, ihr Geliebter im Sommer 1916, ist verschollen.
Heftig und innig, Usurpation und Verzicht, beides in einem – darauf war keiner gefaßt. Als es 1940 zu Begegnungen mit Anna Achmatowa kam, war die Achmatawa, die in den Gesprächen meist geschwiegen hatte, von der ungebrochenen Wildheit der Zwetajewa aufgerührt und soll gesagt haben, verglichen mit Marina sei sie sanft wie ein Kälbchen. Zweifellos blieb in dieser Verbindung immer ein Rest an Gewaltsamkeit, die Gewaltsamkeit einer Erfindung. Doch nur auf diese Weise ist es Marina Zwetajewa gelungen, etwas Unglaubliches zu vollbringen: In ihrer Heftigkeit reinigte sie das große Gefühl und man wird sich nicht wundern, von der Lieblingslektüre ihrer Jugend zu hören: Der Junge Adler von Edmond Rostand, Der Trompeter von Säkkingen von Viktor von Scheffel, Undine von de la Motte Fouqué. Herzzerreißende Geschichten von großen Passionen und großem Entsagen. Die viel verhöhnten Verse aus dem Büchlein der Lieder, das Scheffel in sein Versepos hineinschreibt, hört man hier etwas anders:

Behüt’ dich Gott! Es wär so schön gewesen,
Behüt’ dich Gott! Es hat nicht sollen sein.

Es gab für Marina Zwetajewa nur eine Gestalt, die die Spannung von Heftigkeit und Innigkeit, von Gefühlswucht und Entsagung auszuhalten vermochte, eine Gestalt, die sie ihr Leben lang gesucht und erfunden hat, die sie aus den Büchern ihrer Jugend herauslas, an der sie ihre geschichtlichen Sympathien maß und der sie sogar noch den Namen ihres Sohnes entlieh – die Gestalt des Ritters. Alexander Blok ist für sie der Ritter inmitten eines leeren Literaturbetriebs. Ritter St. Georg, der alte Schutzheilige Nordrußlands, steht ihr für die Weiße Bewegung, und ihrem Mann, dem Offizier der Weißen Armee, huldigt sie in einem „Georg“-Zyklus. Im Gesicht der Statue des Ritters Bruncvik unterhalb der Prager Karlsbrücke glaubte sie, ihre Züge zu erkennen. Ritter Bruncvik, der Legende nach Přemysl II erwarb auf seinen Fahrten vor seiner vierzigjährigen Herrschaft über Böhmen einen Löwen und ein Zauberschwert. Wenn sie einen Schutzengel habe, so Zwetajewa, dann einen mit seinem Gesicht, seinem Löwen und seinem Schwert. 1925 nannte sie ihren Sohn Georg.
Marina Zwetajewa – der weibliche Ritter, die Amazone. Was hat sie erzählt? Mit sechzehn besuchte sie mit dem Vater eine Charlottenburger Gipsabgießerei und durfte sich von den Kopien zwei wählen. „Und was war es, meine Liebe auf den ersten Blick – eine Amazone! Achills geliebte Feindin, von ihm erschlagen und beweint, und jene, die andere, gesittete, meine ,erste beste‘ – niemand anderes als Aspasia!“ Aspasia, die kluge Hetäre, Geliebte des Perikles, Genossin der Philosophen.
Sieht man die Erfindungen in der Ritter-Amazone-Aspasia ineinandergehen? Sohn in der Tochter, Dichter in der Poetessa. Mann in der Frau.

2
Hochfahrend und wild wird sie einem begegnen, wo immer man sie aufschlägt. Aber diese Abschiede, Abweisungen, Verzichte, Sarkasmen, Beschimpfungen – vogelbeerbitter, sagt sie – haben einen unwiderstehlichen Zauber, den Zauber des Aufruhrs gegen die Vergänglichkeit. Es ist dieser Aufruhr, der sie zum Dichter macht.
„Für wen schreibe ich“, fragt sie 1927 in ihrem-Essay „Dichter über Kritiker“: „Nicht für die Millionen, nicht für einen einzelnen, nicht für mich. Ich schreibe für die Sache selber. Die Sache schreibt sich durch mich.“ – „Der furchtbarste, der erbittertste (und der würdigste!) Feind des Dichters ist das Sichtbare. Ein Feind, den er nur auf dem Wege der Erkenntnis überwältigt. Das Sichtbare in den Dienst des Unsichtbaren zu zwingen – das macht das Leben des Dichters aus.“
Man hat sie mit diesem Anspruch mythoman genannt, und tatsächlich haben alle, die mit ihr zu tun bekamen, diesen Kampf gegen das Sichtbare am eigenen Leib erfahren müssen und fürchten gelernt. Selbst die Tapfersten, die Helden ihrer großen Brief-Romanzen – Boris Pasternak und Rainer Maria Rilke – sind am Ende vor Marina Zwetajewas Mythisierungen zurückgeschreckt, wie erst die Zaghaften. Sie fanden da ihr Leben wieder als das sichtbare Material, aus dem die Zwetajewa das unsichtbare Entzücken ihrer Liebe, ihrer Verlassenheit, ihrer Vermessenheiten und Niederlagen arbeitete. Dem Dichter Maximilian Woloschin, ihrem Förderer und väterlichen Freund von der Krim, hat sie die Beschreibung dieser Operationen in den Mund gelegt: „Wenn Sie einen Menschen lieben“, sagt er zu ihr, „möchten Sie immer, daß er ginge, damit Sie von ihm träumen können. Möglichst weit weg ginge, damit es sich um so länger träumen ließe.“
Daß sie mit diesem Konzept nie die Saison bediente, gar die wechselnden Ismen, die „Quadrille der Literatur“, ist nur die äußere Form ihrer Entledigung von den gefährlichen Sichtbarkeiten. Immer sind die Besiegten ihre Helden, die ins Unsichtbare Sinkenden. In der Revolution zeigt sie das Heldentum der Gegenrevolutionäre. In der Emigration sagt sie von der Sowjetunion: „Die Kraft ist dort.“ Der Massendissens der Frauen in Frauenkursen, im Suffragetteneifer, Feminismus, Heilsarmeetreiben ist ihr tief zuwider: in der Kunst gebe es keine Frauenfrage. Die Russin kultiviert ihre deutschen Verwurzelungen, mythisiert natürlich auch hier. 1919 im Tagebuch:

Frankreich ist mir zu leicht, Rußland zu schwer, Deutschland angemessen – der alte Stamm, die Eiche, heilige Eiche (Goethe! Zeus!). Deutschland ist die passende Hülle für meinen Geist, Deutschland – mein Leib: seine Ströme – meine Hände, seine Haine – mein Haar, es ist ganz mein, und ich ganz – sein!… Deutschland – Schraubstock für den Leib und Eleusinische Felder für die Seele. Ich bei meiner Maßlosigkeit brauche einen Schraubstock.

Und die Russin verbindet sich mit einem russischen Juden, dem sie durch alle Unlösbarbeiten folgt, folgt „wie ein Hund“, wie sie es in der Stunde seiner tödlichen Bedrohung mit einem furchtbaren Eid geschworen hat, denn: „Alle Dichter sind Juden.“ Sie bleibt sich selber treu, als sie wider allen guten Rat in der sicheren Erkenntnis ihres Untergangs 1939, ihrem Mann folgend, in die Sowjetunion zurückkehrt.
Außerhalb der literarischen Schulen und politischen Übereinkünfte stehend, fehlt der Zwetajewa der Gruppen-Bonus. Und es mag durchaus auch darauf zurückgehen, daß sie von den großen russischen Dichtern des Jahrhundertbeginns Westeuropa als letzte erreicht. Sie ist ganz allein. Valeri Brjussow, einer der Organisatoren des russischen Symbolismus und nach der Revolution ein Arrangeur der literarischen „Quadrillen“, nannte die Zwetajewa wegen dieser fehlenden Gruppenzugehörigkeit sogar einen „Niemand“ was sie freilich selber nur als einen weiteren „titre de noblesse“ verbuchen konnte.
Wahr ist, daß sie von keinem der Flügel der russischen Avantgarde, mitgetragen wurde. Weder vom poetischen Aktivismus, der sich vor der Revolution geistig und nach der Revolution auch organisatorisch mit der sozialistischen Umwandlung Rußlands verband (Futurismus, vor allem Majakowski und seine „Linke Kunstfron“), noch vom poetischen Universalismus, der sein Ziel in der Anstrengung des Menschheitsgedächtnisses und der Gewinnung einer welterfahrenen Häuslichkeit für Rußland sah (Akmeismus, vor allem Nikolai Gumiljow, Ossip Mandelstam und Anna Achmatowa).
Beide Wege waren für Marina Zwetajewa ungangbar, weil sie ihre Grundlagen zerstört hätten. Der aktivistische, weil er einer ruhmredigen Ausstellung des persönlichen Lebens, eines Terrors des Sichtbaren, einer Glorifizierung der Vergänglichkeit bedurfte. Der universalistische, weil er einer Vereinigung von Alltag und Poesie, der Sublimierung des Sichtbaren, eines Einverständnisses mit der Vergänglichkeit bedurfte. An Majakowskis Beispiel hat sie ihr kritisches Verständnis des Aktivismus erörtert:

Ruhm beim Dichter konzediere ich als Reklame – zu finanziellen Zwecken. So applaudiere ich, selber der Reklame abhold, dem – auch hier unvergleichlichen – Maßstab Majakowskis. Wenn Majakowski Geld braucht, veranstaltet er die fällige Sensation („Reinigung der Dichter“, „Schlachtfest der Poetessen“, „Amerikas“ usw.). Skandal, die Leute strömen und lassen ihr Geld. Majakowski, den Dichter, schert weder Lob noch Schmähung: Er weiß, was er wert ist. Aber Geld braucht er. Und seine Selbstreklame ist gerade in ihrer Grobheit reiner als die Papageien, Affen und der Harem von Lord Byron, der bekanntlich kein Geld brauchte.
Unerläßliche Anmerkung: weder Byron noch Majakowski setzten für Ruhm ihre Leier in Gang, beide – das persönliche Leben, den Abfall. Byron braucht Ruhm? Da legt er sich einen Zoo zu, wohnt im Hause Rafaels, fährt –
vielleicht – nach Griechenland… Majakowski braucht Ruhm? Da zieht er sich die gelbe Jacke an und wählt zum Auftrittsort einen Bretterzaun. Das Skandalöse des persönlichen Lebens bei gut der Hälfte aller Dichter ist lediglich die Reinigung jenes Lebens, damit es dort rein sei.

