FÜR MAJAKOWSKI
Höher als Kreuz und Schlot,
Gekreuzigt in Rauch und Flimmer,
Erzengel, Lastgaul, hoch −
Gruß dir, ewig Wladimir!
Er ist Fuhrmann und Pferd,
Er ist Kopfstand und Gesetzbuch.
Er schnauft und krempelt das Hemd:
„Halt dich fest, schwerlastiger Dreckruhm!“
Angeber, dreckiger, grüß dich!
Sänger der Wunder der Straßen −
Ungeblendet von allen Brillanten
Nahmst du als Stein den Lastzug.
Pflastersteindonner, he!
Er gähnt, röhrt dich voll – und wieder
Schwenkt er die Deichsel, des
Überlasterzengels Flügel.
Übersetzt von Rainer Kisch
Die Geschichte meiner Wahrheiten ist meine Kindheit.
Die Geschichte meiner Irrtümer ist meine Jugend…
Marina Zwetajewa, 1929
Frau. Liebe. Leidenschaft. Seit Urzeiten weiß eine Frau nur Liebe und Leidenschaft zu besingen. Die einzige Leidenschaft der Frau ist die Liebe. Jede Frauenliebe ist Leidenschaft. Außerhalb der Liebe hat eine Frau nichts Schöpferisches. Nehmt der Frau die Leidenschaft… Frau… Liebe… Leidenschaft…
So stellte Valeri Brjussow, wie Marina Zwetajewa erzählt, im Sommer 1920 neun junge Dichterinnen vor. „Hoffen wir“, sagte er, „daß der in aller Welt fortschreitende und in Rußland bereits vollzogene soziale Umbruch auch auf die Frauenlyrik zurückstrahlt. Bisher allerdings hat er es nicht getan, noch immer schreiben Frauen über Liebe und Leidenschaft. Liebe und Leidenschaft…“ Trotz Brjussow las die Zwetajewa an diesem Abend im berühmten „Polytechnischen“ sieben Gedichte nicht über Liebe; trotz durchweg rotarmistischen Publikums las sie Gedichte über die Weiße Armee, in welcher ihr Mann wider die Sowjetmacht kämpfte.
Leben und Werk der russischen Dichterin Marina Zwetajewa (1892–1941) sind voller Widerspruch. In dem Versuch, sich gegen ihr Jahrhundert zu stellen, aus der Klage der Spätgeborenen und ihrer Liebe zum neunzehnten Jahrhundert, insbesondere zur napoleonischen Ära, schrieb sie Verse, die sich vierzig Jahre nach ihrem Tod wie zeitgenössische Lyrik lesen.
Die Dichterin des Intimen, der „Kammerlyrik“, wie es schien, entwickelte sehr bald raumgreifende poetische Stimmgewalt. Leidenschaftlich zu den Menschen hingezogen, lebte sie bei allem Verlangen, gebraucht zu werden, als Dichterin allein. Obwohl Marina Zwetajewa die Oktoberrevolution zunächst abgelehnt hat, vermittelt ihr Werk – stärker denn das manch eines Zeitgenossen – Musik und Rhythmus der revolutionären Epoche. An dieser extremen Widersprüchlichkeit enthüllt sich das Unfügsame einer „maßlosen“ Natur, die bereits im frühen Kindesalter in Marinas Vorliebe für das widerspenstige kleine Räubermädchen aus Andersens Märchen „Die Schneekönigin“ durchschlug, aber mehr noch, es enthüllt sich die Schwierigkeit ihrer Existenz in den Konfrontationen ihrer Zeit.
Marina Zwetajewa entstammt einer Moskauer Professorenfamilie. Ihr Vater, Iwan Zwetajew, war der Sohn eines armen Geistlichen. Als Kunsthistoriker und Begründer des Museums für Bildende Künste – heute Puschkin-Museum gehörte er zu den Rasnotschinzen, russischen Intelligenzkreisen, die ihrer Sache und der Demokratie aufs treueste ergeben waren. Die Mutter, eine begabte Pianistin, erträumte für Marina eine Musikerlaufbahn. In ihrem Tagebuch findet sich allerdings die Eintragung:
Die vierjährige Marussja geht umher und reimt in einem fort. Ob sie womöglich Dichterin wird?
1910 gab die Gymnasiastin Marina das Abend-Album, ihren ersten Lyrikband, heraus, den der Großmeister der russischen Poesie Valeri Brjussow zur Überraschung der Verfasserin mit einer Rezension begrüßte. Er würdigte Talent und Eigenständigkeit der Debütantin. Die Fertigkeit ihrer frühen Gedichte verblüffte aber nicht nur Brjussow. „Haben Sie niemals schwache Gedichte geschrieben?“ wurde sie gefragt. „Doch, hab ich. Nur sind sie alle in der Vorschulzeit entstanden“, kommentiert sie in ihren Erinnerungen.
Im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts erfuhr die russische Dichtkunst, wie Ossip Mandelstam es formulierte, zweimal eine „Hochflut des Sturm und Drang“, den Symbolismus und den Futurismus. Von beiden Strömungen blieb Marina Zwetajewa unberührt. Keiner der zahlreichen scharf abgegrenzten und einander lauthals befehdenden Dichtergruppen dieser Zeit gehörte sie an. Sie stand abseits. Die Formel für ihr Leben und Werk steht in den Zeilen (aus „Rolands Horn“, 1921):
Von allen Eine, für sie, gegen sie…
Marina Zwetajewa, 1921
Diese Vereinzelung förderte die frühe Ausbildung von Selbständigkeit und poetischer Individualität, nicht aber größere Anerkennung, noch die Erweiterung ihres Realitätssinns. Marinas Jugend verlief im engen Familien- und Freundeskreis, ihre Dichtung speiste sich aus literarischen Denkmustern und Fiktionen.
In diese häuslich-intime Welt brach dennoch das reale Leben: der imperialistische Krieg, die Einberufung ihres Mannes. Mit Frauentränen um in den Krieg ziehende Soldaten, als Polemik gegen chauvinistische Tendenzen hielt das Leben Einzug auch in ihre Lyrik. Nicht bewußt internationalistisch, sondern ihrer bis ans Äußerste gehenden „Eine gegen alle“-Natur getreu, schrieb sie während des Krieges gegen Deutschland:
Weh der Vernunft im Weltgetriebe:
„Aug um Auge, Zahn um Zahn“,
O und Deutschland – meine Liebe!
O und Deutschland – du mein Wahn!
Die Jahre des ersten Weltkriegs und der Revolution waren Jahre, in denen Marina Zwetajewas geistig-poetisches Gesicht bestimmendes Profil gewann: offene Emotionalität, bewegtes Temperament und die Gabe, mit wenigen Strichen den Merkmalen von Landschaft oder Situation ordnend entnommen – ein ganzes Bild zu zeichnen. Ihre hellhörige Empfindsamkeit für Rußland, für seine Natur und Geschichte führt ihre Dichtung in die Nähe des russischen Volkslieds. Daß die Zwetajewa die Revolution nicht akzeptierte, war ein verhängnisvoller Irrtum, der sich zur Tragödie auswuchs. Ihrer rebellischen Natur und Sinnesart konnte der Durchbruch elementarer Gewalten nicht entgehen. Dennoch fuhr sie hartnäckig fort, ihre Sympathie für die Weißen in Verse umzusetzen, Verse, in denen die Taten der Konterrevolution in romantischer Verklärung, aber auch im Zeichen der Weihe des Untergangs erscheinen. Ihrem ureigensten Wesen hätte der Versuch, der Revolution begreifend entgegenzugehen – etwa wie Alexander Block ihn unternommen hat – ungleich mehr entsprochen. Aber sie warf ihrer Zeit den Fehdehandschuh hin, spielte die „russische Vendée“. Zum Glück wurde ihre Rebellion von den Behörden nicht ernst genommen. Wie andere Dichter konnte sie Lesungen veranstalten. 1922 erschienen im Staatsverlag zwei kleinere Gedichtbände von ihr. Wie alle Einwohner Moskaus bezog sie ihre karge Lebensmittelration. Und wie alle litt sie Hunger und Kälte. Standhaft ertrug sie sowohl die täglichen Widrigkeiten und Beschwernisse als auch die Trennung von ihrem Mann, zunächst ohne Hoffnung auf ein Wiedersehen, und schließlich den schlimmen Kummer, der sie 1920 traf, als ihre jüngste Tochter erkrankte und starb.
Der Dichter Pawel Antokolski, mit dem sie damals befreundet war, schildert sie wie folgt:
Marina Zwetajewa ist eine stattliche, breitschultrige Frau mit graugrünen, weit auseinanderstehenden Augen. Ihr kurzgeschnittenes hellbraunes Haar fällt in eine hohe Stirn. Das dunkelblaue Kleid, weder modisch noch altmodisch, sondern eben vom allereinfachsten Schnitt, etwa wie der eines Priesterhemds, ist mit einem breiten gelben Riemen straffgezogen. Über ihrer Schulter hängt ein gelber Lederbehälter in der Art einer Karten- oder Jagdtasche, und in diesem unweiblichen Zubehör stecken an die zweihundert Papyrossy und ein Schulheft mit Gedichten. Wo diese Frau auch auftaucht, gleicht sie Wallfahrern oder Wanderern. Mit großen Männerschritten geht sie über den Arbat und durch die umliegenden Gassen, und ihre rechte Schulter rudert gegen Wind, Regen und Schneegestöber an. Eine Klosterschülerin oder eine eben mobilgemachte Schwester der Barmherzigkeit. Ihr ganzes Wesen brennt aus der Flamme der Poesie, die sich in der ersten Stunde der Bekanntschaft zu erkennen gibt.
Im Mai 1922 durfte Marina Zwetajewa mit der Tochter über Berlin zu ihrem Mann ausreisen, der, nachdem die Weiße Armee zerschlagen war, an der Prager Universität studierte. Drei Jahre später übersiedelte die Familie nach Paris. Es folgten schwere, freudlose Jahre. Unter den Emigranten fühlte sie sich bald fremd – den Haß auf das neue Rußland konnte sie nicht teilen.
„1922 reise ich aus“, schreibt sie später, „und mein Leser bleibt in Rußland, das meine Gedichte (1922–1933) nicht erreichen. In der Emigration haben sie mich anfangs (geradezu gierig!) gedruckt, ernüchtert haben sie mich dann aber kaltgestellt. Sie spüren das Fremde: das ,Dort‘. Der Inhalt ist scheinbar ,von uns‘, aber die Stimme kommt ,von drüben‘ (das heißt aus der Sowjetunion).“
Ich wünschte mir einen richtigen Scheiterhaufen…
Marina Zwetajewa, 1921
Durch die vor der Emigration entstandenen Gedichte geht eine grünäugige, goldhaarige Marina, deren Porträt mit Antokolskis Schilderung nicht voll zusammenfällt, denn die Zwetajewa erachtete die Darstellung der „seelischen Struktur“, nicht äußere Detailtreue, für signifikant: „Ich weiß nicht, brauchen Verse denn einen lebenstreuen Hintergrund ?“ schrieb sie, „wer – wann – mit wem – wo – und unter welchen Umständen und so fort – gelebt hat? Die Verse haben die Einzelheit des Alltags vermahlen und ausgeworfen…“ Die Einzelheit des Alltags auswerfend, hob die Zwetajewa Erfahrung und eigenes Erleben zu allgemeiner Gültigkeit. Und mit den Jahren tritt hinter der grünäugigen hochmütigen Marina (Freunde schreiben dem hochmütigen Blick Kurzsichtigkeit zu, die sie verbarg) in ihren Gedichten immer deutlicher der zeitgenössische Typ hervor. Dies lyrische Subjekt haßt Lüge und Heuchelei, ist brennend auf Wahrheit aus, läßt leichte Wege, zumal in der Poesie, nicht zu. Seine vehement leidenschaftliche Natur neigt zum extremen, oftmals vorgefaßten Urteil, verführt gleichermaßen zu stürmischer Entrüstung wie feuriger Begeisterung.
„Bei Block gibt es das magische Wort: geheime Glut“, schreibt Marina Zwetajewa 1937, „ein Wort, das mich beim ersten Lesen mit Erkennen brannte… Dies Wort ist der Schlüssel zu meiner Seele und zu aller Lyrik… und jetzt, ein Leben später, kann ich sagen: Alles, worin diese geheime Glut war, liebte ich, und ich liebte nichts, worin diese geheime Glut nicht gewesen wäre.“
In den Gedichten der Zwetajewa ist weder Ruhe noch Kontemplation, da ist stürmische Bewegung, Aktivität. Aktiv soll z.B. das Gefühl sein: „… das Meer zu lieben wage nur Fischer oder Seemann. Nur ein Fischer oder Seemann weiß, was das ist. Meine Liebe wäre ein Rechtsbruch (der ,Dichter‘ bedeutet hier nichts, kläglichste aller Ausreden)“, erklärt sie Pasternak. Und an Anna Achmatowa schreibt sie: „Es ist so schade, daß alles nur Worte sind, ich wünschte mir einen richtigen Scheiterhaufen, auf dem man mich verbrennen würde.“
Durch alle Werte, durch alle Gegenden, an allen
Weg’-enden
Das ewige Paar der Sich-Nie-Begegnenden
Marina Zwetajewa, 1929
Trauer und Not verfolgten Marina. Ihr Mann, der an einer Lungentuberkulose daniederlag, blieb monatelag ohne feste Einkünfte. Sie selber wurde kaum gedruckt. Eine Zeitlang waren die Pfennige, die Tochter Alja für Handarbeiten heimbrachte, einzige Ernährungsgrundlage der Familie. Trost brachten der kleine in Prag geborene Sohn und der Briefwechsel, den sie mit wenigen nahestehenden Freunden, unter anderem mit der tschechischen Übersetzerin Anna Teskova, führte. 1926 entwickelte sich ein Briefwechsel mit Rainer Maria Rilke; kurz vor dessen Tod, so daß es zu keiner persönlichen Begegnung mehr kam. Aber die beiderseitig spontan entstehende Sympathie spiegelt sich in hochinteressanten Briefen und zwei Gedichten, die Rilke Marina widmete. Über eins davon schrieb sie an Anna Teskova: „Ich nenne das Gedicht Marina-Elegie („O die Verluste im All, Marina, die stürzenden Sterne“). Es krönt die Duineser Elegien, und eines Tages, nach meinem Tod, wird es in den Zyklus aufgenommen: schließt ihn ab.“
Rilkes Tod (das Marina gewidmete Gedicht sollte das letzte sein) war für die Zwetajewa ein harter Schlag. Es war, als hätte, was sie so heiß geliebt, mit ihm seine Existenz gelöscht: deutsche Dichtung, deutsche Sprache, Deutschland:
…Rilke war mein letztes Deutschland. Geliebte Sprache, geliebtes Land… das, was für ihn Rußland war (die Wolga-Welt).