Diese Forderung von Vergänglichkeit war für Marina Zwetajewa, ebenso unannehmbar wie die eines stillen Einverständnisses mit ihr. Daher der Aufruhr, als sie bei der Rückkehr in die Sowjetunion die Achmatowa in ihrer großen Dichtung der Gedächtnisse Poem ohne Held scheinbar nur mit irgendwelchen Banalitäten aus dem Balleben der russischen Vorkriegszeit beschäftigt fand.
Auch was den Vers angeht, hielt sich Martina Zwetajewa außerhalb der Saison. Sie macht die exzessive Anstrengung der russischen Wortwurzeln bei Welemir Chlebnikow und den Futuristen ebensowenig mit wie die (impressionistischen) Lautnuancentechniken Mandelstams. Weder die Meetingssyntax Majakowskis noch die Flüstersyntax der Achmatowa. Was sie sich gewinnt, ist eine Virtuosität im Rhythmischen: russische Lied und Sagenfolklore, russischer Kirchengesang, die Auslassungen und Kürzel der Zurufe auf der Straße, das Stammeln und Stottern der Erregung, das Stocken des Erkennens. Gedankenstrich und Ausrufezeichen sind daher die Favoriten ihrer poetischen Interpunktion – die Zeichen des Wechsels und des Affekts. Der Wechsel als Übergang, noch mehr als Ankündigung des Unerwarteten, aber dann auch kombiniert mit Einschaltungen von Fragen und Ausrufen. Und das Zeichen des Affekts nach Befehl, Aufforderung, Warnung, Wunsch, Ausruf, Anrede. Man sehe als extremen Fall das Gedicht „Der Vorhang“ von 1923: Bei 24 Versen 18 Gedankenstriche, 12 Ausrufezeichen; in der deutschen Fassung von Elke Erb sogar 29 bzw. 14.
Hier gibt es nicht den Versuch, einer Syntax des Alltags zu folgen, weder der des vertrauten Gesprächs oder des Selbstgesprächs wie bei Anna Achmatowa noch der des argumentierenden Tribunen wie bei Majakowski. Es ist eine Syntax, die dem Sichtbaren seine wesentliche, innere, unsichtbare, unvergängliche Bewegung ablauscht. „Ablauscht“ – so hat sie es selber genannt, „Silbe für Silbe ablauscht“; aber gleich hat sie eine schöne Ermunterung angefügt, die unsere Lektüre bestimmen könnte. Sie schrieb nämlich:

Wie kann ich, ein Dichter, d.h. ein Mensch des Wesens der Dinge, von Form verführt werden? Ich werde vom Wesen verführt, die Form kommt von allein… Die allmähliche Offenbarung der Züge – so wächst der Mensch, so wächst das Kunstwerk. Wie abgeschmackt, ,formal‘ vorzugehen, d.h. mir (und häufig noch ziemlich falsch) meine Entwürfe nachzuerzählen. Wenn es die Reinschrift gibt, ist der Entwurf (die Form) schon überwunden. Ehe du mir erzählst, was ich in dem vorliegenden Fall bieten wollte, zeig mir lieber, was du dir hast nehmen können.

Fritz Mierau, Nachwort

 

Marina Zwetajewa (1892–1941)

„… war eine Frau mit einer tatkräftigen männlichen Seele, entschieden, kämpferisch, unbändig. Im Leben und im Schaffen brach sie zielstrebig, gierig und fast raubtierhaft zu einer Endgültigkeit und Bestimmtheit durch, in deren Verfolgung sie weit gegangen ist und alle überholt hat.
Außer dem wenigen Bekannten hat sie eine Menge bei uns unbekannter Sachen geschrieben, gewaltige, stürmische Schöpfungen, einige im Stil der russischen Volksmärchen, andere nach Motiven allbekannter historischer Sagen und Mythen.
Ihre Publikation wir ein großer Triumph und Fund für die russische Poesie sein und sie auf einen Zug mit dieser verspäteten und noch dazu einmaligen Gabe bereichern.
Ich denke, die größte Revision und die größte Anerkennung erwarten die Zwetajewa.“ (Boris Pasternak, 1957)
Diese Auswahl aus den Gedichten der Jahre 1916-1939 verdeutlicht Weite und äußerste Subjektivität der Lebenssicht und -empfindung der Dichterin. – Der Essay über Leben und Werk der Malerin, Graphikerin und Bühnenbildnerin Natalja Gontscharowa (1881-1962) ist Lebens- und Schaffensbekenntnis Marina Zwetajewas selbst.

Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, Klappentext, 1987

 

„Niemand braucht mich hier“

1927–1934

Obgleich sie jetzt Mitte Dreißig war, hätte man Marina für dreiundzwanzig halten können. Sie hatte nie so ausgesehen, wie es ihrem wirklichen Alter entsprach: als Kind hatte sie viel älter gewirkt, als sie war, nun sah sie jünger aus. Auch ihre Kleider, die ihr meistens geschenkt worden waren, paßten besser zu einer jüngeren Frau. Ihre Krankheit hatte sie seelisch geschwächt. Sie erinnerte sich zwar an ihre Fieberphantasien, doch sie wußte nicht mehr, daß auch Alja schwerkrank gewesen war. Sie erinnerte sich lediglich an Aljas Halsentzündung, während ihre eigene Krankheit, bei der sie wegen der Schmerzen in den Gliedern nicht hatte schlafen können, als die schwerste Krankheit ihres Lebens in ihrem Gedächtnis blieb. Sie ging geschwächt und kahlköpfig daraus hervor, und nur ein hellblaues Kinderkäppchen bedeckte ihren Kopf, der auf Anweisung des Arztes hatte kahlgeschoren werden müssen.
Möglicherweise glaubte sie, dem Gefängnis der Vorstadtarmut entfliehen zu können, als sie ihre Pläne, nach Prag zurückzukehren, erneut vorantrieb. Ihr Widerwillen gegen Paris wurde immer heftiger. Sie sehnte sich nach Prag, der Stadt, von der sie sich nie wirklich losgerissen hatte. Im Dezember 1927 schrieb sie an Anna Tesková: 

Bald ist Weihnachten. Ich bin, um die Wahrheit zu sagen, so abgehetzt vom Leben, daß ich nichts fühle. Bei mir ist im Laufe der Jahre (1917–1927) nicht der Verstand, sondern die Seele abgestumpft. Erstaunliche Beobachtung: gerade Gefühle brauchen Zeit, nicht Gedanken… Ein einfaches Beispiel: wenn ich 1½ Kilo kleiner Fische im Mehl wälze, kann ich denken, fühlen nicht: der Geruch stört!… der Fisch stört – jeder einzelne und alle 1½ Kilo zusammen.1

Marina arbeitete weiter an den Fahnen ihres Gedichtbuches Nach Rußland, das, wenngleich ihr bis dahin bestes Buch, nie soviel Anerkennung wie ihr früheres Werk finden sollte. Und, abgesehen von ihrer geschwächten Gesundheit und den üblichen finanziellen Nöten, beunruhigten sie neue Ängste. In der Emigrantenpresse hatten Kritiker der Eurasischen Bewegung zu verkünden begonnen, daß deren Mitglieder von den Bolschewiken riesige Geldsummen erhielten. Wie distanziert Marina dieser Bewegung selber auch gegenüberstand, erschütterte sie diese Anschuldigung derart, als werfe man ihr vor, Geld von den Bolschewiken angenommen zu haben. Sie war um so verärgerter, als sie nicht begriff, wie jemand, der solche Summen empfing, noch darauf angewiesen sein sollte, billige Arbeit anzunehmen, so wie Serjoscha – der, zum Beispiel, für fünfzig Francs am Tag in kleinen Nebenrollen beim Film agierte, wovon fünf Francs für Fahrgeld in Paris und sieben für Mahlzeiten draufgingen.
Es gab einen anderen Schmerz. Ihr früherer Liebhaber Rodzewitsch und seine Gattin hatten sich in Paris niedergelassen und verkehrten in den gleichen Kreisen wie Serjoscha und Marina, ja, sie waren sogar Nachbarn. Marina schrieb an Anna Tesková über die unwillkommene, unbeschwerte Freundschaft, die sie mit Madame Rodzewitsch angeknüpft hatte:

Wir gehen ins Kino. Wir kaufen zusammen Geschenke. Ich für meine Familie, sie für ihn.