Im Februar 1927 vollendete die Zwetajewa das Neujahrs-Poem, ein Requiem auf Rilkes Tod, und schickte es Poris Pasternak zu.
Die Trauer um den gemeinsamen Verlust brachte Marina Zwetajewa und Boris Pasternak einander näher. Persönlich hatten sie sich schon in Moskau gekannt, nicht aber als Dichter. „Im Frühjahr 1922“, erinnert sich Pasternak, „als sie bereits im Ausland war, habe ich mir ihre Wersten gekauft. Sofort überwältigte mich die poetische Kraft der Zwetajewaschen Form, die unter die Haut geht, so gar nicht schwachbrüstig, sondern stark verdichtet und gedrängt in keiner Zeile außer Atem kommt und ganze Strophen folgen ohne rhythmischen Bruch… erfaßt.
In diesen Besonderheiten steckte etwas wie Nähe, wohl eine Gemeinsamkeit in den Erfahrungen oder Gleichartigkeit der Einflüsse auf die Charakterbildung, eine analoge Rolle der Familie und der Musik, eine Verwandtschaft der Ausgangspunkte, Ziele, Neigungen. Ich schrieb der Zwetajewa einen Brief voller Begeisterung und Verwunderung darüber, daß ich sie so lange übersehen und so spät entdeckt hatte. Sie antwortete. Zwischen uns entspann sich ein Briefwechsel, der sich Mitte der zwanziger Jahre besonders intensivierte…“ Etwa siebzehn Jahre währte im Austausch von Briefen, Manuskripten, Büchern der rege schöpferische Kontakt. Sie schrieben unähnliche Gedichte, doch standen sie sich nahe in der Rezeption der Außenwelt, in ihren verkomplizierten Beziehungen zwischen Wirklichkeit und poetischem Modell, in dem Empfinden, persönlich und als Dichter allein zu sein. Beide lebten und arbeiteten in ähnlich abgeschlossenen Welten.
Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte die Zwetajewa ihre Einsamkeit in der Heimat überwunden. Pasternak schien sie unüberwindlich, denn nur zeitweilig gelang es ihm, seine Dichtung, diese „hohe Krankheit“, mit der Realität des nachrevolutionären Rußland in Einklang zu bringen. Beide Dichter lebten in der gespannten Erwartung großer Gefühlsoffenbarungen, in dem Verlangen, sich in dem anderen wiederzufinden. In unzähligen Versen der Zwetajewa an Pasternak ist die Trauer der Trennung, ist Hoffnung auf immerwährende Freundschaft, auf seelische Nähe. Die komplizierten, schwer in Alltagsverständnis umzusetzenden Beziehungen steigerten sich 1926 zu unbedachter Verliebtheit auf seiten Pasternaks, die Marina Zwetajewa ganz und gar nicht wünschte. Als sie fünf Jahre später erfuhr, daß Pasternak seine Familie verlassen hatte, schrieb sie an Anna Teskova (am 20.3.1931):
Im Sommer 1926, als er irgendwo mein Poem vom Ende gelesen hatte, trieb es Boris wahnsinnig zu mir, er wollte kommen – ich wehrte ab, ich wollte die allgemeine Katastrophe nicht. (Jahre habe ich von dem Traum gelebt, daß wir uns zu sehen kriegen.) Jetzt ist es leer. Ich habe niemanden in Rußland. Die Frau, der Sohn das achte ich. Aber eine neue Liebe – ich rücke ab. Verstehen Sie mich recht, liebe Anna Antonowna: Es ist nicht Eifersucht. Aber – wenn er doch ohne mich ausgekommen ist! Von mir zu Boris war ein Gefühl, daß: wenn ich sterbe ruf ich ihn. Weil ich ihn, trotz Familie, als völlig allein empfand: mein. Jetzt ist mein Platz besetzt: Nur eine Frau kann wohl den Bruder der Liebe vorziehn! Für den Mann ist in den Stunden, in denen er liebt, die Liebe alles. Boris liebt die andere ganz so wie 1926 – von fern – mich. Ich habe Boris geschrieben: „Wenn das vor fünf Jahren passiert wäre… aber ich habe meinen eigenen Fünfjahrplan.“ Scharfen Schmerz empfinde ich nicht. Leere…
Was nicht Diamant im Feuer ist – verschlackt.
Nach Rußland glaube ich nicht an Lack…
Marina Zwetajewa, 1926
Marina Zwetajewas Erlebnisse im revolutionären Moskau klärten sich im Ausland ab. Dazu trug die moralische Zersetzung des Emigrantenlebens bei und die finanzielle Notlage, die sie zwang, in armen Vorstadtvierteln von Prag und später Paris zu wohnen. Ohne Beschönigung sah sie nun sowohl russische Intelligenzler, Weißemigranten, die ihr Volk verraten hatten, als auch das Dasein der Armen. Und in ihr erwachte „heiliger Zorn“ (Alexander Block). In einem Brief heißt es: „Ich schreibe in einem Arbeitervorort von Prag, bei armseliger Kaffeehausmusik, die mit dem Rauch ins Fenster schlägt. Das nackte Dasein; auch die Belustigung geht hier auf Tod und Leben.“
In Zwetajewas Gedichten tauchen Lebensbilder der Ärmsten auf („Poem der Vorstadt“, 1928), Satire auf den Spießbürger „Ode an den Fußgänger“, 1931). Mit Ironie erinnert sie sich ihrer früheren, vom Leben des Volkes weit entfernten Verse:
Ich weiß noch… der Offiziersbursche zu mir: „Ihr Bändchen habe ich gelesen, mein Fräulein. Immerzu Alleen, immerzu Liebe: Sie sollten mal über unsereins dichten. Soldaten. Bauern.“ – Ich bin doch kein Soldat und kein Bauer. Ich dichte über was ich kenne. Dichten Sie über was Sie kennen. Selber leben, selber dichten. (Damals hab ich eine Dummheit gesagt – Nekrassow war kein Bauer, aber „Der Kramladen“ wird immer noch gesungen.)
Der soziale Bezug kam ab Mitte der zwanziger Jahre in ihre Lyrik, demonstrativ, brüsk, wie alles, was sie tat, getragen von dem leidenschaftlichen Verlangen, sich mit dem Leben des Volkes zu identifizieren, von brennendem Interesse für alles, was in der Sowjetunion, in der sowjetischen Literatur vor sich ging. Das äußerte sich in ihren Gedichten („Heimat“, 1932; „Die Tscheljuskiner“, 1934), aber auch in der Beziehung zu Majakowski, als dem „ersten Dichter der Massen“, der „unserer Zeit mit seinen schnellen Beinen weit vorausgeeilt ist und dort hinter einer Wegbiegung noch lange auf uns warten wird“. Und als Majakowski (1928) vor russischen Emigranten in Paris sprach, war die Zwetajewa die einzige, die ihn begrüßte. Darüber schrieb sie selbst an Majakowski:
Wissen Sie, womit meine Begrüßungsworte an Sie in der ,Eurasia‘ ausgegangen sind? Mit meinem Ausschluß aus den Neuesten Nachrichten, der einzigen Zeitung, die mich gedruckt hat, und auch bloß zehn bis zwölf Jahre alte Gedichte! (NB Neueste Nachrichten!) „Wenn sie nur den Dichter Majakowski begrüßt hätte, aber sie begrüßt in ihm das neue Rußland…“ Da haben Sie Miljukow – da haben sie mich – da haben Sie sich. Würdigen Sie die Sprengkraft Ihres Namens und berichten Sie die beigebrachte Episode Pasternak und sonstwem, wenn Sie es für richtig halten. Sie können sie auch veröffentlichen. Auf Wiedersehn. Ich liebe Sie. Marina Zwetajewa.
Nach 1922 ist die Zwetajewa als Emigrantin in der Sowjetunion nicht verlegt worden. Den Lesern war sie also kaum bekannt. Dennoch fügte Majakowski ihren Brief den Exponaten seiner Ausstellung „20 Jahre Arbeit“ bei. Pawel Antokolski nannte die Jahre um 1930 die Zeit der geistigen Heimkehr der Zwetajewa. „Und wenn es in den folgenden Jahren geschah, daß ihre beschwörende Stimme bis nach Moskau drang, klang sie mit magischer Gewalt und löste Mitgefühl, Mitleiden, Mitfreude aus. Wenn sie auch keineswegs oft zu hören war, wenn damals auch sehr wenige Gelegenheit hatten, Marina Zwetajewas Gedichte zu lesen und zu würdigen, so ändert das am Wesen der Sache nichts! Wie dem auch sei, die Heimkehr der großartigen Dichterin begann bereits damals. Sie lag unumstößlich in ihrem eignen Heimweh beschlossen. Und wenn ihre Heimkehr heute in dieser Auflage von vierzigtausend zum Ausdruck kommt, die in ihrem eigenen Land bereits vergriffen ist, so bedeutet das, daß bereits in den dreißiger Jahren das zu Leben und Unsterblichkeit bestimmte Phänomen hervortrat.“
1932 schrieb die Zwetajewa (in „Heimat“):
Die Ferne, aller Nähe feind,
Die Ferne, die mir sagt: kehr heim.
Von allen – bis zum Himmelsstern −
Von allen Orten mich entfernt!
Pasternak bekannte sie in maßloser Trauer: „Boris, ich sehne mich nach russischer Landschaft, nach Kletten, nach Wald ohne Efeu, nach mir – dort. Wenn man noch einmal geboren werden könnte…“
In dem Zyklus „Strophen an den Sohn“ (1932) rief sie die Emigrantenkinder auf, nicht den Irrtum ihrer Väter zu begehen, sondern in die Heimat zurückzukehren, „Ins aller Länder Gegenland! – Wohin zurückgehn – vorwärtsgehn heißt…,“
Inspiration plus Knochenarbeit – das ist der Poet
Marina Zwetajewa, 1925
Ohne Hoffnung auf Resonanz und Veröffentlichung arbeitete Marina Zwetajewa unter Aufgebot aller Kräfte weiter. „Ich habe keine Freunde“, schrieb sie Pasternak. „Es gibt da Bekanntschaften mit Damen – Freundinnen, Gönnerinnen, manchmal lieben sie (häufiger mich als meine Gedichte, und wenn sie Gedichte als Draufgabe nehmen, dann, im geheimen Herzen, natürlich die von 1916). Wozu die ganze Arbeit? Dieses Vollschreiben von Spalten und Spalten – auf der Suche eines Wortes, häufig nicht einmal eines Reimes, eines Wortes mitten in der Zeile, das, warum, weiß ich nicht, bei Gott so und so klingen und das und das bedeuten muß! Du kennst das. Darum treibt es mich auch zu dir wie die Planke ans Ufer…“
Über die Arbeit des Dichters, das „heilige Handwerk“, wie sie es nannte, hat Matina Zwetajewa viel geschrieben. Dichten heißt „Adern öffnen“, aus denen wie Blut aus Wunden „Vers“ sprudelt. Solcherart expressive Metaphorik steht in der Poetik Marina Zwetajewas neben anderer. In dem Gedicht über den Tisch der Dichterin zum Beispiel handelt es sich keineswegs um Zeichen oder Symbol, noch Substitution für den Begriff des „heiligen Handwerks“, sondern um einen realen, aus dem Stoff Holz gefertigten, mit Knien und Ellbogen wahrgenommenen Freund und Helfer. Wie die geliebten Bäume, wie Eisenbahnschienen und Telegrafenmasten – alles einfache Gebrauchsgegenstände – gewinnt der Tisch Leben, weil die Dichterin seine Gestalt annimmt, indem sie in sein Innerstes vordringt. Über dieses Gestaltungsprinzip notierte Marina Zwetajewa 1924: „Werde selbst Brücke, oder die Brücke wird du, identifiziere dich oder identifiziere. Sage es immer im Bild. Benennen (eine Sache geben) heißt am wenigsten sie beschreiben. Die Espe ist visuell bereits gegeben, gib sie von innen, aus dem Stamm: mit ihrem Innersten.“ In analoger Weise „verwandelte“ sich die Zwetajewa in Gestalten historisch früherer Epochen oder in literarische Helden wie zum Beispiel Ophelia (in „Hamlets Dialog mit dem Gewissen“, 1923).
Die Gedichte der Zwetajewa sind für gewöhnlich kurz und ohne äußere Handlung. Auf Kontrast und Widerspruch gebaut, auf den Kampf der Leidenschaften gegründet, äußerlich wie ein Monolog, enthalten sie jedesmal einen Disput mit einem unsichtbaren Widersacher. Die verborgene Feder, die den Bogen des Gedichtes spannt, ist die starke, komprimierte Emotion. Charakteristisch sind Tonlagen der lebendigen Umgangssprache. Wie im erregten Gespräch werden einzelne Wörter verschluckt und von der Geste ersetzt. Dann entsteht eine Pause, durch Gedankenstrich gekennzeichnet. Oftmals ist der Rhythmus kein fließender, gesanglicher. Die Dichterstimme überstürzt sich quasi und stolpert.
Wie ihre Zeitgenossen Majakowski und Pasternak hat die Zwetajewa viel Neues in die russische Dichtkunst eingebracht, und wie jeder Neuerer stützte sie sich dabei auf Traditionen, von denen sie sich zugleich löste. Ossip Mandelstam sagte: „… ist kein Dichter ohne Stammbaum, ohne Ahnentafel: jeder kommt von weit her und geht weit hinaus.“ Indem sie sich von den derzeitig zur Mode gewordenen Symbolisten scharf absetzte, kam die Zwetajewa von sehr „weit her“: Am nächsten standen ihr die Romantiker des neunzehnten Jahrhunderts, russische wie deutsche. Hölderlin und Heine erwähnt sie mehrfach als Lieblingsdichter der Vergangenheit, von den Zeitgenossen Rilke, in der russischen Poesie Michail Lermontow. Mit ihrem Gesamtwerk setzt die Zwetajewa die russische Lyriktradition des neunzehnten Jahrhunderts fort, die in Tjutschew gipfelte. „Wenn ich an den russischen Charakter ihrer Poesie denke“, schrieb Ilja Ehrenburg 1957 im Vorwort zu dem Zwetajewa-Lyrikband, der nach langer Pause zum Druck vorbereitet wurde, „wende ich mich am wenigsten ihren Märchen oder dem zu, was sie dem Volkslied entnommen hat. Die äußeren Zeichen sagen scheinbar etwas anderes aus: das Wissen von und die Liebe zu den verschiedensten Richtungen – zu den alten Griechen, zu Deutschland, zu Frankreich. In ihrer Jugend begeisterte sich die Zwetajewa an ,L’Aiglon‘ und der ganzen Pseudoromantik von Rostand. Dann gingen ihre Neigungen tiefer: Goethe. ,Hamlet‘, ,Phèdre‘. Sie dichtete auf französisch und deutsch. Doch fühlte sie sich überall, außer in Rußland, als Ausländerin. Ihr Herz hing an der Heimatlandschaft – von der ,flammenden Vogelbeere‘ der Jugend bis zum letzten blutenden Holunder. Grundthema ihrer Dichtung sind Liebe, Tod, Kunst, und diese Themen löste sie auf russische Weise, nicht nur in der Nachfolge ihrer großen Vorgänger, sondern auch in der Geisteshaltung ihres Volkes. Die Liebe war für sie jenes ,schicksalhafte Duell‘, von dem Tjutschew sprach. Liebe ist entweder Trennung oder quälender Bruch… Über den Tod dachte sie viel nach, hartnäckig, ohne Furcht, aber auch ohne Versöhnung. In ihr war heidnische Weisheit, unhellenische, eigene, russische… Vielleicht könnte man die Gedichte der Zwetajewa über Kunst die schönsten nennen. Handwerkelnde Reimschmiede haßte sie, wußte aber genau, daß kein Ingenium ohne Kunstfertigkeit ist, und setzte das Handwerk hoch an.“
Für meine Verse, wie für alte Weine,
kommt noch die Zeit herauf.
Marina Zwetajewa, 1913
In den dreißiger Jahren eröffnen sich der Zwetajewa neue Horizonte. Nahe sind ihr nun die Leiden einst ferner Völker. „Jetzt, da uns Spanien näher, Spanien heran- und Pseudospanien abgerückt ist, da wir Tag für Tag tote und lebende Frauen- und Kindergesichter vor Augen haben…“, konstatiert sie 1937.
Voll Trauer und Zorn sind ihre Gedichte an das von den Faschisten okkupierte Böhmen (1938). Im Nachhinein bedauert sie, vieles, als sie in Prag lebte, nicht begriffen und liebgewonnen zu haben. „Ich glaube“, schrieb sie am 24. November an Anna Teskova, „die Tschechoslowakei ist mein erster Schmerz dieser Art. Rußland war zu groß und ich zu jung. Es bekümmert mich auch, daß ich für die Tschechoslowakei damals ebenfalls zu jung war…“
Dem tschechischen Zyklus war ein trauriges Schicksal beschieden. Es sollten ihre letzten Gedichte sein. Durch den Zorn der Zeilen klang zum erstenmal hoffnungslose Verzweiflung – die starke Lebenskraft verließ Marina. Zwar will sie noch glauben, daß „das Volk nicht stirbt“, aber angesichts des faschistischen Ungeistes, der sich über Europa verbreitet, verfällt sie dem Entsetzen:
Klage des Zorns und der Liebe!
Salz, das auf Augen ruht!
Oh, und Böhmen in Tränen!
Oh, und Spanien im Blut!
O schwarzer Berg, der du das
Licht verdunkelt hast!
Zeit ists, Zeit, dem Schöpfer
Hinzuwerfen den Paß.
Wladimir Orlow, Marina Zwetajewas Biograph, hört aus diesen Zeilen eine Reprise des Rebellentums gegen die göttliche Weltordnung von Dostojewskis Iwan Karamasow heraus.
Kurz vor dem Überfall des faschistischen Deutschland auf die Sowjetunion kehrte Marina Zwetajewa in die Heimat zurück. Ihre Tochter und ihr Mann, der Spanienkämpfer gewesen war, hatten es vor ihr getan. Die langersehnte Rückkehr brachte leider keine Erlösung. Neuer Kummer suchte sie heim. Mann und Tochter fielen Verleumdung und Repressalien zum Opfer. Marina fand noch die Kraft, einige wenige literarische Verbindungen wiederherzustellen, übernahm Übersetzungsaufträge und bereitete einen Band eigener Gedichte zum Druck vor; da ereilte sie ein neues Unglück: der Krieg. Mit ihrem sechzehnjährigen Sohn wurde sie nach Jelabuga evakuiert, wo sie, von den Entbehrungen der ersten Kriegsmonate zerrüttet, ihrem Leben ein Ende setzte. Es geschah am 31. August 1941. Einen Zeugen ihrer letzten Stunde gibt es nicht. Ihr Sohn wurde später eingezogen und fiel.
In ihrer Jugend hat Marina Zwetajewa ihren Dichterruhm in ferner Zukunft vorausgesagt. Damals hat sie, die in der Welt der Phantasie und Bücher lebte, das Verhältnis ihrer Zeitgenossen zu ihrer Kunst wenig bewegt. Als reife Dichterin hat sie dann immer häufiger ihre Beziehungen zu ihrer Zeit durchdacht. In dem Artikel „Der Dichter und die Zeit“ versuchte sie 1936 eine Rechtfertigung ihrer schwierigen Position: „Die Zeitgenossenschaft des Dichters ist in der Menge der Herzschläge pro Sekunde, die den genauen Pulsschlag des Jahrhunderts bis in seine Krankheiten hinein angibt.“ Aber diese Rechtfertigung genügte bald nicht mehr. Ihre extreme Ehrlichkeit machte der Zwetajewa immer bitterer die Grenzen bewußt, die ihr Talent gefesselt hielten. Ilja Ehrenburg bezeugte: „Marina Zwetajewa liebte das Leben, bejahte es, aber so zu leben, wie sie wollte, vermochte sie nicht. In Moskau besang sie die Lorelei, Paris, die Insel Helena. Und in Paris gingen ihr die Birken von Kaluga und das traurige Feuer des Holunders nicht aus dem Sinn. Sie begeisterte sich für Stepan Rasins Freischaren, aber als sie mit den Nachkommen ihres geliebten Helden zusammentraf, erkannte sie sie nicht. Ihr ganzes Leben lang kämpfte sie mit sich selbst.“
Doch in aller tragischen Zerissenheit hat die Zwetajewa ihre Dichterstimme bewahrt und den Weg zur nationalen Poesie gefunden. Zweifellos war ihr Talent größer als ihr Werk. Es war so stark, daß, was sie schuf, wesentlicher Bestandteil russischer Dichtung des zwanzigsten Jahrhunderts wurde und Weltgeltung erlangte.
Alexander Twardowski, einer der größten russischen Dichter unserer Zeit, schrieb: „M. Zwetajewa kommt in der Entwicklung der russischen Lyrik zweifellos eine so bedeutende Rolle zu, daß jedermann, der sich für Gedichtetes interessiert, ihr Werk in dieser oder jener Form kennenlernen sollte.
In dem Buch ist viel Herzeleid, schmerzliches Bedenken, qualvolle Mühe, eine Welt zu gestalten, die sich der Dichterin oftmals dunkel und barbarisch darstellte (hier spiegeln sich die Besonderheiten eines schweren Schicksals), aber es ist darin auch so viel ungebrochene und innige Liebe zum Leben, zur Poesie, zu Rußland, auch zu Sowjetrußland, und so viel Haß gegen die bourgeoise Welt der ,Reichen‘ wie Pathos antifaschistischer Ausrichtung.
Was im eigentlichen den Vers betrifft, das Wort, den Klang, die Intonation, so handelt es sich hier um ein überhaupt seltenes und bewunderungswürdiges Phänomen der russischen Poesie.“
Edel Mirowa-Florin, Nachwort, 1979
Vor gut einem halben Jahrhundert sagte Marina Zwetajewa (1892–1941), Hexenmeisterin des russischen Wortes, blutjung und namenlos, die Zeit für ihre Verse voraus. Die Sonne ist mein. Ich geb sie niemandem her – verkündete ein maßloser Anspruch an sich und die Welt. Von allen Eine, für sie, gegen sie – lautete die kämpferische Formel für das eigene Leben und Werk.
Ein viertel Menschenleben später hatte sich die Gewißheit von der selbstgewählten Mission in Absage verkehrt: In der Gegenwart und in der Zukunft ist für mich kein Platz. Dazwischen liegen Emigration und Desillusionierung, Heimweh, materielle Not und Einsamkeit auf der Suche nach einem richtigen Leben richtiger Menschen in der Welt der Reichen – Stationen auf dem „Leidensweg“ einer großen Dichterin, deren Rebellennatur im Dienst der Kunst zwischen die politischen Fronten ihrer Zeit geriet und die spät und mit Schmerz erkannte: Alle Kraft ist dort. – Im Lande Majakowskis.
Dennoch schuf die „Frau mit der unternehmenden Seele eines Mannes“ aus Inspiration plus Knochenarbeit stimmgewaltige Poesie, urrussische Verse über Liebe, Tod und Leben, über die Kunst und die Welt, die durch alle tragischen Widersprüche hindurch den genauen Pulsschlag des Jahrhunderts bis in seine Krankheiten hinein vermitteln.
Unter uns Heutigen ist dieser Stimme, die auf Wahrheit brennt, der Platz bereitet.
Verlag Volk und Welt, Begleitzettel, 1980
– Zwetajewas eigenwillige Interpunktion. –
Asketische Disziplin gehört zur Grundausstattung von Zwetajewas Charakter. Aber dieser kennt auch den Exzeß: in der Liebe (die sich auf beide Geschlechter erstreckt), in der Kunst, deren Maximalismus keine Grenzen duldet:
Das, was für euch ,Spiel‘ ist, ist für uns der einzige Ernst. Ernsthafter werden wir auch beim Sterben nicht sein.
Der Selbstanspruch ist kolossal: von jenem Moment an, da Marina – die dem Wunsch der Mutter gemäß ein Junge hätte sein sollen und später Pianist – dezidiert das Schreiben wählt. Mit diesem Entschluß beginnt eine poetische Recherche, wie sie – nicht nur in der russischen Dichtung des 20. Jahrhunderts – an Radikalität ihresgleichen sucht. Zwetajewa gibt 1910 – als Gymnasiastin und im Selbstverlag – ihren ersten Gedichtband Abendalbum heraus; ihm folgen weitere Versbände, Poeme und Theaterstücke, Essays und Tagebuchaufzeichnungen, autobiographische Erinnerungen und lyrische Nekrologe. Ob Poesie oder Prosa: Zwetajewa entwickelt einen eigenwilligen, bis zur Sinnverdunklung komprimierten Stil von höchster Expressivität. Die Radikalisierung der künstlerischen Mittel steht dabei in direktem Verhältnis zur Schwierigkeit der Lebensumstände, als hätte Zwetajewa die Kunst dem Leben abtrotzen müssen. Während sie sich mit ihrer Tochter Ariadna darbend durch die Moskauer Revolutions- und Bürgerkriegszeit kämpft – der Mann gilt als verschollen, die jüngere Tochter verhungert im Kinderheim –, besingt sie aufmüpfig die Weiße Armee. In der Emigration – zunächst in Prag (1922–1925), dann in Paris (1925–1939) –, wo zur materiellen Misere eine wachsende Vereinsamung hinzukommt, sympathisiert sie unverhohlen mit den Roten und brüskiert die Auslandsrussen durch ihre kühnen Verse. 1928 erscheint ihr letzter Gedichtband zu Lebzeiten, Nach Rußland – keiner poetischen Schule, keiner politischen Richtung verpflichtet. Das Lebensdrama spitzt sich 1939 zu, als Zwetajewa mit ihrem (1925 geborenen) Sohn in die Sowjetunion zurückkehrt. Nicht freiwillig: ihr Mann – vom Weißgardisten zum reuigen Kommunisten, ja, zu einem Mitarbeiter des sowjetischen Geheimdienstes konvertiert und als solcher am Mord eines ehemaligen GPU-Agenten bei Lausanne beteiligt – muß Frankreich schon 1937 fluchtartig verlassen; die heimwehkranke Tochter war aus eigenen Stücken gefahren. Doch kaum ist die Familie in Moskau vereinigt, werden Mann und Tochter verhaftet. Zwetajewa ist mittellos, isoliert. Der Kriegsausbruch erfüllt sie mit Panik. Zusammen mit ihrem Sohn wird sie in die tatarische Kleinstadt Jelabuga evakuiert, wo sie sich am 21. August 1941 das Leben nimmt.