Am Neujahrstag 1928 fand in Marinas Wohnung eine Gesellschaft statt, bei der Geschenke ausgetauscht wurden. Unter den Gästen waren Konstantin und Mussa Rodzewitsch, die meisten anderen waren Mitglieder der Eurasischen Bewegung. Marina spürte, daß sie mit den Leuten, die die Ideale der Bewegung teilten, nichts gemeinsam hatte, und das Exil erschien ihr mehr und mehr ohne Ende zu sein. Sogar in ihrem Heim fühlte sie sich wie im Exil. In dem Brief an Anna Tesková über dieses traurige Neujahr schrieb sie:

In jeder Gruppe bin ich eine Fremde, und das bin ich mein Leben lang gewesen.2

1924 hatte sie in einem ihrer schönsten Gedichte, „Versuch einer Eifersucht“, mit einem unmerklichen Hauch von Stolz, Eifersucht und Gekränktheit über Rodzewitsch’s Heirat geschrieben: 

Und wie lebt sichs mit der andern –
Leichter doch? Ein Ruderschlag –
Und als Uferlinie schwand
Eilig die Erinnerung an

Mich, die fern schwimmende Insel
(Über den Himmel – nicht auf dem Fluß!)
Seelen, Seelen! – Nicht Geliebte.
Schwestern werden sollt ihr nun!

Und wie lebt es sich bei einer
Einfachen? Der Götter los?
Da vom Thron die Herrscherin
Ist gestürzt (sie ließ den Thron) –

Wie lebt es sich – und läuft im Haushalt –
Fröstelt sichs? Wie steht sichs auf?
Mit dem Zoll unsterblicher Plattheit –
Wie, Ärmster, kommen Sie so aus?

Stockungen, das Herz, und Krämpfe –
Schluß! Ich miete mir ein Haus.
Wie lebt sichs meinem Auserwählten
Jetzt mit einer Dutzendbraut?

Eßbarer und mehr bekömmlich
Ist die Kost? Beschwer dich nicht…
Wie lebt sichs mit einem Abbild
Für Sie, der Sinai verriet?

Wie lebt sichs mit einer Fremden
Hiesigen? Schmeckt ihre Rippe?
Peitscht die Scham als Götterzügel
Nicht mit Feuer Ihre Stirn?

Kurz, wie lebt sichs – und wie ist es –
Wie gehts wie stehts? Wie singt sichs? Schlecht?
Mit der Schwäre des Gewissens –
Wie, Ärmster, kommen Sie zurecht?

Und wie lebt sichs mit der Ware,
Die vom Markt kommt? Drückt der Zins?
Nach dem Marmor von Carrara –
Wie lebt sichs mit dem Mulm aus Gips

(Ganz aus einem Fels gehauen
Ist ein Gott – und glatt zerschlagen!)
Wie gehts mit einer wie hunderttausend
Für Sie, die Sie bei Lilith lagen?

Von der Marktneuheit nun, sind Sie
Satt? Für Zaubereien blind –
Lebt es sich mit einem irdischen
Weibchen
ohne sechsten Sinn?

Auf den Kopf jetzt: sind Sie glücklich?
Nicht? In ihrer glatten Spalte –
Lebt sichs Lieber? Schwerer, wie?
Wie für mich mit einem anderen?
3

Das Selbstbewußtsein dieses Gedichtes entsprang der Überzeugung, daß sie Rodzewitsch ebensoviel bedeutet hatte wie er ihr. Vera Suwtschinski, die seit ihrer Freundschaft mit Rodzewitsch in den 20er Jahren mit ihm in Verbindung geblieben war, hat das stark bezweifelt, als ich sie 1975 danach fragte; doch ihre Einstellung zu Marina als Frau ist bereits behandelt worden. Die allgemeine Meinung derer, die Marina und Rodzewitsch zu jener Zeit kannten, war, daß er sehr gut ohne sie auszukommen schien. Das glaubte auch Marina, und es kränkte sie.
Als ich jedoch 1975 Rodzewitsch in Paris besuchte, unterstützte er überraschenderweise Marinas Glauben an die Fortdauer seiner Liebe. Fünfzig Jahre später (Jahre, in denen er mit seinen Habseligkeiten mehrere Male umgezogen war, um in Spanien und in den Reihen der Resistance zu kämpfen) verfügte er immer noch über eine Sammlung von Erinnerungsstücken, die er wie einen Schatz hütete. Es gab Photos von Marina aus den 20er Jahren, das Gemälde auf Holz, das er selbst gemalt hatte, und den Abzug einer Photographie, den er koloriert hatte, wodurch ihre wunderschönen grünen Augen in lebendigem Glanz strahlen. Am überzeugendsten war vielleicht sein Bekenntnis, seine jetzige Frau sei noch immer eifersüchtig auf die Heftigkeit seiner Gefühle für Marina – in einem Maße, daß er über die Affäre nur sprechen mochte, wenn sie nicht zu Hause war, wie am Nachmittag unseres Treffens. Für Marina war es jedoch, fünf Jahre nach dem Ende ihrer Beziehung mit Rodzewitsch, schwer zu ertragen, wenn sie täglich mitansehen mußte, wie sehr Rodzewitsch die Freuden einer Häuslichkeit genoß, die sie ihm, ungeachtet aller Anstrengungen, niemals bieten konnte.
Unter den Freunden auf der Neujahrsgesellschaft war Vera Suwtschinski, die weiterhin große Bewunderung für Marinas Dichtung und wenig für die Person, die sie schrieb, aufbrachte. Vera war über die Lebensbedingungen der Efrons schockiert. Sie konnte nicht begreifen, wie jemand sich selbst und seine Wohnung in solchem Maße vernachlässigen konnte, wie Marina es tat. Sie empfand den Gestank als ekelerregend, und erinnerte sich später mit aristokratischem Abscheu der Schmutzschichten in der Küche. Außerdem war sie davon überzeugt, daß Marinas Haltung gegenüber Alja vollkommen selbstsüchtig sei.
Um die Wahrheit zu sagen, war Vera Marinas hübschem, weichherzigen Gatten mehr zugetan. Sie war eine außergewöhnlich schöne Frau, der die Männer immer zu Füßen gelegen hatten, und sie besaß einen natürlichen Hochmut, den Marina nach besten Kräften parierte. So spielte sie ihr eine Reihe von Streichen, die an das schelmische Verhalten erinnern, das sie in Prag Nina Berberova gegenüber an den Tag legte. Einmal, als Vera zum Essen kam, empfing Marina sie an der Tür mit einem halb abgezogenen Kaninchen, das sie lachend vor Veras Gesicht schwenkte.
Marinas damalige Depressionen waren zum Teil auf ihre weiterhin schlechte Gesundheit zurückzuführen. Obgleich ihr Haar nach ihrer Genesung vom Scharlach wieder gewachsen war, hatte sie unter einer Reihe von Abszessen zu leiden gehabt, die mit heißen Kompressen behandelt und geöffnet werden mußten. Auch ihre finanziellen Schwierigkeiten verschlechterten sich im Januar 1928, als es so aussah, als würden die Zahlungen aus der Tschechoslowakei aufhören. Die einzige Hoffnung schien ihr darin zu liegen, Subskribenten für ihr neues Buch Nach Rußland zu finden. Der Plan schlug fehl. Der Mann, auf dessen Hilfe sie gebaut und der ihr Buch in einem Verlag hatte herausbringen wollen, war eines Tages verschwunden. Es stellte sich heraus, daß er das Buch ohne Wissen und Zustimmung der Firma zur Publikation angenommen hatte. Und selbst als sie diese praktischen Probleme bewältigt hatte, mußte sie einsehen, daß die Begeisterung unter den Emigranten für ihr Buch gering war.
In ihren düsteren Momenten erwog sie die Rückkehr in die Sowjetunion, doch es geschah halb im Spaß, als sie an Anna Tesková schrieb, die Buchstaben „S.S.S.R.“ enthielten kein Gefühl für das alte Rußland. Die Vorstellung, in ein Land ohne Vokale zu gehen, schrecke sie ab, denn es komme ihr vor wie ein Land ohne Stimme. Auf jeden Fall zweifelte sie daran, daß die sowjetischen Behörden ihr die Einreise gestatten würden. So kam sie zu der bitteren Einschätzung:

In Rußland bin ich ein Dichter ohne Bücher; hier ein Dichter ohne Leser.

Obgleich im März 1928 ein paar alte Freunde (darunter Boris Pasternaks Vater Leonid) Subskriptionen gesammelt hatten, war Nach Rußland noch nicht ausgeliefert. Der Verlag hielt das Buch immer noch zurück, und Marina kommentierte sarkastisch:

In Rußland haben wir in der Regel solche Kutscher: sie schlafen, während das Pferd zieht. Aber manchmal schlafen sie und das Pferd schläft ebenfalls.4

Währenddessen hatte Marina eine weitere Konfrontation mit dem Tod. Der Sohn einer Freundin war kurz zuvor an Tuberkulose gestorben. Er war erst achtundzwanzig Jahre alt gewesen und hatte nicht gewußt, daß er in Lebensgefahr war. Nicht nur seine Jugend ging ihr besonders nahe, sondern auch der betrügerische heitere Traum, den er in der Nacht vor seinem Tod gehabt hatte. Das Begräbnis schockierte sie, denn nach französischem Brauch ist es den Totengräbern erst gestattet, den Sarg mit Erde zu bedecken, wenn die Angehörigen sich entfernt haben. Trotzdem harrte sie eigensinnig neben dem Grab aus, und es bereitete ihr und der Mutter des Toten einige Schwierigkeiten, die Totengräber dazu zu überreden, das Grab in ihrer Gegenwart zuzuschaufeln. Es war eine lange, traurige Zeremonie – die Schaufeln waren klein – doch sie stand dort eine Stunde und zwanzig Minuten lang im Schnee, damit die Mutter der Beerdigung ihres Sohnes nicht ohne eine Freundin an ihrer Seite beiwohnen mußte.
In ihrem Schmerz muß Marina auch ihre eigene Isolation bewußt geworden sein. Einmal, in einem Augenblick völliger Offenheit, erzählte sie Mark Slonim von ihrer totalen Einsamkeit als Frau. Sie beklagte das Fehlen einer großen Liebe:

Ich habe vierzig Jahre gelebt und nie hat ein Mann mich mehr als alles andere auf der Welt geliebt.5

Als es 1928 in Paris Frühling wurde, begann Marina das alte Verlangen zu spüren, dem täglichen Trott, der Sorge um die Familie zu entfliehen. In Meudon wurden die Roßkastanien grün, und während Marina die Blätter wehmütig betrachtete, gemahnte sie der Kontrast zwischen dem allmählichen Einsetzen des Frühlings in Paris und der überschäumenden Freude, mit der er in Rußland begrüßt wurde, an ihre verlorene Jugend und an ihr Heimweh. Nichtsdestotrotz wurde ihr in dieser Zeit ein unerwartetes Glück zuteil. Aus Rußland kam eine entfernte Verwandte zu Besuch und bot an, als Entgeld für ihre Unterbringung im Haushalt zu helfen. Zum ersten Mal seit zehn Jahren hatte Marina freie Zeit.
Dieser Freiraum gab Marina die Möglichkeit, Freundschaft mit einem achtzehnjährigen Jungen zu schließen: Nikolai Gronski. Seine Mutter war Bildhauerin, sein Vater Mitherausgeber der Emigrantenzeitschrift Letzte Nachrichten. Der junge Mann hatte selber ein kleines dichterisches Talent und war versessen darauf, mit Marina lange Spaziergänge in den Wäldern und Hügeln nahe Meudon zu machen. Da er die Berge der Meeresküste vorzog, war er ihr seelisch um so verwandter, und gewiß waren sie und ihr junger Wandergefährte bald mehr als Freunde. Eine der Passagen in Marinas Briefen an Jurij Ivask (dem estländischen Kritiker, mit dem sie 1933 einen Briefwechsel begann), die sich auf ihre Freundschaft mit Gronski bezieht räumt ein:

Sie haben recht. Er war von meiner Art. Woher wissen Sie von unsrer Freundschaft und ihrem Schlachtfeld (denn die Freundschaft war eine Schlacht) in den königlichen Wäldern von Meudon…? Er war auch körperlich mein Gefährte – ein Geschöpf des Berges, nicht ein Geschöpf des Meeres.6

Ob die beiden sich körperlich geliebt haben, ist unwichtig; wie weit Marina sich emotional einließ, war vom sexuellen Kontakt nicht abhängig. Doch wie tief ihre Bindung an Gronski war, läßt sich aus der Heftigkeit schließen, mit der sie ihn in jenem Sommer an der Antlantikküste erwartete. Anfang August war sie mit ihrer Familie in die Villa Jacqueline in Pontaillac (nahe Rohan) gefahren, wo es eine ganze Gemeinde von Russen gab, die dort Ferien machten, darunter Peter und Vera Suwtschinski. Die Efrons hatten ihren russischen Hausgast, der die Hausarbeit machte und sich um Mur kümmerte, und zum ersten Mal hatte Marina das Gefühl, richtig Ferien zu haben. Sie blieb bis Ende September dort, obwohl Serjoscha sehr viel früher wegen „eurasischer Angelegenheiten“ nach Paris zurückkehren mußte. Dies war auch eine Zeit vorübergehender finanzieller Erholung, zum Teil durch die Einkünfte aus einer Lesung im Juni, doch hauptsächlich durch großzügige Geschenke von Salomea Halpern und Mirski.
Marina genoß den Sonnenschein, doch der wirkliche Grund für ihr Bleiben war ihre Vernarrtheit in den jungen Gronski, der versprochen hatte, zu kommen. Es war ihr Wunsch, ein neues „wir“ zu schaffen, wie sie es nannte, und sie brauchte Zeit, um diese Beziehung zu entwickeln. In Meudon waren sie oft allein gewesen, doch es hatte keine Gelegenheit gegeben, eine Bindung von jener Stärke zu entwickeln, die sie in Paris brauchte.
Gronski hatte zugesagt, am 1. September zu ihr zu kommen, doch als Marina an jenem Tag freudig zum Bahnhof ging, erschien er nicht. Tief enttäuscht kehrte sie nach Hause zurück, wo sie einen Brief von ihm vorfand, in dem er sich für seinen Wortbruch entschuldigte und erklärte, daß er um seiner Familie willen habe zu Hause bleiben müssen.
Das war keine lahme Entschuldigung. Gronski war das einzige Kind zweier Menschen, die schwer unter dem Exil litten, und er war das wichtigste Bindeglied, das ihre Leben zusammenhielt. Im Grunde hatte er das immer gewußt, doch es wurde ihm eindeutig klar, als er nach Hause fuhr, um sich vor der Abreise nach Pontaillac zu verabschieden. Bei seiner Ankunft war seine Mutter gerade im Begriff, seinen Vater zu verlassen; also stellte er seinen Koffer vor der Tür ab und versuchte, seiner Mutter ihren Entschluß auszureden. Sechs Stunden später konnte er in dem Bewußtsein in seine Mansarde zurückkehren, daß seine Mutter bleiben würde, doch er würde Marina nicht am Meer besuchen können; und sie wußte instinktiv, daß diese Gelegenheit sich nicht noch einmal ergeben würde. Daß er in diesem Sommer nicht kam, setzte der Entwicklung ihrer Beziehung ein unwiderrufliches Ende, aber Marina war seelisch viel zu großzügig, um ihn zu drängen, seine Meinung zu ändern. Sie wollte nicht „an der Seele eines achtzehnjährigen Jungen zerren“, und obwohl ihre Freundschaft sich noch über den Sommer hinweg fortsetzte, entfernte sich Gronski allmählich von ihr, was, wie sie wußte, unvermeidlich war. Was seine jugendliche Zuneigung ihr im Sommer 1928 bedeutet hat, kommt am stärksten in einem Gedicht zum Ausdruck das sie viele Jahre später schrieb:

WEIL DU MICH EINST, JUNG UND KÜHN
Nicht strecktest zwischen Tumbe hin
Auf daß in Mauern ich verderbe
Laß ich dich nicht – endgültig sterben!

Weil du, an deiner reinen Hand
Hinaus mich führtest, über Land
Und Sträuße mir ins Zimmer brachtest
Laß ich dich nicht – von Gras bewachsen!

Weil du, als grauer ward mein Haar
Nur stolz warst und von Würde sprachst
Kindlich erhelltest meinen Schauder
Laß ich dich nicht – in andern grauen!
7

Was immer Nikolais Eltern in bezug auf Marinas Freundschaft mit ihrem Sohn gefürchtet haben mögen, die Letzten Nachrichten bleiben eine der wenigen Zeitschriften, die daran interessiert waren, ihre Gedichte zu veröffentlichen, obgleich man redaktionell dazu neigte, ihr Frühwerk zu drucken.
Marina machte sich ironisch darüber lustig:

Was heißt hier Letzte Nachrichten? 1928 drucken sie Gedichte aus dem Jahr 1918!

Da man nur frühe Gedichte wollte, sah sie sich genötigt, an Anna Tesková zu schreiben, mit der Bitte, ihr das Manuskript ihrer frühen Gedichte zu schicken, das von Mark Slonim aufbewahrt wurde, der damals noch in Prag lebte. Sie zog es vor, statt an Slonim direkt an Anna Tesková zu schreiben, weil sie glaubte, er würde sich vielleicht mit dem Abschicken der Gedichte Zeit lassen (wenn er ihr auch sehr zugetan war). Dennoch sollte die Zeit, da sie mit Beiträgen bei den Letzten Nachrichten willkommen war, bald zu Ende sein.
1928 besuchte Majakowski Paris, und Marinas Bewunderung für seine Dichtung sollte sie jetzt mit ihren letzten Unterstützern unter den Emigranten in Konflikt bringen. Schon bevor sie vor zwei Jahren entdeckt hatte, daß er eine geringe Meinung von ihrem Werk hatte, war ihre persönliche Beziehung nie sehr eng gewesen. Doch sie erinnerte sich oft daran, wie sie ihn an einem der letzten Tage vor ihrer Abreise auf einer menschenleeren Moskauer Brücke getroffen hatte. Sie hatte ihn gefragt, was sie den Menschen im Ausland sagen solle, und er hatte geantwortet:

Daß die Wahrheit – hier ist.

Marina hatte oft an seine Worte und an seine verschwindende Gestalt gedacht. In späteren Jahren fragte sie sich sogar, was wohl geschehen wäre, wenn er gerufen hätte:

Hör auf damit, Zwetajewa! Laß die Finger davon! Geh nicht!

Wäre sie in Rußland geblieben? Es scheint unwahrscheinlich, daß flehentliches Bitten sie zu jener Zeit hätte dazu bewegen können, Serjoscha im Stich zu lassen. Doch die Erinnerung an seine Worte lebte mit nachteiligen Folgen in einer Äußerung wieder auf, die berühmt werden sollte.
Im November 1928 las Majakowski im Café Voltaire in Paris, und am Schluß wurde Marina gefragt:

Was können Sie nach Majakowskis Lesung über Rußland sagen?

Sie erinnerte sich an ihre früheren Begegnungen und erwiderte:

Die Kraft ist dort.