Die Gründe für den Selbstmord sind in den verheerenden äußeren Umständen zu suchen, haben aber zweifellos auch mit inneren Ambivalenzen zu tun. Denn das Selbstbild Zwetajewas oszilliert zwischen den gegensätzlichen Polen von Mutter und Dichterin, von Heldin und Opfer, von Lilith und Eva, von Amazone und Phädra. (Wie die antika Phädra wählt sie den Tod durch den Strick.) Androgynität bzw. Bisexualität deuten auf eine weitere Zweiheit hin, explizit thematisiert in der französisch verfaßten Schrift „Mon frère feminin. Lettre à l’Amazone. Auffallend bei alledem ist, daß Zwetajewa die „Koexistenz des Konträren“ anstrebt, mithin die Zerrissenheit in den Status der Norm erhebt. Not oder Tugend? Wohl beides zugleich, wobei der Hang zu Widerspruch, Transgression und Maßlosigkeit unverkennbare Züge einer Rebellion gegen den „ersten Vater“ trägt.
Zwetajewas poetische Recherche manifestiert sich stilistisch in einer Tendenz zu äußerster Verknappung und Verdichtung, zu Prägnanz und Intensität. Dazu dient eine elliptische Syntax (Verbenarmut kontra Substantivfülle) sowie eine verblüffend reiche Interpunktion, die einer eigentlichen Text-Inszenierung gleichkommt. Zwetajewas bevorzugtes Satzzeichen ist das Tiret (der Gedanken- und Trennungsstrich), gefolgt von Doppelpunkt und Ausrufezeichen. Was es mit dem Tiret auf sich hat, ist in der autobiographischen Kindheitserzählung „Mutter und die Musik“ nachzulesen:
Als mich später meine Versrhythmik veranlaßte, die Wörter durch ungewöhnliche Tirets in Silben zu zerlegen, zu zerreißen, und mich deswegen alle jahrelang tadelten und nur wenige lobten (letztere wegen meiner ,Zeitgemäßheit‘) und ich nichts anderes zu erwidern wußte als ,so muß es sein‘, sah ich eines Tages plötzlich die Romanzentexte meiner Kindheit vor mir, mit all ihren gesetzmäßigen Tirets, und fühlte mich gewaschen: durch die Musik von aller ,Zeitgemäßheit‘ rein-gewaschen, gewaschen, gehalten, bestätigt und legitimiert…
Die Interpunktion als quasi-musikalische Notation, im Dienste der Versrhythmik? Gewiß, sofern lautliche Instrumentierung angestrebt wird (und Zwetajewa schrieb mit dem Ohr, verlangte von der Sprache musikalische Qualitäten, die im mündlichen Vortrag hörbar sein sollten). Doch zielt das „Zerlegen“ und „Zerreißen“ tiefer, ins Semantische: Indem die Rede ins Stocken, zu einem nervösen Staccato gerät, wird sie zum emotional aufgeladenen Drama. Während das Ausrufezeichen die Evidenz des Vorhandenen betont, verdeutlicht, verstärkt, pathetisiert, wird durch den Doppelpunkt nicht bloß eine lautliche Zäsur markiert, sondern auf eine weitere, geheime, „letzte“ Wortbedeutung verwiesen, auf ein Dahinter und Darunter…
Die Leidenschaftlichkeit, mit der Zwetajewa interpunktierend inszeniert, hat deutlich dramatische Züge. Das Drama war ihr weder als Genre noch im Leben fremd. Zwischen 1918 und 1927 schrieb sie acht Theaterstücke bzw. Versdramen (unter anderem „Phoenix“, „Ariadne“ und „Phädra“), und im selben Zeitraum „dramatisieren“ sich ihre Gedichte und Poeme: durch Dialoge und eine opulente Satzzeichengebung. Als Beispiel sei das Gedicht „Der Vorhang“ von 1923 angeführt:
Gleich des Vorhangs Wasserfällen, der wie Schäumen–
Tannenrauschen – Flammenlodern – spricht.
Vor der Bühne hat der Vorhang kein Geheimnis:
(Die Bühne – du, der Vorhang – ich.)
Dem Schilfdickicht, geträumten, gleich ein Rückhalt
(Die Flut des hohen Saals – Betroffenheit)
Verberge ich den Helden im Kampf mit dem Schicksal,
Den Ort der Handlung – und – die Zeit.
Gleich den Regenbögen seines Wassers, der Lawine
Lorbeer (hat vertraut ja! – schon gewußt!)
Raube – hegend – deinen Raum ich – ihnen
(Zaubere des Saales – Lust!)
Das Geheimnis des Vorhangs! Traumgesichtigen Waldes
Schlaf-Mittel, -kraut, -korn…
(Hinter schon erschauernden Falten
Stürmt die Tragödie – wie – Zorn!)
Tränen – Lügen! Rang – Alarm, Glockenschlegel!
Zeit, erfülle dich! Sei, Held, wer du bist!
(Der Vorhang geht – wie – ein Segel,
Der Vorhang wogt – wie – die Brust.)
Oh, du Innerstes! – noch aus letztem Herzen
Umhege ich dich. – Explosion! –
Über Phädras – Natternbiß –! Schmerzen
Stieg – wie – ein Greif – er schon.
Da! Reißt – schaut! Es fließt, nicht wahr, euer Opfer?
Bei der Hand mit dem Schaff für das Blut!
Die erhabene Wunde fort geb ich bis auf den Tropfen.
(Des Zuschauers – Weiß. Des Vorhangs – Rot.)
Und dann – der Decke Mitleid mit dem Leiden,
Senkt – ein Bannerrauschen – sich.
Vor dem Saal hat der Vorhang kein Geheimnis.
(Des Saales Leben, der Vorhang – ich.)
(Übersetzung: Elke Erb)
Das Theater ist hier Thema – gespielt wird die Tragödie „Phädra“ –, und mit dem Vorhang, der das Publikum von der Bühne, das reale vom inszenierten Leben trennt, benennt Zwetajewa ihr eigenes zwitterhaftes Wesen, das zwischen „Wahrheit“ und „Dichtung“, zwischen Faktum und Fiktion vermittelt. Im Dichter-Ich kippt die Tatsachenwelt ins Illusionäre; diese wundersame Membran separiert Schmerz von Schmerz, ohne jemandem ein Geheimnis schuldig zu bleiben.
Als Trenninstanzen (oder Mini-Vorhänge) fungieren im Gedicht die Tirets. Selbst die Vergleichspartikel „wie“ wird beidseitig durch Tirets abgetrennt, wodurch die Parallele zwischen Vorhang und Ich besonders ins Auge sticht. Gleichzeitig bilden die Tirets und übrigen Satzzeichen das ordnende Gerüst des Gedichts, dessen elliptischer Nominalstil – bei 200 Wörtern – mit nur 20 finiten Verben auskommt und bisweilen an die Grenzen der Verständlichkeit stößt. Solche Komprimierung, im Verein mit den splittenden Satzzeichen, erzeugt etwas stoßweise Stammelndes, ja, Explosives – und viel Emphase. Womit wir wieder bei Zwetajewas dramatischem Talent wären.
Gekonnt bedient sich dieses der Interpunktionsrhetorik in dem – Boris Pasternak gewidmeten – Gedicht „Zwei“ (1923), das die distanzbedingte Krise einer Freundschaft beschwört:
… Geschieden! – sogar auf der Lagerstreu
Geschieden! – und schlagend sich bekriegend
Geschieden! – im Zwiesinn des Sprachgehäuses
Spät und geschieden – unsere Ehe!
Aber noch ältere Kränkungen gibt es:
Die Amazone, gefällt wie ein Löwe –
So trennten sich der Sohn der Thetis
Und Ares’ Tochter: Achilles und
Penthesilea.
aaaaaaaaaaGedenk ihres Blicks –
Von unten! Eines abgeworfenen Reiters
Blick! nicht vom Olymp – aus dem Mist!
Schlammblick – doch von der Höhe der Leiter!
Sag, was erbringt’s, daß seit dieser Stunde
Eifer ihn sucht: die Frau aus dem Sumpf!
Nicht ist’s bestimmt, daß der Gleiche dem Gleichen…
……………………………………………………………………………
So verfehlten wir – uns.
(Übersetzung: Richard Pietraß)
Besonders emphatisch wirken die Tirets nach dem viermaligen „Geschieden“ mit Ausrufezeichen sowie im Schlußvers „So verfehlten wir – uns“. Wieder fungiert der Gedankenstrich als Trennungsstrich, markiert Distanz. In bezug auf das tragische Paar Achilles und Penthesilea greift Zwetajewa zusätzlich zum Strophenenjambement, um die Diskrepanz der Entfremdung/Entfernung zu verdeutlichen. Der Rückgriff auf antike Mythengestalten gehört im übrigen ebenso zu Zwetajewas Inszenierungsgebaren wie die exzessive Verwendung von Satzzeichen. Inhalt und Form sind nicht zu trennen.
Mit Blick auf die vielfältigen Doppelgänger des lyrischen Ichs – Ophelia und Phädra, Sibylle und Eurydike, Zarenmaid und Bojarin Marina – zeigt sich, wie sehr die theatralische Dramatik immer auch Maskierung beinhaltet. Allein, Maskierung und Inszenierung folgen bei Zwetajewa nicht den Gesetzen spielerischer Nonchalance, sondern gehorchen einer inneren Notwendigkeit. Im Sinne solcher authentisch-radikalen Recherche bilden sie Teil ihrer Poetik.
Unter dem Gesichtspunkt einer feministischen Ästhetik, wie sie heute etwa Marlene Streeruwitz vertritt, darf hinter Zwetajewas „zersplitterter“ Sprache und ihrem Interpunktionsfuror eine Abgrenzung gegenüber der Geschichte der Väter gesehen werden bzw. der Versuch, eine eigene Setzung („Satzung“) zu erproben. Streeruwitz, die ihrerseits eine völlig unorthodoxe Satzzeichengebung (mit rekurrenter Verwendung des Punktes) praktiziert, begründet ihr Vorgehen mit den Worten:
Es war der Geschichte des ersten Vaters und des in ihr transportierten, aber nie preisgegebenen Geheimnisses mit der Suche nach einem eigenen Geheimnis zu entkommen. Es war der Bogen der Geschichte zu zerschlagen und aus den Bruchstücken eine eigene zu formen. Eine andere. Es war die Sprache zu zersplittern und daraus ein neuer, ein anderer Glanz zu retten. Und. Es ging darum, Mittel der Beschreibung dieser Vorgänge und der Abgrenzung zu finden… Gesucht war nicht aggressive Existenz in Stärke. Die Nicht-Invasion. – Ich denke, daß der Punkt in der zerrissenen Sprache diesen Raum, diese Möglichkeiten schafft. Ich denke, daß im Punkt auf der formalen Ebene mein Geheimnis verborgen ist und von da auf die Gesamtstruktur zurückstrahlt.
Auch Zwetajewas Geheimnis läßt sich formal in der Interpunktion orten. Gegen gängige Regeln verstoßend und gekennzeichnet durch eine spezifische (Über-)Inszenierung, steht sie für Dekonstruktion und Konstruktion in einem, spiegelt sie als ästhetisches Mittel den Versuch der Autorin, aus alten Rollen auszubrechen und in der Ambivalenz changierend-widersprüchlicher Selbstbilder zu neuen Setzungen zu gelangen. Der Vorgang entbehrt nicht der Dramatik. Zwetajewas Kunst ist er im höchsten Maße zugute gekommen, während das Leben den kürzeren zog.
Ilma Rakusa, Leicht gekürzte Fassung des Aufsatzes in: Gazzetta Pro Litteris, Heft 2, 2000
HEIMWEH
Heimweh, jedesmal
Entlarvte Illusion
Mir ist es ganz egal
Wo ich allein bin.
Allein auf welchem Stein
Steh mit dem Einkaufsnetz,
Ich weiß nicht, was ist mein,
Wie in Kasernen oder Krankenhaus.
Gleich, vor welchem Gesicht
Sich mir das Fell sträuben muß.
Die Menschen drängeln dicht,
Ich bin herausgedrängt, allein.
Für mich sein. Ein Kamschatkabär
Ohne das Eis. Kann nicht dabeisein,
Kann nicht (wills auch nicht mehr).