Ihre Worte und ihr Kontext wurden in Eurasia abgedruckt.
Die „Kraft“, auf die sie sich bezog, war die Kraft der Poesie, doch auch die Kraft des Geistes, die sie bei den Emigranten in ihrer Umgebung vermißte. Die Emigranten interpretierten ihre Bemerkung freilich politisch. Doch selbst wenn man den Gegensatz zwischen „Wahrheit“ und „Kraft“ berücksichtigt, kann man ihre Worte schwerlich als ein Lob des Sowjetregimes auslegen. Die Letzten Nachrichten (die für die Finanzen der Familie Efron inzwischen sehr wichtig geworden waren) weigerten sich, weiterhin etwas von ihr zu drucken. Ironischerweise waren die Gedichte, die als nächste zum Druck anstanden, Lobgesänge auf die Weiße Armee (Lager der Schwäne), doch Marina wurde jetzt von allen Herausgebern als Bolschewikin angesehen.
Im Frühling 1929 traf Marina zum letzten Mal mit Majakowski zusammen. Er war von einer Gruppe Kommunisten aus einem Vorstadtviertel von Paris gebeten worden, vor französischen Arbeitern zu lesen. Einer der Organisatoren war ein Freund Serjoschas. Majakowski bat sie, seine Gedichte für ihn ins Französische zu übersetzen, weil sie sonst nur von wenigen Zuhörern hätten verstanden werden können. Marina war einverstanden, und Majakowski las seine Gedichte auf Russisch und erläuterte kurz ihren Inhalt. Dann hatte Marina die schwierige Aufgabe, sie spontan ins Französische zu übertragen. Sie fungierte auch als Dolmetscherin, übersetzte Fragen aus dem Publikum und Majakowskis Antworten. Die Zuhörer waren weniger an Gedichten interessiert als am Leben und an den Sorgen der Arbeiterklasse in Rußland, doch Marina war willens, sich ihrer Aufgabe ohne Ironie zu unterziehen, weil sie Majakowski als Dichter liebte und bewunderte.

Etwa um diese Zeit begann Marina mit der Arbeit an einem langen Aufsatz über die russische Künstlerin Natalja Gontscharowa, die in Paris lebte. Marina hielt Natalja für eine bemerkenswerte Person, wenn sie auch für ihre Malweise wenig Verständnis aufbrachte. Sie war fünfzehn Jahre älter als Marina, doch zwischen beiden gab es viele Ähnlichkeiten – zum Beispiel Nataljas völlige Gleichgültigkeit gegenüber der öffentlichen Meinung und ihre Vorliebe für die Einsamkeit. Die Tatsache, daß sie die Urgroßnichte von Puschkins Frau war, deren Schönheit zu dem tödlichen Duell geführt hatte, verlieh ihre eine zusätzliche Faszination. Marina interessierte die Künstlerin als Person weitaus mehr als deren Werk. Sie machte sich in Gegenwart der Künstlerin Notizen, während sie versuchte, zu einem Verständnis des innersten Wesens dessen zu gelangen, das sie an Natalja am meisten bewunderte: ihr „ungeheures Ego“. Während sie an ihrem Aufsatz schrieb, arbeitete die Künstlerin an den Illustrationen zu Marinas Gedicht „Der Recke“.
Wie das bei vielen ihrer Freundschaften der Fall war, begann Natalja sich jedoch von ihr zu entfernen, während Marina sich immer mehr zu ihr hingezogen fühlte. Im April 1929, gerade als Marina mit Bewunderung von Nataljas Kühle sprach, bemerkte sie die Anfange eines vertrauten Unbehagens. Sie schrieb an Anna Tesková:

Ich schäme mich immer, mehr zu geben, als mein Gegenüber braucht (d.h. mehr als er verkraften kann!)8

Dieser Charakterzug, den Rodzewitsch gefürchtet und Mark Slonim ihre „einsame nackte Seele“ genannt hat, war der Grund, daß auch diese Freundin sich zurückzog.
Marina fragte sich, ob wohl eine ihrer Freundschaften von Dauer sein würde. Sie spürte, daß sogar Mark Slonims Loyalität begrenzt war. Als sie einmal als Gast einer literarischen Veranstaltung beiwohnte, sah sie ihn, eingerahmt von einer hübschen Blonden und einer Brünetten, von denen keine auch nur einen Schimmer von Literatur hatte, und fühlte sich auf demütigende Weise ignoriert. Slonim hingegen machte sich Sorgen um Marina, weil er bemerkte, daß Serjoscha nicht nur ein kranker, sondern auch ein hoffnungslos schwacher Mann war, ein geborener Verlierer. Daß Marina unverbrüchlich an ihrer Zuneigung zu ihrem Mann festhielt, erfüllte ihn mit respektvoller Verwunderung, aber bald sollte sich Serjoschas fatale Mischung aus Naivität und Idealismus als verheerend erweisen. Es hatte schon lange Gerüchte gegeben, Serjoscha sei nicht nur ein Kommunist, sondern auch ein Agent des NKWD. Als Marina davon hörte, weigerte sie sich einfach, daran zu glauben – selbst dann noch, als Professor Nikolai Alexejew (einer der Begründer der Eurasischen Bewegung) und zahlreiche andere Mitglieder öffentlich verkündeten, Serjoscha sei ein Bolschewik. Ihre Reaktion war, daß sie Alexejew einen Schurken schalt, und ihr Mitleid mit Serjoscha ließ sie in wütender Treue darauf beharren, daß er in der Eurasischen Bewegung die einzige moralische Kraft sei.
Serjoscha hatte es indessen immer danach verlangt, einer Sache zu dienen, die größer war als er selbst, und so, wie er einst durch Träume von Treue dazu verleitet worden war, sich der Weißen Armee anzuschließen, hatte er nun nach einem gleichermaßen hochfliegenden Ideal Ausschau gehalten. Eine Zeitlang schien er in der Eurasischen Bewegung genau dieses gefunden zu haben, doch das reichte ihm auf die Dauer nicht aus. Als er sich schließlich mit dem Kommunismus einließ lieferte er sich ihm so bedingungslos und fanatisch aus wie früher anderen Idealen. Daß er diesen Schritt jetzt getan haben sollte, hielt Marina für gänzlich unglaubwürdig, was eigentlich nur zeigt, wie sehr sie sich auseinandergelebt hatten. Ein paar Jahre lang war es für Serjoscha nicht leicht gewesen, sich seine Würde zu bewahren: Er wurde immer als „der Ehemann von Marina Zwetajewa“ angesehen, schlimmer noch, als ein finanziell von ihr abhängiger Ehemann. Sein früheres Interesse an Literatur hatte nachgelassen; und es war Jahre her, daß er selbst etwas geschrieben hatte. Slonim bemerkte dazu:

Ich habe nie etwas von gemeinsamen Ansichten oder Zielen bemerkt. Jeder ging seinen eigenen Weg.9

Doch Marina spürte ganz genau, in welcher Not er sich befand. Als die Zeitschrift Eurasia zeitweilig eingestellt wurde, hatte sie sowohl Verständnis für seine Enttäuschung wie für seinen lebenslangen Wunsch, sich für immer eine Bürde aufzuladen, die über seine Kräfte ging.
Ihre ganze Liebe jedoch richtete sich jetzt auf ihren vier Jahre alten Sohn Mur. Das Kind, wenngleich von heiterer Gemütsart, war sich seiner russischen Herkunft wohl bewußt, und Marina folgerte, das sei wohl auch der Grund, warum es ihm so schwerfiel, Freundschaft zu schließen. Sie selbst träumte noch immer von der Landschaft bei Všenory: vom Fluß, den Pflaumenbäumen, den Feldern, von all dem, was viel eher eine richtige Landschaft ausmachte, als die Vorstadt am Rande von Paris, in der sie lebte. Sie sehnte sich nach Schafen und Ziegen und sogar nach dem Lärm einer Schmiede. In Paris zu sein, hatte für sie keinen Wert, weil sie das Leben in der Stadt nicht genießen konnte. Sie war von Museen und Konzerten abgeschnitten und in einer Gegend eingesperrt, die ihr nichts bieten konnte. Es war nicht nur Mur, der sich dadurch eingeengt fühlte, daß in den umliegenden Häusern von Meudon Leute vom Fenster aus jeden Schritt der Familie Efron mißbilligend beäugten.
Im August 1929 begann Marina, eine Lesung in Prag vorzubereiten. Sie war sehr stolz auf ihre Pariser Garderobe (da man ihr ein paar schöne Kleider geschenkt hatte), und Anna Tesková fand einen Saal, in dem die Veranstaltung stattfinden konnte. Marina schickte Alja für zwei Wochen zu Freunden in die Bretagne und traf Vorkehrungen, Mur mit nach Prag zu nehmen.
Nachdem offenbar alles geregelt war, überrascht es einigermaßen, daß sich Marinas Pläne am 30. September plötzlich wieder geändert hatten. Sie war zu einer Lesung nach Brüssel eingeladen worden. Fürs erste machte das eine Absage der Veranstaltung in Prag nicht erforderlich, und Marina hatte vor, von Brüssel aus direkt nach Prag weiterzureisen. Sie beschäftigte sich weiterhin mit den Vorbereitungen für den Kartenverkauf für die Prager Lesung. Sie glaubte, möglicherweise 300 Leute zusammenzubekommen, und rechnete mit der Möglichkeit, dort signierte Exemplare ihrer Bücher verkaufen zu können.
Am 26. Oktober 1929 war Marina in Brüssel, wo sie vor einer kleinen, armen und extrem rechten russischen Kolonie las. Es kamen lediglich hundert Leute, um sie zu hören, und am Ende hatte sie nicht mehr als 50 Francs eingenommen. Finanziell war diese Reise eine Katastrophe, weil die Kosten für Reise, Pässe, Visa und Lebensunterhalt sich auf mehr als 400 Francs beliefen. Der einzige Vorteil dieser Reise war, daß Marina Gelegenheit hatte, in Brüssel spazieren zu gehen, das sie an Prag erinnerte und das sie wegen seiner stillen, ehrwürdigen Atmosphäre liebte.
Marina schickte Anna Tesková eine Ansichtskarte von dem berühmten kleinen Jungen auf dem Brüsseler Brunnen und versicherte ihr weiterhin, daß sie zur Lesung nach Prag kommen wolle. Nichtsdestotrotz mußte sie ihr Vorhaben bis zum Januar verschieben. Der Hauptgrund war eine körperliche und geistige Krise ihres Mannes. Serjoscha verdiente überhaupt kein Geld mehr, er war entmutigt, unsagbar abgemagert, und die Lungentuberkulose hatte sich wieder bemerkbar gemacht. Medizinische Betreuung war notwendig, doch um sie zu bezahlen, mußte die ganze Familie auf Kredit leben. An einen Besuch in Prag war nicht zu denken. Wichtig war jetzt, daß Serjoscha aus Meudon fortkam, das in einer Senke mit besonders feuchtem Klima lag.
Marina mußte nicht nur nach neuen Geldquellen Ausschau halten, sondern sah sich außerdem mit der Möglichkeit konfrontiert, daß ihre Zuwendungen aus der Tschechoslowakei 1930 aufhören und ihre Einkünfte sich dadurch auf katastrophale Weise dezimieren würden. Für ein Jahr harter Arbeit hatte sie nicht gerade viel vorzuweisen. Sie hatte ein langes Poem über den Bürgerkrieg geschrieben, Perekop, das jedoch unglücklicherweise zwischen den beiden Lagern von Emigranten ins Kreuzfeuer geriet: die Rechten fanden es linkslastig oder formal „avanciert“: die Linke fand, sein Inhalt sei rechtsradikal. Es war unwahrscheinlich, daß es Geld einbringen würde.
Man sagte Serjoscha, er müsse für drei Monate ein Sanatorium aufsuchen, weshalb alle weiteren Gedanken an eine Reise nach Prag bis nach seiner Rückkehr verschoben werden mußten. Am 23. Dezember reiste Serjoscha nach St. Pierre-de-Rumilly in Savoyen. Glücklicherweise hatten Marinas Freunde finanzielle Hilfe geleistet, vor allem Salomea Halpern. Auch Mur war in einem außerordentlich schlechten gesundheitlichen Zustand und litt eine Woche lang an heftigen Magenschmerzen, verbunden mit hohem Fieber. Wie es um Marinas Gesundheit bestellt war, mag man der Tatsache entnehmen, daß sie seit anderthalb Monaten nicht eine Zeile geschrieben hatte. Nach Serjoschas Abreise begann sie zu glauben, sie könne wieder anfangen zu schreiben, doch schon der bloße Hinweis auf das, was sie vorhaben könnte, bedeutete nichts Gutes.
Im April 1930 beging Wladimir Majakowski Selbstmord. Ein Nachruf auf den Sowjetdichter, im Ton verächtlich, verfaßt von dem emigrierten Kritiker A. Lewinson, erschien in der französischen Zeitschrift Les Nouvelles Littéraires, und viele namhafte französische und russische Schriftsteller und Maler richteten einen Protestbrief an das Blatt. Am 12. Juli erschien ein Gegen-Protest, in dem erklärt wurde, daß Majakowski nie ein großer russischer Dichter gewesen sei; er trug die Unterschriften von Nina Berberova, Iwan Bunin, Sinaida Hippius, Wladislaw Chodassewitsch und anderer. Marina unterschrieb weder die eine noch die andere Erklärung. Ihr Gefühl fand seinen Ausdruck in dem großartigen Zyklus von sieben Gedichten auf den Tod Majakowskis.
Der Kummer über Majakowskis Selbstmord, ihr Streit mit den Emigranten, zusammen mit Serjoschas Krankheit und ihren Geldsorgen, brachten Marina an den Rand des Zusammenbruchs. Am 21. April 1930 schrieb sie an Anna Tesková:

Die Person, die Dir schreibt, steht unter Beschuß.10

Sie arbeitete weiter für das Überleben ihrer Familie, obwohl ihr bewußt war, daß sie auf eine bestimmte Weise angefangen hatte, Urlaub von ihr zu nehmen. Das war keine Frage mangelnder Liebe. Der Familie gehörte ihr ganzes Herz, doch sie spürte, daß sich das Herz auf Kosten der Seele ausweitete. Niemand wußte wohl besser als Marina, wie falsch der Unterschied war, den man gemeinhin zwischen dem Schreiben um des Ruhmes willen und dem Schreiben um des Geldes willen machte. Für sie selbst stand fest:

Ich schreibe, weil ich nicht anders kann.

Es würde keine aristokratisch getönte Weigerung mehr geben, etwas anderes als Geschenke anzunehmen, wie in den Tagen ihrer frühen Veröffentlichungen in St. Petersburg. Jetzt würde sie bereitwillig Geld annehmen:

Geld, meine Lieben. So viel, wie ich bekommen kann.
Geld setzt mich instand, weiterzuschreiben.
Geld – das sind die Gedichte von morgen.
Geld ist mein Freikauf aus den Händen von Redakteuren,
Verlegern, Wirtinnen, Ladenbesitzern, Hauswirten;
es ist meine Freiheit und mein Schreibtisch.

Dieser Tisch war der Zuchtmeister für Marinas Seele, und für den Rest ihres Lebens unterwarf sie sich bereitwillig und ohne Pause seiner Disziplin:

DER TISCH

Mein Schreibtisch, ich danke dir, treuer!
Du gingst für mich mit mir durchs Feuer
Des Daseins, durch Garbe um Garbe,
Du schütztest mich – wie eine Narbe.

Mein Schreiblasttier, danke dir, nie
Zerbrachs dich, nie brachst du ins Knie,
Nie drückte den Rücken dir nieder
Mein Wachtraum: die Fracht meiner Lieder.

Mein Spiegel von härtester Klarheit,
Du stelltest, und sprachst mir die Wahrheit,
Dich zwischen mich, Zeile für Zeile
Und Glück und Vollendung wohlfeile.

Mein Hemmschuh von Holz – dem Gemeinen
Und niedrigen widrigen Kleinen,
Dem Pavian Eigengefallen,
Dem Haß, diesem Habicht – dem allen.

Gehäus meines Totenwurms, Bretter,
Euch dank ich, ihr wuchst und trugt Blätter,
Ihr dehntet, verbreitertet euch,
Dem Werk, auf euch tätigen, gleich –

Zu Weiten von Ozeanfreie,
Und mich – im ertrinkenden Schreie
Umkrallte ich, halt! euern Rand… –
überspültet ihr wie einen Strand! 

Mein Schreibtisch, mein Schraubstock, dir dank ich –
Du zwangst mich und zwangst, und entsprang ich,
Da sprangst du mit rascheren Sprüngen
Mir nach wie ein Pascha, zu zwingen

Die flüchtige Sklavin – zurück!
Du rissest mit Magierblick
Mich aus der verführenden Chance
Wie aus somnambulischer Trance.

Die Purpurspur meiner Blessuren
Gerann auf dir, Tisch, zu den Suren
Des Ichs, meines Ichs, zum Koran
Des Seins: meins – in Taten und Plan.

Stylitensitz, Spund vor dem Mund,
Du warst für mich Thron, Boden und
Das, was für die wandernde Schar
der Juden die Leuchtsäule war.

Gesegnet sei, Tischland Gelobtes,
Von Stirn, Elle, Knie – schlachterprobtes.
Ins Mark rammte sich, ins gebrannte,
Mir – quer durch die Brust – deine Kante!
11

Ihr Leben war heroisch. Jeden Tag vollbrachte sie eine Heldentat. Sie handelte aus Treue zu dem einzigen Land, dessen Bürgerin sie war: Poesie.12