Wo man sich beugen muß, mir gleich.
Ich werde nicht hinweggenommen
Von meiner Heimatsprache, ihrem Milchschrei –
Und wenn, die mir entgegenkommen,
Mich nicht verstehn, es ist mir gleich
(als Schlucker von dem Zeitungsbier
Als Zentnerleser, Zeilenmelker)
Sie, 20. Jahrhundert, ist von hier,
Und mein Jahrhundert irgendeins.
Erstarrter Stamm aus dem Bereich
Einer Allee, nun hinterlassen.
Ist mir egal und ist mir gleich,
Vollkommen, ganz und gar, vielleicht.
Gewesener als alles, bin ich gewesen,
All meine Daten, meine Zeichen
Wie von der Hand gelöscht, nicht mehr zu lesen,
Seele, geboren, irgendwo.
Mein Land beschützt mich auch nicht mehr.
So gehn die wachsamsten Spione
Mir durch die Seele kreuz und quer
Finden den Ort nicht mehr, das Muttermal.
Das Haus ist Fremde, der Tempel Leere
Und alles ganz und alles gleich.
Vielleicht von einer Vogelbeere
Ein Ast sich unterwegs entgegenstreckt.1
1932 hatte sich Sergej Efron dem Verband der Heimkehrer in die UdSSR angeschlossen, einer pro-sowjetischen Organisation, deren erklärtes Ziel es war, emigrierten Russen die Rückkehr in die Sowjetunion zu ermöglichen. Auch Alja war beigetreten, und Marina wußte, daß beide sich danach sehnten, nach Rußland zurückzukehren. Doch anfangs war Serjoschas Nachsuchen um einen Paß erfolglos, und Marina war überaus erleichtert, daß er nicht reisen konnte. Sie selbst war entschlossen, nicht zurückzukehren. In einem Brief an Salomea Halpern erklärte sie 1933:
Ich werde auf keinen Fall gehen; wenn es auch Trennung bedeuten würde, die trotz allen Gezänks nach zwanzig Jahren des Zusammenseins schwer zu ertragen wäre.
Ebenso wie ihre Schwester Anastassja, die in der Sowjetunion war, hatte auch Marina dort Freunde wie Pasternak und Ehrenburg; obgleich sie sich in einem Brief an Jurij Ivask vom 4. April 1933 verächtlich von Ehrenburg distanzierte, weil er ohne jedes Rückgrat von einem Lager in das andere wechsle. Sie war keine Frau, die sich dazu hergab, sich zu ducken, Kompromisse zu machen oder einfach nur zu schweigen. Wahrscheinlich war es unvermeidlich, daß sie in Stalins Rußland unliebsame Aufmerksamkeit erregen würde. Sie war, wie Pasternak nach ihrem Tod schreiben sollte,
eine schaffensfreudige Frau mit einer männlichen Seele, entschlossen, kämpferisch, unbezähmbar. Im Leben wie in der Kunst griff sie zielsicher, begierig, ja beinah wild nach dem Bestimmten und Entschiedenen. Doch im täglichen Leben war sie hoffnungslos unpraktisch.2
Im entscheidenden Augenblick blieben einige Stimmen, die sich vielleicht hätten warnend erheben können, stumm. Ehrenburg hatte mehrere Male Paris besucht, Marina jedoch selten gesehen. Wenn sie sich trafen, war er mit ihr ebenso unduldsam wie sie mit der russischen Gemeinde, wie wenig Berührungspunkte sie auch mit ihr hatte; und er machte sich über ihre beharrliche Weigerung lustig, den alten Kalender aufzugeben und das Neue Jahr an einem anderen Tag als dem 13. Januar zu feiern. Doch es tat ihm leid, mitansehen zu müssen, wie schwer ihr Leben war und wie gering die Chancen ihres kranken Mannes waren, Arbeit zu finden. Zwar kannte er die Gefahren zu gut, die sie in der Sowjetunion eventuell erwarteten, doch er mag gedacht haben, daß ihre Situation dort nicht schlimmer sein konnte als in Paris.
Als Ivask nach ihrer Einstellung zum Sowjetregime forscht, wohl wissend, daß ein beträchtlicher Teil des Mißtrauens, das die Emigranten gegen sie hegten, auf ihrer Nähe zur Eurasischen Bewegung beruhte, macht Marinas eigensinnige Antwort deutlich, daß sie sich nie gegen ihren Willen in eine bestimmte politische Position zwingen lassen würde:
Sie meinen vielleicht, daß mein Haß auf die Bolschewiken den Emigranten nicht groß genug ist? Darauf sage ich: es ist eine andere Art von Haß. Die Emigranten hassen sie, weil sie ihnen ihren Besitz weggenommen haben, ich hasse sie – weil sie Boris Pasternak nicht in sein geliebtes Marburg fahren lassen, und mich nicht in meine Geburtsstadt Moskau. Und Hinrichtungen, mein Lieber – alle Henker sind Brüder, gleich, ob es sich um die Hinrichtung eines Russen nach einem ordentlichen Gerichtsverfahren oder um einen Schuß in den Rücken durch die Tscheka handelt –, ich schwöre Ihnen, daß alles die gleiche Gemeinheit ist, der ich mich nie unterordnen werde, wie keiner organisierten Gewalt, in wessen Namen auch immer.3
Das gewaltige Ausmaß der politischen Morde in der Sowjetunion unter Josef Stalin war noch nicht bekannt; vielmehr gelangten andauernd Akte unerwarteter Großzügigkeit (wie im Fall Woloschins) zu ihrer Kenntnis.
Der Verlust von Ehrenburgs Freundschaft wog für Marina weniger schwer als das allmähliche Abnehmen ihrer Korrespondenz mit Pasternak. Nicht, daß Pasternak seine Freundschaft mit Marina vergessen oder in seiner Bewunderung für ihre Dichtung nachgelassen hätte; im Gegenteil, sein außerordentlich tiefes Verständnis für ihre persönliche Eigenheiten wie für ihren Rang als Dichterin verstärkten sich eher. Wie er sie sah, läßt sich einem 1928 datierten und 1929 veröffentlichten Gedicht entnehmen; als ihren besonderen Vorzug beschreibt er dort, daß sie die Wahrheit der Dinge, so wie sie seien, akzeptiere; eine selbstverständliche Bejahung, die sich auf alles erstrecke, was zufällig eine eigene Schönheit besitze:
Hast recht, die Taschen ausgekehrt
Zu sagen: sucht nur, wühlt und scharrt.
Was schert mich, was den Nebel nährt
Wenn märzenklar ist jeder Fakt.4
Anders als Ehrenburg hatte ihn das Wissen um das, was sich in der gesamten Sowjetunion abspielte, bis an den Rand des Wahnsinns getrieben. Seit Anfang der 3oer Jahre war er in miserabler seelischer Verfassung gewesen, als er mehrere von Reisen unternahm, um Material für ein Buch über die neue Kollektivierung der Landwirtschaft zu sammeln. Auf diesen Reisen fand er überall ein so unvorstellbares Elend, daß „ich es einfach nicht begreifen konnte. Ich wurde krank. Ein ganzes Jahr lang konnte ich nicht schlafen.“ Um so bemerkenswerter ist es, daß Pasternak, als die beiden Dichter sich (nach so vielen Jahren der Planung) 1935 in Paris trafen, versäumte, Marina oder ihre Familie vor den Gefahren zu warnen, die ihnen im Fall ihrer Rückkehr drohten. Noch Jahre nach ihrem Tod machte er sich deswegen Vorwürfe. Doch es fällt schwer, ihn strenger zu verurteilen, als er das selber tat.
Pasternak traf im Juni 1935 als Delegierter des von den Kommunisten geförderten Kongresses für die Verteidigung der Kultur in Paris ein. Er war krank und unglücklich; ein eingeschüchterter Mann, der genau wußte, was in der Sowjetunion nach der Ermordung von Kirow (die als Vorwand für die stalinistischen „Säuberungen“ diente) geschehen war, und nicht darüber sprechen durfte. Möglicherweise wäre er einer Begegnung mit Marina von sich aus ausgewichen, wäre sie nicht vorschnell in seinem Hotel aufgetaucht. Trotzdem, und obwohl sie sich während seines Aufenthaltes in Paris mehrere Male trafen, blieb er zurückhaltend. Voller Wut über die Unmöglichkeit, mit ihm einen echten Kontakt hergestellt zu haben, schrieb Marina ihm nach seiner Abreise einen schroffen Brief. Der Gegensatz zwischen ihrer Bereitschaft, auch menschlichen Belangen gerecht zu werden, und Pasternaks instinktiver, selbsterhaltender Art, sich davor zurückzuziehen, den sie in diesem Brief offenlegt, ist jedoch unzweifelhaft vorhanden und für das Verständnis von Marinas Lebensauffassung von entscheidender Bedeutung.
1935 war Marina bei schlechter Gesundheit, unterernährt und einsam. In den Briefen an ihre tschechische Freundin Anna Tesková liefert sie eine qualvolle Bestandsaufnahme der Lebensweise, der sie sich ausgeliefert sah. Sie war der dreizehn Jahre des Exils müde, in denen sie sich mit den täglichen Zwängen des Kochens und Einkaufens herumschlagen mußte und zugleich die Hauptstütze für zwei Kinder und einen selten nicht an Tuberkulose leidenden Ehemann war. Das grundlegende Paradox in ihrem Wesen bestand darin, daß Marina nicht jene rücksichtslose Frau war, von der sogar ihre eigene Tochter schrieb:
Sie war imstande, alle Dinge ihrem Werk unterzuordnen. Ich betone: alle.5
Marina wurde von einer Standhaftigkeit aufrechterhalten, die sie, wie sie selber sagte, von ihrer Mutter gelernt hatte.
Und doch zeigte sie gewiß weniger Verständnis für Pasternaks Lage als er für die ihre. Pasternak kam elend an, weil er von den Säuberungen wußte, die im Westen unerwähnt blieben. Eine große Delegation antifaschistischer Schriftsteller war glücklich, an dem Kongreß teilzunehmen, darunter Heinrich Mann, André Gide, Henri Barbusse, Bertolt Brecht, André Malraux und Louis Aragon (natürlich auch Ehrenburg). Pasternaks und Isaak Babels Anwesenheit war durch den speziellen Wunsch einer Gruppe französischer Schriftsteller ermöglicht worden, die beim sowjetischen Botschafter in Paris interveniert hatten, obgleich keiner der beiden Autoren ursprünglich der sowjetischen Delegation angehört hatte. Deshalb trafen beide mit dem Flugzeug in Paris ein, als der Kongreß seine Arbeit bereits aufgenommen hatte.
Zweifellos befand sich Pasternak im Zustand akuter Angst. Er war gezwungen worden, seine Frau in Rußland zu lassen, und er versuchte Marina zu erklären, wie man ihn mit Gewalt in ein Flugzeug gesetzt hätte. Während seines Aufenthaltes tat er kein Auge zu. Einmal fand er Gelegenheit, Marina, die unter den Zuhörern war, zuzuflüstern:
Ich habe nicht gewagt, nicht zu fahren; bei mir erschien Stalins Sekretär, und ich hatte Angst.
Marina konnte den Inhalt dieser Drohung nicht verstehen. Und Pasternak war es unmöglich, dem Kongreß die Gründe für seine seelische Verwirrung zu erklären; er sprach in seiner Rede von seiner Krankheit und sagte nur wenige Worte über Dichtung. André Malraux, der ihn vorstellte, nannte ihn „einen der wirklich großen Dichter unserer Zeit“ und fungierte bei Pasternaks Rede als Übersetzer. Pasternak erhielt anhaltenden stürmischen Beifall. Gleichwohl liegt eine schreckliche Ironie in Pasternaks Kennzeichnung der Dichtung als einer „organischen Funktion des menschlichen Glücks, ausgestattet mit dem segensreichen Geschenk rationaler Sprache“, da er gleichzeitig wußte, daß alles, was im menschlichen Wesen niederträchtig und irrational war, in seinem eigenen Land entfesselt war.
Als Marina in unpassender und überaus ärmlicher Kleidung in sein Hotel kam und sich ihm, der sich mit anderen Mitgliedern der sowjetischen Delegation unterhielt, näherte, muß zu Pasternaks Ehre gesagt werden, daß er sie herzlich und stolz begrüßte und sie seinen Begleitern als „eine unserer großen russischen Dichterinnen“ vorstellte. Nach ihrer ersten Begegnung trafen sich Pasternak und Marina mehrere Male in den Gängen des Gebäudes, in dem der Kongreß stattfand, und sprachen über die Gedichte, die sie in der letzten Zeit geschrieben hatten. Pasternak hatte auch Gelegenheit, Marina in ihrer Wohnung zu besuchen und ihre Kinder und ihren Gatten kennenzulernen. Er sagte von Serjoscha, dieser sei „ein sensibler, charmanter, äußerst standhafter Mann, den ich wie meinen eigenen Bruder lieben lernte“. Pasternak schrieb das 1967, als ihm alle Fakten von Efrons Leben bekannt waren; und „standhaft“ ist angesichts von Efrons politischen Prinzipien gewiß ein überraschendes Adjektiv. In bezug auf Serjoschas Treue zu Marina traf es jedoch völlig zu, und das mag für Pasternak der wichtigste Gesichtspunkt gewesen sein.