Das waren Pasternaks Worte zu Alexander Gladkow über Marina Zwetajewa nach ihrem Tod. Gewiß war die schwere Aufgabe, einzige Stütze ihrer Familie zu sein, eine Pflicht, die sie in zunehmendem Maße erschöpfte.
Als Ende 1929 Serjoschas Tuberkulose zum Ausbruch kam, hatte er mit einem Sanatoriums-Aufenthalt von drei Monaten gerechnet. Er sollte am Ende acht Monate dort zubringen. Im Sommer 1930 zogen Marina und die Kinder dicht in seine Nähe – nicht in das Dorf, sondern in ein kleines Chalet mit einer riesigen Scheune am Fuß des Berges. Serjoscha wohnte in einer russischen Pension, die sich in einem Schloß aus dem fünfzehnten Jahrhundert befand, und Marina konnte ihn jeden Tag besuchen. Manchmal fühlte er sich kräftig genug, um zu einem Besuch zu ihnen zu kommen. Einmal in der Woche ging sie mit Alja und Mur in die benachbarte Kleinstadt, um für die Woche Gemüse und Fleisch zu kaufen. Die Zeit verging wie im Traum. Zum Glück bezahlte das russische Rote Kreuz, das sich um notleidende Flüchtlinge kümmerte, Serjoschas gesamte medizinische Kosten.
Der Sommer war regnerisch und die Wälder fast so feucht wie die in der Taiga. Alles war mit Efeu und Brombeerranken durchsetzt. Im Talgrund sah man Flüsse, die bei Sonnenschein wunderschön gewesen wären. Doch Marinas Gedanken waren nicht bei den Schönheiten der Natur. Sie versuchte zu arbeiten in erster Linie an einer Übersetzung ihres Gedichts „Der Recke“ ins Französische und an den Gedichten für Majakowski, die sie in Die Freiheit Rußlands zu veröffentlichen hoffte.
Am 9. Oktober 1930 kehrte die Familie gemeinsam nach Meudon zurück. Sie fand eine Situation vor, in der es in wachsendem Maße schwieriger wurde, irgendeine Arbeit zu finden. Tatsächlich gab es für Serjoscha so gut wie keine Hoffnung auf Arbeit. In einer Fabrik angestellt zu werden, war fast unmöglich, selbst für einen völlig gesunden Mann, und obgleich Serjoscha etwa zehn Pfund zugenommen hatte, war er noch immer krank und wagte nicht, seine Leistungsfähigkeit auf die Probe zu stellen. Währenddessen lebte die Familie weiterhin auf Kredit. Sie hatten noch nicht einmal genug Geld, um die Fahrt in die Stadtmitte zu bezahlen, und Marina hatte bereits alle schönen Seidenkleider verkauft, mit denen sie erst ein Jahr zuvor vor Anna Tesková geprahlt hatte.
Hartnäckig beendete Marina ihre Übersetzung von „Der Recke“, doch ungeachtet der Illustrationen von Natalja Gontscharowa, die damals in Paris sehr bekannt war, erwies sich, daß ihre Mühe vergeblich gewesen war. Niemand wollte das Buch. Alles in allem war es unmöglich geworden, auch nur einen Teil der Arbeiten, die in den vergangenen zwei Jahren geschaffen worden waren, in klingende Münze umzusetzen. Die Freiheit Rußlands lehnte Perekop, ihr langes Poem über die Weiße Armee, ab, die Zeitgenössischen Annalen beantworteten nicht einmal ihre Briefe. Marina hatte das Gefühl, bei allen ihren Pariser Bekannten unerwünscht zu sein; es gab niemanden, zu dem sie ohne vorherige Absprache hätte gehen können. Bitter fühlte sie sich daran erinnert, daß vor ihrer Abreise nach Savoyen niemand außer dem Gasmann und dem Stromableser in ihre Wohnung gekommen war. Einzig Jelena Iswolskaja besuchte sie weiterhin. Schmerzlicher noch als ihre Entfremdung von den russischen Emigrantenzirkeln (die sie nie wirklich akzeptiert hatten) empfand sie das kühle Verhalten Natalja Gontscharowas. Nicht, daß Natalja etwas gegen Marinas Besuche gehabt hätte, doch konnte Marina nicht entgehen, daß die Künstlerin sie selbst nie besuchte. Sogar ihre Familie war, wie sie meinte, „an jedermann, außer an mir interessiert, und zu Hause – schmutziges Geschirr, Bratklopse…“ Offenbar gab es niemand, dem sie etwas bedeutete, wie sie am 26. Februar 1931 an Anna Tesková schrieb:

Niemand braucht mich hier.13

Das tschechische Stipendium, von dem die ganze Familie abhängig war, traf 1931 mit mehrmonatiger Verspätung ein, weshalb sie im September ernsthaft mit der Miete im Rückstand waren und nicht wußten, wo sie das Geld für das nächste Quartal auftreiben sollten. In ihrem Eifer, etwas zu verdienen, nahm sie Mark Slonims Einladung an, für die erste Nummer der Neuen Literarischen Zeitschrift einen Artikel zu schreiben.
In ihrer Arglosigkeit schrieb sie über neue sowjetische Kinderbücher, die sie, im Vergleich mit der Literatur ihrer Kindheit, bewunderungswürdig fand. Das zu tun, zeugte von hoffnungsloser Naivität. Die Redaktion lehnte den Artikel ab, weil es für sie ein unumstößlicher Grundsatz war, daß Kinderbücher unter einem sowjetischen Regime nichts anderes sein konnten als Propaganda. Marina war von dieser Einstellung überrascht. Sie hatte gedacht, durch Vermeidung des Wortes „sowjetisch“ ihre Ausführungen zu entpolitisieren. In „Der Dichter über die Kritik“ hatte sie geschrieben:

Richtig zu hören – nur das ist meine Sorge. Eine andere habe ich nicht.14

Doch es war nicht mehr möglich, wenn auch wahrheitsgemäß, über Dinge zu schreiben, wie man sie sah, und außerhalb der politischen Trennungslinien jener Zeit auf Anerkennung dieser Wahrheit zu hoffen. Die Gemeinde der Emigranten hatte ihre Fronten verhärtet, und es kam für sie nicht in Frage, die Aufgabe, die Marina sich gestellt hatte, zu respektieren.
Es waren nicht nur finanzielle Sorgen, die Marinas Energie aufzehrten. Die selbstauferlegte „Familienzusammengehörigkeit“ wirkte sich auch lähmend aus: „Ich bin immer mit jemandem zusammen, nie allein“,15 beklagte sie sich bei Slonim. Am schlimmsten war die Verantwortung für den Haushalt. Am 31. August 1931 schrieb sie an Anna Tesková:

Für den Dichter ist alles ein Segen… außer, vom gewöhnlichen Leben überwältigt zu werden.16

Es war nicht der Verlust an Energie, den die täglichen Mühen selbst mit sich brachten – sie war in Dingen des Haushalts alles andere als anspruchsvoll – es war auch nicht das Gefühl, auf die Rolle einer gewöhnlichen Hausfrau in Meudon reduziert zu sein. Was es ihr unmöglich machte, ihre Tage fröhlich dahinzuleben, war der Druck der unvollendeten Gedichte und unbeantworteten Briefe.
Es war Marinas Gewohnheit, Anna Tesková Neujahrsgrüße zu schicken, die sie oft dazu benutzte, über ihren seelischen Zustand Rechenschaft zu geben. Ihre Bestandsaufnahme zum Beginn des Jahres 1932 fiel düster aus – so düster, daß sie fast nicht den Mut aufbrachte, die vier Seiten in ihrer kleinen Handschrift abzuschicken und versucht war, sie in den Ofen zu werfen. Am 31. März 1931 war die Familie gezwungen, nach Clamart umzuziehen, wo es Marina gelungen war, eine viel billigere Wohnung zu finden. Diese war so eng, daß Marina in der Küche schlafen mußte, um Platz für ihren Tisch und ihre Bücher zu schaffen. Auch das Heizen war schwierig, doch allmählich gewöhnten sie sich ein.
Marina beschäftigte sich andauernd mit der Frage, wo sie leben sollte. Alles schien sie zurück in die Sowjetunion zu treiben. 1931 hatte Prokowjew sie besucht, weil er einige ihrer Gedichte vertonen wollte. Vielleicht wäre sie ja doch willkommen, wenn sie zurückkehrte. Und doch mochte sie nicht ganz daran glauben:

Hier bin ich unerwünscht. Dort bin ich unmöglich.17

Marina wußte genug von dem, was dort vorging, um zu ahnen, was ihr bevorstehen konnte.

Nach Rußland gehen?… dort würde man mir nicht nur den Mund verschließen, weil meine Bücher nicht veröffentlicht werden würden, sondern sie würden nicht einmal zulassen, daß ich sie schreibe.18

Ihre Gesundheit verschlechterte sich durch mangelnde Ernährung; sie war blutarm und das Haar fiel ihr aus. Eines der vier Betätigungsfelder Marinas, die Zeitschrift Die Freiheit Rußlands, stellte ihr Erscheinen ein, als sie die Unterstützung der tschechischen Regierung verlor. Es gab Monate, in denen der Familie lediglich die fünf Francs zur Verfügung standen, die Alja durch Strickarbeiten verdiente, und ohne den Großmut von Freunden wie Salomea Halpern und Mark Slonim hätten sie nicht überleben können; Slonim versuchte sogar, eine Gruppe von Leuten dazu zu bewegen, regelmäßige Zahlungen zu leisten. Auch Mirski kam ihr zu Hilfe.
Am 11. August 1932 war Marina in einer kleinen Buchhandlung in der Nähe des Waldes von Clamart. Dort sah sie eine fünfbändige Ausgabe von Dumas’ Joseph Balsamo, ein Buch, das ihr Woloschin vor zwanzig Jahren geschenkt hatte. Sie hatte nicht die erforderlichen acht Francs, um die Ausgabe zu kaufen, doch als sie heimging, mußte sie an ihre Jugendzeit denken. Ihre Gedanken liefen zu Woloschin, der in Rußland lebte, und an diesem Abend schrieb sie über die Bolschewiken und ihre Art, mit Schriftstellern umzugehen:

Woloschin, zum Beispiel, ist, von ihrem Standpunkt aus, ein eindeutiger Konterrevolutionär, und doch haben sie ihm eine Pension von 240 Rubeln im Monat zugestanden, und das, davon bin ich überzeugt, ohne daß er darum nachgesucht hätte.19

Eine Freundin erkundigte sich beiläufig bei ihr, ob Woloschin noch lebe, und die entsetzte Marina versicherte ihr, er lebe noch.
Aber nur fünf Tage später las Marina in der Pravda, daß Woloschin in Koktebel gestorben sei. Abergläubisch notierte sie, daß sie exakt zu seiner Todesstunde (Mittag) versucht hatte, um den Balsamo in Clamart zu handeln. Bald darauf begann sie mit der Niederschrift ihrer Erinnerungen an Woloschin. Sie wollte ihn als jemanden beschreiben, der sich ebenso wie sie, vorgenommen hatte, sowohl sowjetische Schriftsteller gegen die Verunglimpfungen der Weißen als auch weiße Schriftsteller gegen die sowjetischen Behörden zu verteidigen – das heißt, als einen wirklichen Humanisten.
Nie hatte sie die Unterstützung ihres alten Freundes mehr vermißt als jetzt. Während sie schreibend an ihrem Tisch in Clamart saß, stieg sein Bild vor ihr auf, wann immer sie den Teller mit dem Löwenkopf anblickte, den sie vor vielen Jahren aus Moskau bis hierher gebracht hatte; und sie dachte sehnsüchtig und traurig nicht nur an Anna Achmatowa. sondern auch an andere Dichterinnen, die sie gekannt hatte, vor allem an Cherubina de Gabriac, die vor zwei Jahren in Turkestan gestorben war. Der Dicherinnen gedenkend, denen Woloschin behilflich gewesen war, wollte es ihr scheinen, als seien alle von Frauen geschriebenen Gedichte in gewissem Sinne von derselben Frau verfaßt worden. In ihren Erinnerungen an Woloschin schrieb sie darüber:

Von ein und derselben – einer Namenlosen.20

Marina verspürte in sich selbst die Kraft jenes anonymen und machtvollen Geschöpfes.

Marina Zwetajewas Wesen oder Temperament läßt sich aus Photographien schwer ablesen. Man erinnert sich eher an ihre Gesten als an ihre Gesichtszüge: an ihr pausenloses Rauchen, ihren beschwingten Gang, an die Bewegungen ihres jungenhaften Körpers. Sie selbst hielt es für töricht, über Aussehen zu sprechen, weil ihre Erscheinung unwesentlich sei. Sie hatte nichts vom Glanz einer Frau, die schön ist oder jene Art von hingebungsvoller Dienstbarkeit einfordert, die Anna Achmatowa erheischte. Doch die Wandelbarkeit ihres Gesichtes von einem Tag zum anderen war in sich ein Kennzeichen von inneren Spannungen. Ihre Züge waren zu weich, um einen teilnahmslosen Ausdruck vorspielen zu können, im Gegenteil, jeder Stimmungswechsel war ihrem Gesicht abzulesen.
Oft hatte sie den Ausdruck eines gehetzten Tieres, manchmal sah sie ungeduldig aus, doch nie wirkte ihr Gesicht (außer auf den gestellten „schönen“ Photos der frühen 20er Jahre) statisch. Sie konnte erschöpft aussehen, auf dem Kopfsteinpflaster von Clamart stehend, an einem Tag des Jahres 1933, den Blick auf ihren Sohn gerichtet, das Haar ungekämmt und gekleidet wie eine arme Zigeunerin; und dann wieder, im Sommer des Jahres 1935 am Meer, zehn Jahre jünger wirken, das Haar offen und länger, die harten Linien von der Nase zum Mund durch das Sonnenlicht ausgelöscht.
In den 30er Jahren war Marinas Haltung durch eine strenge Abwesenheit von Selbstmitleid gekennzeichnet, einer Art stolzer Verachtung für menschliche Wesen, die gedankenlos in gewöhnlichen Freuden Trost fanden, besonders in gutem Essen.
Viele in der Mitte dieses Jahrzehnts geschriebenen Gedichte machen sich über das Vergnügen der Genießer am guten Essen lustig. Bevor Mirski 1932 in die Sowjetunion abreiste, hatte ihn oft ihre Weigerung befremdet, sich für die Güte der Speisen zu interessieren, die er ihr vorsetzte, doch Marina aß alles und hatte keine Lieblingsspeisen. Das hatte Mirski zu der Klage veranlaßt:

Alles, was Du tust, ist reden. Es ist Dir gleich, was Du ißt. Man könnte Dir ebensogut Heu vorsetzen.21

Marinas Strenge war teilweise eine Rechtfertigung ihrer Unfähigkeit, die täglichen Hausarbeiten schnell und energisch zu bewältigen. In ihrer Korrespondenz mit dem estländischen Kritiker Jurij Ivask, der 1933 begonnen hatte, ihr zu schreiben, erläuterte sie ihre asketische Haltung:

Ich würde nie das winzigste Stückchen Brot wegwerfen. Eine Kruste in einem Mülleimer ist eine Ungeheuerlichkeit… Also denken hier die Leute, ich sei geizig, aber es steckt etwas anderes dahinter. Ich bin anspruchslos wie meine Eltern; meine Mutter kannte kein Lieblingsessen (– bedenken Sie – eine Protestantin und Spartanerin!). Sie kam nie auf die Idee, es könne eine bestimmte Mahlzeit geben, die man nicht mochte.22

Mittlerweile war sie zum ersten Mal in ihrem Leben dazu übergegangen, keine Gedichte, sondern Prosaerinnerungen an einige der Dichter zu schreiben, denen sie in der Vergangenheit nahegestanden hatte. Darunter war auch die Arbeit über Max Woloschin, 1932 nach der Nachricht von seinem Tod begonnen, und eine weitere über Bely, der 1934 starb. Am 24. November 1934 schrieb sie aus Clamart an Anna Tesková: 

Gedichte schreibe ich fast keine, und zwar deshalb: Ich kann mich nicht mit einem Gedicht begnügen, sie bilden bei mir Familien, Zyklen, so wie ein Trichter, ein Wasserstrudel gar, in den ich gerate, folglich ist es auch eine Frage der Zeit. Ich kann nicht gleichzeitig Prosa und Gedichte schreiben und könnte es sogar dann nicht, wenn ich ein freier Mensch wäre. Ich bin Konzentriker. Meine Gedichte aber nimmt man nirgends, keiner nimmt auch nur eine Zeile, man vergißt, daß ich eine Dichterin bin. Mit ,nirgends‘ und ,keiner‘ meine ich Letzte Nachrichten und Zeitgenössische Annalen, mehr Anlaufpunkte gibt es nicht.23

Sie setzte hinzu:

Die Emigration macht mich zum Prosaiker.

1934 wurde Marina vom Kummer über den Tod von Nikolai Gronski überwältigt, der bei einem Metro-Unfall ums Leben gekommen war. Obwohl sie lange vor seinem Tod den Kontakt mit ihm abgebrochen hatte, bat sie sein Vater, der noch immer Mitherausgeber der Letzten Nachrichten war, etwas über die Gedichte seines Sohnes zu schreiben. Im Lauf der sechs Jahre, zwischen dem Ende ihrer Affäre und Gronskis Tod, hatte sie ihn nur einmal, im Frühling 1931, und später nur zufällig getroffen. Ihre Aufforderung, ihre Freundschaft fortzusetzen, war von ihm nie befolgt worden, aber dennoch schmerzte sie sein Tod. Sie übernahm den Auftrag seines Vaters bereitwillig, und wenn sie Nikolais Verdienste als „der erste wirkliche Dichter unter den Emigranten“ übertrieb, war doch in ihrer prägnanten Schilderung seiner Schönheit nichts Übertriebenes. Besonders berührten sie die Statuen, die Gronskis Mutter von ihrem Sohn angefertigt hatte: Die erste zeigte ihn als Zehnjährigen, die zweite als Sechzehnjährigen, und schließlich hatte sie eine Statue des jungen Mannes in voller Größe angefertigt, die ihn sitzend, mit leicht geneigtem Kopf und in den Hosentaschen vergrabenen Händen zeigte.
Als ihr Aufsatz über Gronski von den Letzten Nachrichten abgelehnt wurde, fühlte sie sich bewußt gedemütigt, doch in einem Brief an Vera Bunina räumte sie ein, sie verstehe, daß die beiden Gronskis mit dem intimen Ton ihres Artikels zutiefst unzufrieden seien. Obwohl sie gekränkt war, erkannte sie doch, daß die Nerven des Vaters zerrüttet waren, und zwar so schwer, daß er in ein Sanatorium gebracht werden mußte. Und sie wußte, daß für ihn mit Nikolais Tod alles zu Ende ging, ob die Ärzte seinen Zustand nun als akute Neurasthenie oder als Depression bezeichneten. Um ihrem Schmerz um Nikolai Ausdruck zu geben, veranstaltete sie ihm zu Ehren eine Lesung. Möglicherweise wegen der Anspannung verlor sie zwei Tage vorher ihre Stimme; da der Saal jedoch gemietet und die Lesung angekündigt war, konnte sie nicht absagen. Das Publikum lauschte aufmerksam, doch Marina spürte, daß man distanziert blieb. Vielleicht mißfiel ihnen die Selbstsicherheit, mit der Marina erkennen ließ, daß sie von Nikolai weit mehr wußte als seine Eltern. In ihren Gedichten für ihn, Epitaph, wird ihr Unglück deutlich und auch die Abneigung gegen die üblichen Tröstungen:

Ich tausch dich nicht um Sand
Und Dampf. Durch dich verwandt
Geb ich dich nicht für Geist und Leichnam fort.
Hier ist zu sehr hier, dort zu dort
.24

Marina hatte Verwandtschaft bitter nötig. Ihre eigenen Familienverhältnisse begannen zusammenzubrechen.

(…)

Elaine Feinstein, aus Elaine Feinstein: Marina Zwetajewa. Eine Biographie, Frankfurter Verlagsanstalt, 1990

 

Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa

 

Zwiesprachen VI: Katharina Schultens spricht über Marina Zwetajewa am 24.1.2016 im Lyrik Kabinett, München

 

 

Katharina Kohm: Die Begegnung an der Naht. Zu der Vortragsreihe Zwiesprachen VI: Katharina Schultens über Marina Zwetajewa am 25.1.2016 im Lyrik Kabinett
signaturen-magazin.de

Zum 70. Todestag der Autorin:

Bettina Wöhrmann: Der Granatapfelkern Persephones
Ostragehege, Heft 64, 2011

Zum 75. Todestag der Autorin:

Doris Liebermann: Vor 75 Jahren – Dichterin Marina Zwetajewa gestorben
Deutschlandfunk Kultur, 31.8.2016

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Nachrufe auf Fritz Mierau: Süddeutsche Zeitung ✝ Börsenblatt ✝ FR ✝
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Fritz Mierau: Ein biographisches Interview (Auszüge aus ca. 17 Stunden Videomaterial, 2006/2007) von Dietmar Hochmuth.

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