Pasternak war bekannt, daß Marinas Familie in die Sowjetunion zurückzukehren beabsichtigte; inzwischen betrachteten Serjoscha, Alja und Mur den Kommunismus als ihr Ideal. Pasternak sah, welch schreckliches Leben Marina in Paris führen mußte und daß sie es unmöglich viel länger würde durchhalten können. Trotzdem brachte er es nicht über sich, sie zu warnen, als sie ihn nach seiner Meinung fragte. 1967 schrieb er ein wenig beschönigend in Novy Mir:
Ich wußte nicht, was ich ihr raten sollte, ich fürchtete, daß für sie und ihre bedeutende Familie das Leben in Rußland schwer und unruhig werden würde. Die Tragödie dieser Familie übertraf bei weitem alle meine Befürchtungen.6
Pasternak wußte genau, wie unglücklich das Exilleben sie machte, und dabei dachte er nicht bloß an ihre Armut. In Lava. Meine Zeit mit Pasternak zitiert Olga Iwinskaja ein paar Zeilen von ihm, bei denen er eindeutig an Marina gedacht hat:
Ein fernes, fremdes Land. Fremder Regen
Rinnt von den Hüten in die Gräben
Und zur Eiche geworden, bar jeder Hoffnung,
Steht der Dichter, ein fremder, wie Puschkins Müller.7
Er muß bereits gewußt haben, daß es Marina an jeder Voraussetzung fehlen würde, in Stalins Rußland zu überleben: Sie hätte sich den wichtigsten Grundsatz nicht zu eigen machen können – das Haupt zu beugen. Doch ohne ihre Familie wäre sie in Paris ebenfalls verloren gewesen.
In einem Brief an Anna Tesková vom 2. Juli 1935 macht Marina deutlich, Pasternak hätte sich nicht solche Vorwürfe machen zu müssen, wie er es tat. Er hatte davon gesprochen, er fühle sich nicht wohl und stehe am Rand eines Nervenzusammenbruchs; wahrscheinlich hatte er Marinas seelischen Zustand überhaupt kaum wahrgenommen. Was sie in ihrem Brief andeutet, legt diesen Schluß gewiß nahe:
Ich werde über das Treffen mit Pasternak (es fand statt – und was für eine Nicht-Begegnung) schreiben, sobald Sie mir antworten.8
Als Pasternak Paris verließ, fühlte er sich zu elend, um sofort nach Rußland zurückzukehren, und er verbrachte zwei Tage bei der Familie Lomonossow in London, bevor er sich nach Leningrad einschiffte. Marina mochte nicht glauben, daß er, als er mit der Eisenbahn durch Deutschland gefahren war, nicht ausgestiegen war, um seine Mutter zu besuchen, die in München lebte. Der folgende Brief zeigt, wie wenig sie von dem begriff, was Pasternak durchgemacht hatte. Sie hatte keine Vorstellung von dem Druck, der auf ihm lastete, sonst hätte sie nicht so unbarmherzig angedeutet, er müsse „geringer“ von sich denken.
Ende Oktober 1935
Lieber Boris!
Ich habe alles beiseite geworfen und antworte Dir sofort… Zu Dir: zugegeben, man darf Dich nicht verurteilen wie einen Menschen…
Schlag mir den Kopf ab, aber ich werde nie begreifen, wie man im Zug sitzen bleiben und an seiner Mutter vorbeifahren kann, an zwölf Jahre langem Warten. Und auch Deine Mutter wird es nicht begreifen – erwarte das nicht. Hier hat mein Verständnis ein Ende, mein menschliches Verständnis. Ich bin hierin das Gegenteil von Dir: ich spanne mich selbst vor den Zug, um das Wiedersehen möglich zu machen (obwohl ich mich vielleicht ebenso davor fürchte und mich ebensowenig freue). Und hier muß ich eine Beobachtung anbringen: Alle, die mir nahestanden – es waren wenige –, erwiesen sich als viel, viel weicher als ich, selbst Rilke schrieb mir: „Du hast recht, doch Du bist hart.“9 – und das betrübte mich deshalb, weil ich anders nicht sein konnte. Heute, Rückschau haltend, sehe ich: Meine scheinbare Härte war nur – Form, Kontur des Wesens, unerläßlicher Selbstschutz – vor eurer Weichheit: Rilke, Marcel Proust und Boris Pasternak. Denn in letzter Minute habt ihr die Hand zurückgezogen und mich, die ich schon lange aus der Familie der Menschen ausgeschieden war, allein gelassen mit meiner Menschlichkeit. Unter euch, Nicht-Menschen, war ich nur Mensch. Ich weiß, daß ihr einer höheren Gattung angehört, und es war an mir, Boris, Hand aufs Herz, zu sagen: – Oh, nicht ihr – ich bin der Proletarier. – Rilke starb, ohne weder Frau noch Tochter, noch Mutter gerufen zu haben. Und alle – liebten. Das war die Sorge um die eigene Seele. Wenn ich einmal sterben werde, werde ich nicht dazu kommen, an sie (mich) zu denken, ganz damit beschäftigt: ob die, die mir das Geleit geben sollen, auch beköstigt sind, ob sich meine Nächsten bei meinem Konsilium auch nicht ruinieren, und bestenfalls (vielleicht), egoistisch – ob sie nicht meine Manuskripte fortschleppen.
Ich selbst (allein mit meiner Seele) war ich nur in meinen Heften und auf einsamen Wegen – selten, denn das ganze Leben habe ich ein Kind an der Hand geführt. Für „Weichheit“ im Umgang reichte es bei mir nicht mehr, nur für den Umgang: fürs Dienen: nutzlose Aufopferung. Die Pelikan-Mutter ist – aufgrund des von ihr geschaffenen Ernährungssystems – böse.
– So ist das.
Zu eurer Weichheit: Ihr kauft euch frei mit ihr, verstopft mit dieser hygroskopischen Watte die Wunden, die ihr schlugt, verschließt der Wunden brüllenden Schlund. Oh, ihr seid gütig, ihr könnt bei einem Gespräch nicht als erster aufstehen, könnt euch noch nicht einmal als erster räuspern, zum Abschiedssatz ansetzen – um „niemanden zu kränken“. Ihr „geht nach Zigaretten“ und verschwindet für immer, um dann in Moskau, Wolchonka 14, oder an noch entfernterem Ort aufzutauchen. Robert Schumann vergaß, daß er Kinder hatte, vergaß, wie viele es waren, vergaß ihre Namen, vergaß überhaupt die Tatsache, fragte nur, ob die älteren Mädchen immer noch so wunderschöne Stimmen hätten.
Aber – nun eure Rechtfertigung – nur so Geartete vollbringen solches. Auch Goethe war war einer von euch, der nicht Abschied von Schiller nehmen ging, der x Jahre nicht zu seiner Mutter nach Frankfurt fuhr – um sich für den Faust Zwei zu bewahren – oder für sonst noch etwas, aber (Klammer!) – die Kühnheit besaß, sich mit vierundsiebzig zu verlieben, und heiraten wollte – da schonte er sein Herz (das physische!) nicht mehr. Denn darin seid ihr Verschwender… Denn ihr heilt euch von allem (von eurem ganzen Selbst, diesem Grauenhaften: dem Unmenschlichen in euch, dem Göttlichen in euch… durch das einfachste Mittel – die Liebe… Ich selbst habe die Welt der Nicht-Menschen gewählt – was hadere ich?
… Deine Mutter, wenn sie Dir verzeiht, ist die Mutter aus jenem mittelalterlichen Gedicht – erinnerst Du Dich, er lief fort, das Herz der Mutter fiel ihm aus den Händen, und er stolperte darüber:
„Et voici que le cœur lui dit: T’ es-tu fait mal, mon petit?“ Nun leb wohl. Laß es Dir gut gehen. Denk nicht so viel über Dich nach. Alja und Serjoscha richte ich Deine Grüße aus, sie denken mit großer Zärtlichkeit an Dich zurück und wünschen Dir – wie ich – Gesundheit, Kraft zum Schreiben, Ruhe.
Wenn Du Tichonow siehst – grüß ihn…10
Marina begann sich alt zu fühlen – und abgeschnitten von allem. Sie spürte, daß sie in den Augen der Zwanzigjährigen ringsum inzwischen nur noch eine exzentrische alte Dame war, an der sie kein Interesse hatten. Sie, die junge Menschen immer angezogen und in deren stimulierender Welt gelebt hatte, fühlte sich ganz und gar ausgeschlossen.
Für sie war menschliches Mitgefühl immer über politische und ökonomische Theorien zu stellen. „Alles, was verletzt wird, erlangt seine Reinheit wieder zurück. Es sammelt alle seine Kräfte und heilt sich selbst“, hatte sie 1924 geschrieben.
Und wenn sie jetzt von Serjoschas und Aljas politischem Engagement zurückwich, so nicht vor einem abstrakten Prinzip, sondern aus Mißtrauen gegen solche Prinzipien überhaupt. Aljas Begeisterung für den Kommunismus war echt, doch waren deren psychologische Ursachen leicht zu erkennen. Sie hatte sich seit langem eng an ihren Vater angeschlossen und war nur allzu leicht bereit, in den Idealen des Kommunismus einen Ersatz für die absoluten Werte zu finden, die sie einst in der Verehrung der Kunst durch die Mutter verkörpert gesehen hatte.
Für Marina war dieser Abfall der Tochter weniger schmerzlich als die wachsende Einsicht, daß Murs Treue ihr gegenüber alles andere als unumstößlich war. Der einzige Mensch, von dem Marina hoffen konnte, daß er sie wirklich brauche, war ihr zehnjähriger Sohn, und ihr Kummer wuchs in dem Maße, in dem die Grenzen seiner Intelligenz deutlich sichtbar wurden. Er war weder ein Grübler noch ein Idealist, doch sie wünschte sich trotzdem, daß er mit seinem Leben etwas anfing, das der Mühe wert war. Er jedoch verstand sie nicht und hatte für ihre Gefühlswelt nichts übrig. Er war immer ein schwieriges Kind gewesen, und Slonim fand ihn jetzt ungehobelt und verzogen und ärgerte sich, wenn er mitansehen mußte, wie klaglos Marina ihren Sohn anhimmelte. Doch selbst sie begann sich ernsthafte Sorgen darüber zu machen, wie er sich entwickelte. Sie haßte seine Art, die ideologischen Gemeinplätze nachzuplappern, die er von Vater und Schwester aufgeschnappt hatte. Sie erkannte, daß Serjoscha und Alja leidenschaftlich daran glaubten, doch wenn sie dieselben Wendungen aus Murs Mund hörte, klangen sie blasiert und gedankenlos. Wenn sie Unterstützung oder Verständnis brauchte, konnte sie sich gewiß nicht an ihn wenden. Doch wenn es zu entscheiden galt, was am besten zu tun sei, dachte sie zuerst an seine Interessen.
Marinas Ansicht, daß Mur von überragender Bedeutung war, demonstrierte sie in einem ganz anderen Zusammenhang. Im Lauf des Jahres 1935 machte sie die Bekanntschaft der reichen amerikanischen Erbin Natalie Clifford Barney, die in der Rue Jacob 20 einen berühmten literarischen Salon unterhielt. Natalies eigene schriftstellerische Talente waren bescheiden; sie lebte ganz ihrem leidenschaftlichen Glauben an die Kraft der Liebe zwischen Frauen. Sie selbst war in vielen Romanen als Figur aufgetaucht (zum Beispiel in Radclyffe Halls Quell der Einsamkeit), und es überrascht nicht, daß sie Marina zu ihrem bemerkenswerten Essay „Brief an die Amazone“ (Mein weiblicher Bruder) inspirierte. Während ihrer Exilzeit hatte Marina keine lesbischen Erfahrungen gemacht, vergleichbar ihren Affären mit Sophia Parnok und Sonja Holliday, und sie schrieb den Essay hauptsächlich, um die Beschaffenheit ihrer eigenen Reaktionen zu untersuchen. Trotz aller Schönheit der Liebe zwischen Frauen (die Gott, nach ihrer Ansicht, nicht mißbilligte), war sie zu der Überzeugung gelangt, daß es die weibliche Natur selbst war, welche die Hoffnung auf jede dauerhafte Beziehung vereitelte – nicht wegen des Verlangens nach einem Mann, sondern wegen des generellen Wunsches der Frauen, Kinder zu haben. Marinas soziologische Beobachtungen mögen heute ohne Belang erscheinen, doch in bezug auf ihre Wahl sind sie jedenfalls höchst aufschlußreich. Sie war eine Frau, deren fanatische Liebe zu ihrem Sohn stärker war als jede andere Leidenschaft, die sie empfand; man kann sogar sagen, daß ihre längste Liebe (die zu Serjoscha) der Liebe einer Mutter sehr nahe kam. Der bezeichnendste Satz in ihrem Essay ist derjenige, in dem sie erklärt, nur krankhafte Frauen könnten der Ansicht sein, ihre Kinder nicht mehr zu lieben als ihre Liebhaber.
Marina fürchtete um Murs Zukunft, ob sie ihn nun nach Rußland brachte oder weiterhin mit ihm im Exil blieb. Zweifellos waren die Aussichten in Frankreich trübe. Marina sah sich bei anderen jungen Leuten um, die versuchten, aus ihrem Leben im Exil etwas zu machen, und fand, daß ihrem Sohn nichts anderes als eine Sackgasse bevorstand. Serjoscha und Alja versuchten sie davon zu überzeugen, daß er im Fall einer Rückkehr der Familie weit bessere Aussichten habe. Auch die geliebte Anastassja war wieder einmal in Moskau, und sie erinnerten sich an die zahlreichen guten Schriftsteller, die dort geblieben waren. Marina wußte auch, daß es ihr schwerfallen würde, sich selbst und Mur aus eigner Kraft durchzubringen. Das kleine Einkommen aus der Arbeit, die Serjoscha inzwischen gefunden hatte (von der Marina glaubte, es handele sich um irgendeine Schreibtätigkeit für die „Bewegung zur Rückkehr in die Heimat“), würde wegfallen, wenn er in die Sowjetunion zurückkehrte, und die Letzten Nachrichten hatten für ihre Arbeiten keinen Platz mehr.
Trotzdem zögerte sie, doch dieses Zögern hatte nichts mit den Schreckensmeldungen zu tun, die Pasternak ihr zugeflüstert haben mochte. Für ihren Wunsch, nicht zurückzukehren, gab es ganz private Gründe. Sie stellte sich das jüngst neuerbaute Moskau als eine Asphaltwüste mit Lautsprechern und riesigen Propagandatafeln vor. Sie fürchtete das neue sowjetische Erziehungssystem, in dem die Kinder nach der Schule gezwungen wurden, in Pioniergruppen mitzumachen und wenig Zeit bei ihren Familien verbrachten. Marina, von der man vielleicht erwartet hätte, daß sie darin eine Chance für Frauen sah, außerhalb der Zwänge des häuslichen Lebens zu arbeiten, sah darin einzig und allein die Gefahr, jeden Kontakt mit Mur zu verlieren.
Sie wußte instinktiv, daß es ihr unmöglich sein würde, „Glückwunschadressen an den großen Stalin zu unterschreiben“, doch dieses Unvermögen gründete sich nicht darauf, daß sie irgendeine Kenntnis von seinen Verbrechen hatte. Sie betrachtete ihn lediglich als Oberpriester einer banalen Kirche, in die sie nie würde zum Gottesdienst gehen können.
Sie mußte ihre Wahl treffen, doch immer noch zögerte sie, und zwar so nachhaltig, daß ihre alte abergläubische Natur sich wieder geltend machte und sie an Anna Tesková schrieb:
Liebe Antonovna, kennen Sie einen guten Wahrsager in Prag? Wie es scheint, komme ich ohne einen Wahrsager nicht aus.11
Sie sah keine Möglichkeit, die Situation richtig einzuschätzen, da sie zu diesem Zeitpunkt kaum Informationen über die politische Lage der Sowjetunion hatte.
Marinas Glaube an die Poesie war ihre einzige Gewißheit, als sie zu entscheiden versuchte, welchen Weg sie nehmen sollte. Doch die Ansprüche, die sie in ihrem außergewöhnlichen, brillanten, oft unzusammenhängenden Essay „Die Kunst im Lichte des Gewissens“ an die Dichtkunst stellte, waren von denen, die man gemeinhin an die Kunst stellt, sehr verschieden. Obgleich sie die Dichtkunst „heilig“ nannte, wählte sie als Beispiel ein Gedicht von Puschkin, das sie für zutiefst blasphemisch hielt – „Gelage während der Pest“ – und das sie durch seine Vision von der Pest „als Eigenname und Person DES BÖSEN“ faszinierte, dessen Macht der Dichter als so stark empfindet, daß er von ihr verführt wird.
Der lyrische Dichter verrät sich durch das Lied, wird sich stets verraten, er kann gar nicht anders, als seinen Liebling (oder Doppelgänger) dazu bringen, in seiner, des Dichters, Sprache zu reden.12
Zu einer Zeit, da Dichter emsig darum bemüht waren, ihre Kunst in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen oder der Sache des Volkes zu widmen und ihr Talent um jeden Preis einem Kampf zu überantworten, behauptet Marina Zwetajewa kühl, jeder, der dienen wolle, solle „in die Heilsarmee eintreten – und DAS DICHTEN LASSEN“.13 Doch Poesie war nicht der Kontrolle durch den Willen unterworfen und näherte sich dem unmoralischen Zustand des Träumens. Für sie ist der Zustand des Schaffens „ein Zustand der Anfechtung, Solange man nicht begonnen hat – eine OBSESSION, solange man nicht zum Abschluß gekommen ist – eine POSSESSION.“
„Die Kunst im Lichte des Gewissens“ schließt mit Marinas programmatischer Erklärung zu ihrer eigenen moralischen Position, just zu einem Zeitpunkt, da jene, die um sie waren (in ihrer eigenen Familie Serjoscha und Alja), es eilig hatten, sich für eine Sache in den Kampf zu stürzen, die sie für erhabener hielten. Sie kannte die Grenzen ihres eigenen Dichtertums:
Mensch zu sein ist wichtiger, weil es nötiger ist. Der Arzt und der Priester sind nötiger als der Dichter, denn am Sterbebett stehen sie, und nicht wir. Der Arzt und der Priester sind menschlich-wichtiger, alle übrigen sind gesellschaftlich-wichtiger. (Ob die Gesellschaft als solche wichtig sei – ist eine andere Frage, sie zu beantworten, wäre ich nur berechtigt, wenn ich auf einer einsamen Insel lebte.) Ausgenommen die Schmarotzer aller Spielarten sind alle wichtiger als wir.
Und indem ich das weiß und es bei vollem Verstande und klarem Bewußtsein mit meiner Unterschrift besiegle, behaupte ich dennoch nicht weniger fest und nicht weniger klar, daß ich mein Tun gegen kein anderes eintauschen würde. Indem ich das Größere kenne, tue ich das Geringere. Deshalb gibt es für mich keine Vergebung. Nur solche wie ich werden beim Jüngsten Gericht denn auch nach dem Gewissen gefragt. Aber wenn es ein Jüngstes Gericht des Wortes gibt – vor dem bin ich rein.14
1936 verdiente Serjoscha eine kleine Summe, die einem speziellen Fond der sowjetischen Regierung für Geheimagenten entstammte. Marina hatte davon keine Ahnung. Sie wußte nur, daß sie sehr oft zu Hause allein gelassen wurde, während Serjoscha und Alja zusammen an Versammlungen teilnahmen, von denen Marina glaubte, sie seien ein Teil von Serjoschas Aufgabe, die Rückkehr russischer Bürger in die Sowjetunion zu fördern. Sie hatte nicht die geringste Ahnung von dem Druck, den man auf ihn ausübte. Doch er war bereits aufgefordert worden, seine Treue zur Sowjetunion auf deutliche Weise unter Beweis zu stellen, wenn er Visa für die Rückkehr haben wolle. Weil dies Dinge waren, die er mit ihr nicht diskutieren konnte, wurde die emotionale Kluft zwischen ihnen breiter, und Marinas Verwirrung nahm zu. Selbst wenn Mann und Tochter daheim waren, vermittelte deren mangelndes Interesse an ihren Sorgen ihr den Eindruck, mit Fremden zusammenzuleben.
Ihre Einsamkeit wäre leichter zu ertragen gewesen, wenn Mur ihre Liebe erwidert hätte, aber der Junge war über seine Armut tief verärgert und gab der politischen Widerspenstigkeit seiner Mutter die Schuld an der Fortsetzung des Exils. Und Marina lebte weiter mit der Bedrohung der bevorstehenden Abreise Serjoschas und Aljas, immer versucht, ihnen zu folgen. Am 29. März 1.936 schrieb sie an Anna Tesková:
Ich lebe schon nicht mehr hier.15
Auch Murs Leistungen auf der Privatschule, die er besuchte, waren enttäuschend, wenn Marina auch dem französischen Schulsystem die Schuld gab, welches zu viel Wert auf das Pauken lege. Sie meinte, Mur habe das Anrecht auf eine bessere Erziehung als auf die, welche er auf einer freien Schule erhielt, denn ihr Vater hatte des öfteren Schüler auf eigene Kosten ins Ausland geschickt.
Zu den wenigen Beziehungen, die sich in diesen trüben Jahren entwickelten, gehörte die zu Vera Bunina. Als Marina noch in Clamart gewohnt hatte, schrieb sie im November 1933 in ihrem ersten Brief an Anna Tesková über ihre Reaktion auf die Verleihung des Nobelpreises für Literatur an Iwan Bunin. Sie war ausnehmend kritisch, denn sie hielt „Gorki für größer und menschlicher, origineller“ und glaubte, seine Bücher würden „eher gebraucht“. „Gorki“, schrieb sie, „ist eine Ära, und Bunin ist das Ende einer Ära. Aber das ist natürlich alles politisch, natürlich konnte der König von Schweden keine Medaille an Gorki verleihen, einen Kommunisten!“16
Marina mochte Bunin nicht, fand ihn kalt, unbarmherzig und oberflächlich. Seiner Frau jedoch brachte sie herzliche Gefühle entgegen. Vera Bunina war eine Freundin von Marinas Halbschwester Valeria, und Marina teilte mit Vera einen Schatz gemeinsamer Erinnerungen an die verlorene Welt des vorrevolutionären Rußlands. Vera hatte bei Marinas Vater Kunstgeschichte studiert, und aus dieser Zeit stammte ihre Bekanntschaft, obwohl sie erst in Paris enge Freundinnen wurden. Marinas Abneigung gegen Bunin machte es ihr um so leichter, für Veras Situation Mitgefühl aufzubringen. Jeder wußte, daß Bunin eine junge Geliebte hatte, Galina Kusnezowa, die mit der Familie überall hin reiste, und Vera hatte beschlossen, die Situation gelassen hinzunehmen. Marina fand Veras fortgesetzte Liebe zu Bunin ganz und gar bewunderungswürdig und erkannte rasch, daß Vera sich für unentbehrlich hielt und aus diesem Grund, wie eine Mutter, bei Bunin blieb.
Bunin war immer zu einem Flirt aufgelegt. Als er Alja bei einer Dichterlesung begegnete, witzelte und scherzte er mit ihr und lud sie schließlich zum Essen ein. Marinas Reaktion darauf war nicht frei von Eifersucht. Sie bemerkte, daß Alja überhaupt keine Verlegenheit gezeigt hatte, und fragte sich, ob das wohl das Geheimnis weiblichen Erfolges bei Männern sei. Nicht zum ersten Mal klagte sie darüber, wie lustlos sie geliebt worden sei. Geister wie sie, schloß sie, würden statt dessen von „Seelen geliebt, von Poeten, einsamen Greisen, Hunden, Exzentrikern…“17
1935 waren sich Marina und Vera am nächsten, doch wie in allen ihren Beziehungen, fürchtete sie sich vor der winzigsten, wenn auch nur eingebildeten Kränkung. Am 10. Januar 1935, zum Beispiel, schrieb sie, sie zweifle an Veras Wunsch, sie zu besuchen, und erwähnte, daß man in der Redaktion der Letzten Nachrichten darüber klatsche, Vera Bunina habe nicht die Absicht, sie wiederzusehen. Ihre Erleichterung war groß, als sie entdeckte, daß Vera nicht über sie verärgert war.
Aus den Briefen an die Bunina erfahren wir viel über Marinas finanzielle Umstände zwischen 1935 und 1937. Die emotionale Bedeutung, die diese Beziehung für Marina hatte, hinderte sie nicht daran, Veras Beziehungen auszunutzen und häufig Geld zu leihen. Vera war es, der sie erzählte, wie schwer es ihr falle, das Schulgeld für Mur aufzubringen, und bei der sie sich (nicht ganz im Ernst) über die große Zahl der Lesungen beklagte, die sie 1935 geben müsse. Sie erwähnte sogar, daß sie sich von V.V. Rudnew, einem Redakteur der Zeitgenössischen Annalen, einen Vorschuß auf ihr Honorar habe geben lassen müssen – ohne Zweifel mit der Absicht, sie zu weiterer finanzieller Unterstützung zu ermutigen. Marinas Briefe an Vera waren oft nichts anderes als Versuche, auf Umwegen Geld bei deren reichen Freunden lockerzumachen; und wenn sie bei ihren Bitten in der Regel das Schulgeld als das Notwendigste nannte, hatte das seinen Grund darin, daß es ihr leichter fiel, um Geld für Luxus als um Geld für Nahrung zu bitten. Obgleich es sich in vielen Briefen an Vera um Geld drehte, war die Beziehung aufseiten Marinas von großer emotionaler Brisanz, wenn sie auch entschlossen war, nicht, wie in früheren Affären, die Kontrolle über sich zu verlieren. Mit bemerkenswerter Wahrnehmung ihrer eigenen Selbstkontrolle, die es ihrer leidenschaftlichen Natur nicht gestattete, die Oberhand zu gewinnen, schrieb sie an Vera:
Ich weiß, ich hätte Dich tausendmal mehr lieben können, als ich es tue. Aber, Gott sei Dank, habe ich mir sofort Einhalt geboten… Mein Verhalten ist vielleicht die erste vernünftige Handlung meines Lebens… Mein Gott, welch eine Qual wäre das gewesen (für mich; für Dich). Ich hätte von Treffen zu Treffen gelebt, von Brief zu Brief. Treffen wären verschoben worden, Briefe wären nicht angekommen – oder sie wären angekommen, aber die falschen (immer die falschen, denn nur Du schreibst die richtigen). Vera! Danke Gott, daß ich Dich tausendmal weniger liebe, als ich es könnte.18
Sie schickte Vera ein Exemplar von Mutter und die Musik, und Vera freute sich darüber. Marina war sehr begierig zu erfahren, ob Vera das Porträt ihrer Mutter gefallen habe, d.h. sie war neugierig auf Veras Meinung über die Persönlichkeit ihrer Mutter, der sie nach ihrer Erkenntnis „alles verdanke“.
Im Juni 1935 plante Marina, mit Mur nach La Favière in der Provence zu fahren. Dort standen ihnen eine Mansarde und ein Teil des Gartens in einem nur vier Minuten vom Meer entfernten Haus den ganzen Sommer über zur Verfügung. (Das Haus gehörte der Baronin Wrangel, Tochter eines Cousins von Iwan Wladimirowitsch Zwetajew). Marina brauchte nur noch die 430 Francs für zwei Rückfahrkarten, die sie von V.V. Rudnew nicht auch noch erbitten konnte. So schrieb sie, selbst als sich bei Mur Magenschmerzen einstellten (die, wie sie fürchtete, auf eine Blinddarmentzündung hindeuteten), weiter handschriftliche Eintrittskarten für eine für Juni vorgesehene Lesung. Und sie ließ die Lesung stattfinden, obwohl sich ihre Befürchtungen um Mur bestätigten.
Zu seiner Genesung unternahmen sie die Reise nach La Favière, und während er sich erholte, widmete sie sich ihm ganz; ihr Leben konzentrierte sich völlig auf sein Wohlbefinden. Sie gab ihm das einzige Zimmer mit schöner Aussicht und verbrachte den ganzen Tag mit ihm in der Sonne, obgleich sie im freien nicht arbeiten konnte. Nachdem er zu Bett gegangen war, saß sie allein in der Küche und lauschte fremden Stimmen. Sie drangen aus einer Ferienkolonie russischer Emigranten herüber, die sich in einem nahen Kiefernwald befand, doch von dieser Gemeinschaft wurde inzwischen kein Mitglied der Familie Efron mehr akzeptiert.
In diesem Sommer konnte sie nur nach getaner Hausarbeit in der Küche schreiben, in der es bei offener Tür strahlend hell und bei geschlossener Tür stickig war; sie hatte keinen Tisch und es mangelte ihr an Energie. Doch der Sommer war eine überaus notwendige Ruhepause, die für jemanden, dem Schreiben kein Bedürfnis war, paradiesisch gewesen wäre. Sie sehnte sich sogar danach, so zu sein wie andere Leute, für die der Sommer eine Gelegenheit war, sich von ihrer Arbeit zu erholen; sie hingegen fand Erholung in ihrer Arbeit, und wenn sie nicht schreiben konnte, war sie einfach unglücklich.
Im Herbst in Paris geriet ihre Beziehung zu Vera Bunina ins Stocken, und im Verlauf des folgenden Jahres lebten sich die beiden Frauen auseinander, ohne daß es Streit gab. Es gibt eine Notiz Marinas vom 26. Oktober 1936, in der sie Vera für Grüße dankt, die diese ihr durch Chodassewitsch übermitteln ließ, doch dieser Versuch, ihre Bekanntschaft neu zu beleben, schlug fehl.
Marinas Situation machte jetzt rasche Entschlüsse notwendig. Eifrig befragte sie Schriftsteller wie Malraux, der aus der Sowjetunion zurückgekehrt war; er sprach mit Begeisterung vom dortigen Leben, obgleich er, als Mark Slonim ihn in Marinas Gegenwart nach der Freiheit fragte, die man dort Schriftstellern zugestehe, zur Antwort gab:
Im Augenblick ist es noch nicht die Zeit dafür.19
Eine weitere Lesereise nach Belgien hatte Marina 1936 so viel Geld eingebracht, daß sie Mur einkleiden konnte. Doch wieder einmal bedrückte es sie, daß Mur schlechte Charaktereigenschaften entwickelte. Er hatte keine Manieren und verfügte nicht über die geringste natürliche Freundlichkeit; er dankte der Frau, die ihm täglich sein Essen vorsetzte, als „belle er sie an“. Halb im Scherz nannte Marina ihn einen „Wilden“, doch ihr Lächeln war gequält. Sie hatte gemerkt, daß man sie bemitleidete, weil ihr Sohn sie so rüde behandelte.
Sie war durch Brüssel gewandert und hatte sich ein wenig nach einem Platz umgesehen, wo sie vielleicht, allein und ohne Freunde, leben konnte, weil das Leben in Brüssel leichter und billiger war als in Paris. Solange sie freilich Serjoscha nicht verlassen konnte, der an Paris gebunden war, würde dieser Plan nichts als ein Traum bleiben. Es war Mai, der Monat, in dem sie sich vor fünfundzwanzig Jahren in Koktebel zum ersten Mal begegnet waren, und Marina war noch immer bewegt, wenn sie sich an dieses erste Treffen erinnerte. Inzwischen entwickelte sich jedoch das Leben ihres Mannes völlig getrennt von dem ihren.
Im Frühsommer des Jahres 1936 ging von dem jungen Dichter Anatoli Steiger der Anstoß zu einer kurzen, aber emotional stark aufgeladenen Beziehung aus. Marina war ihm vorher nur einmal kurz begegnet, obwohl sie ihn durch seine Schwester Alla Golowina kannte, die von Marina verächtlich als ein „literarisches Anhängsel“ bezeichnet wurde. Steiger war mit vielen alten Feinden Marinas eng befreundet, und es ist durchaus nicht klar, warum er sich an sie wandte, aber sie antwortete auf das Geschenk seines Briefes mit der ganzen verzweifelten Glut einer leidenschaftlichen Natur, die nach Zärtlichkeit hungerte. Er war schwindsüchtig, lange Zeit schwerkrank gewesen und litt unter dem Verlust einer Geliebten, die ihn vor kurzem verlassen hatte. Zwischen August und September 1936 erholte er sich in einem Berner Krankenhaus von einer Operation; von dort schickte er Marina seinen eben erschienenen Gedichtband. Auf seinen ersten Brief antwortete sie nicht mit einem, sondern mit vielen Briefen; alle paar Tage ging ein Brief ab, zusammen mit Gedichten, die sie für ihn geschrieben hatte, und jeder bejubelte ihre Freude darüber, daß sie jemanden gefunden hatte, der ihre Zuneigung wirklich brauchte. Die Verzweiflung in Steigers erstem Brief war echt, und er war glücklich, so schnell eine Antwort zu erhalten. Marina jedoch schrieb ihm lange, komplizierte Briefe, in denen sie das Wesen der Krankheit, des Schreibens und der Liebe untersuchte. Sie glaubte, auf diese Weise ihre eigene geistige Kraft dazu nutzen zu können, in ihm den Lebenswillen zu wecken. Wie vorauszusehen, zog er sich, als er kräftiger wurde, von ihr zurück. Und der Schmerz, den sie darüber empfand, war tief, wenn auch nur eine unmerkliche Zunahme einer fortdauernden Enttäuschung.
Marina wandte sich wieder ihrer Arbeit an der Übersetzung von Puschkins „Gelage während der Pest“ zu, über das sie in „Die Kunst im Lichte des Gewissens“ so großartig geschrieben hatte, und arbeitete an ihrem bemerkenswerten Essay „Mein Puschkin“. Mitten in ihrer Trübsal erfuhr sie, daß Anna Teskovás Mutter gestorben sei, und Marina bot in einem Brief jede erdenkliche Hilfe an. Es war ein schwieriger Brief – sie fürchtete, angesichts eines solchen Verlustes in Übertreibungen zu verfallen – doch sie tröstete sich mit dem Gedanken, daß es außer der ihren vielleicht keine andere menschliche Stimme gebe.
Gegen Ende des Jahres 1936 erkrankte Marina an Grippe und war gerade noch fähig, einen Neujahrsbaum herzurichten und Geschenke für Mur zu besorgen. Serjoscha und Alja waren zu sehr mit ihren Plänen einer Rückkehr in die Sowjetunion beschäftigt, um viel Interesse für ihre altmodische Neujahrsfeier aufzubringen.
Als Alja im März 1937 ihr Visum zur Rückkehr in die UdSSR erhielt, begann sie sofort zu packen. Jeder half. Serjoscha gab eine Menge Geld aus, um passende Kleidung für sie zu kaufen, doch Marina war vor Kummer zu betäubt, um sich zu erkundigen, woher das viele Geld stammte. Es war beinahe so, als heirate Alja, und alle ihre Bekannten beteiligten sich an der Beschaffung ihrer „Aussteuer“. Alles, was man ihr schenkte, war von bester Qualität – ein Pelzmantel, Bettwäsche, Laken, eine Uhr, Handkoffer, Feuerzeuge – all das weltliche Gut, das sie ihr Leben lang entbehrt hatte. Marina ging zum Marché aux Puces (dem berühmten Pariser Flohmarkt) und kaufte dort ein Grammophon; außerdem schenkte sie ihrer Tochter ihr eigenes silbernes Armband, eine Brosche, eine Kamee und ein Kreuz.
Alja reiste fröhlich ab. Sie war völlig neu eingekleidet und sah in der Menge, die zu ihrer Verabschiedung gekommen war, sehr elegant aus, wie eine Braut, die in die Flitterwochen fährt. Als der Zug abfuhr, war Marina tieftraurig. Sie hatte schon viele Freunde verabschiedet und wußte sehr wohl, daß die Euphorie nicht lange andauern würde. Mehrere Monate vergingen, ohne daß Nachricht von Alja kam, und Marina machte sich schreckliche Sorgen. Als jedoch schließlich ihre ersten Briefe eintrafen, waren sie überaus zuversichtlich. Alja wohnte bei Serjoschas Schwester und studierte mit Marinas Schwester Anastassja Englisch. Sie verdiente ein wenig Geld und hatte gute Aussichten, durch ihre Illustrationen noch mehr zu verdienen. Alles in allem schien sie mit ihrer Situation sehr zufrieden zu sein. Marina tröstete sich mit der Hoffnung, daß ihre Tochter die richtige Entscheidung getroffen habe.
Am 14. Juni 1937 besuchte Marina die Weltausstellung, die in Paris stattfand und betrachtete mit besonderer Aufmerksamkeit den russischen und den deutschen Pavillon. In der russischen Ausstellung glaubte sie etwas zu entdecken, das Leben widerspiegelte, wogegen die deutsche Kunst sie entsetzte. Ihr Eindruck war nicht ganz falsch, doch war ihr Instinkt auch nicht ganz richtig – schließlich war der stalinistische Terror 1937 unter Jeschow (Chef der Geheimpolizei 1936–38) auf dem Höhepunkt. Aber Marina bemühte sich verzweifelt zu verstehen, wie ihre Tochter und ihr Gatte sich überhaupt für eine Ideologie engagieren konnten, und sie war erleichtert festzustellen, daß sie zumindest ihren Abscheu vor dem Faschismus teilen konnte. Für sie selbst, bekannte sie, waren beide Pavillons voll von Götzenbildern.
Von Alja trafen weiterhin fröhliche Briefe ein; sie hoffte, bald bei einer Zeitung arbeiten zu können und wurde währenddessen für freie Mitarbeit gut bezahlt. Marina begann sich zu fragen, ob die Sowjetunion am Ende nicht doch menschlich und anständig sei. Nicht, daß alle Nachrichten aus Moskau gut gewesen wären. Alja schrieb, daß Sonetschka – das schöne Mädchen Sonja Holliday, mit dem Marina im Frühling und Sommer 1919 so eng verbunden gewesen war – tot sei. Marina war von Kummer überwältigt, den sie dadurch zu lindern suchte, daß sie ihre Erinnerungen an die Periode dichterisch gestaltete.
Während des ganzen Sommers stand das Moskau des Jahres 1919 vor ihrem geistigen Auge, als sie versuchte, das Leben zu rekonstruieren, das sie mit ihren jungen Freunden vom Wachtangow-Studio geführt hatte. Im Laufe des Sommers schrieb sie eine längere Prosastudie über jene Zeit des Hungers und der bitteren Kälte, über ihre Liebe zu Pawel Antokolski, ihre Schwärmerei für Sonetschka und ihre Freundschaft mit Wolodja. Sie schrieb über jene, die nach Süden gegangen waren, um sich der Weißen Armee anzuschließen – während sie selbst gerade die Rückkehr in die UdSSR erwog: ein alarmierendes Zeichen des für sie so charakteristischen Mangels an Realitätssinn. Sie hätte Zeit genug gehabt, alles reiflich zu überdenken. Sie konnte nicht wissen, daß die Ereignisse bald eine entscheidende Wendung nehmen und sich Veränderungen ergeben würden, die es Serjoscha unmöglich machten, in Paris zu bleiben.
(…)
Elaine Feinstein, aus Elaine Feinstein: Marina Zwetajewa. Eine Biographie, Frankfurter Verlagsanstalt, 1990
Adolf Endler: Eine Reihe internationaler Lyrik, Sinn und Form, Heft 4, 1973
Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa
Zwiesprachen VI: Katharina Schultens spricht über Marina Zwetajewa am 24.1.2016 im Lyrik Kabinett, München
Katharina Kohm: Die Begegnung an der Naht. Zu der Vortragsreihe Zwiesprachen VI: Katharina Schultens über Marina Zwetajewa am 25.1.2016 im Lyrik Kabinett
signaturen-magazin.de
Bettina Wöhrmann: Der Granatapfelkern Persephones
Ostragehege, Heft 64, 2011
Doris Liebermann: Vor 75 Jahren – Dichterin Marina Zwetajewa gestorben
Deutschlandfunk Kultur, 31.8.2016
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