SIE NAHMEN
Die Tschechen traten auf die Deutschen zu
und spuckten… (Vgl. Märzzeitungen 1939)
Sie nahmen schnell und mit Großmannsmut:
Sie nahmen den Berg und was unter ihm ruht,
Sie nahmen die Kohle, sie nahmen den Stahl,
Sie nahmen das Blei, und sie nahmen Kristall.
Sie nahmen den Zucker, sie nahmen den Klee,
Sie nahmen die Ferne, sie nahmen die Näh,
Sie nahmen den Westen, sie nahmen den Nord,
Sie nahmen den Süden und Osten fort.
Sie nahmen den Honig, sie nahmen das Bad,
Sie nahmen das Heu, und sie nahmen den Grat,
Sie nahmen das irdische Eden, jedoch:
Sie nahmen kampflos den Kampf uns noch!
Sie nahmen Geschütz, und sie nahmen Geschoß,
Sie nahmen uns Erze und Freund und Genoss’ –
Wir haben noch Spucke, und die ist für sie:
Uns ganz zu entwaffnen, das schaffen sie nie.
Paris, 9. Mai 1939
übertragen von Karl Mickel
Marina Zwetajewa war eine Frau mit der unternehmenden Seele eines Mannes, entschlossen, kämpferisch, unbezähmbar. Ungestüm, gierig, ja reißend drang sie im Leben und in der Kunst auf Endgültigkeit und Entschiedenheit; sie kam weit und war allen voraus.
Boris Pasternak
Die Reise nach Berlin dauerte vier Tage. Marina machte keinen Versuch, zu schlafen und legte sich noch nicht einmal auf das zur Verfügung stehende Bett. Sie rauchte unablässig. In Riga, wo sie umsteigen mußten, warteten sie fast einen ganzen Tag. Zu einer anderen Zeit hätte Marina an der alten Stadt mit ihrem Gewirr prächtiger gotischer Gebäude und an den unmißverständlichen Ladenschildern (Schlüssel, Backwerk, Flaschen, Handschuhe und so fort) in den belebten Straßen ihre Freude gehabt. Doch jetzt hinderte ihre gedrückte Stimmung sie daran, an irgend etwas Interesse zu finden. Wie betäubt ging sie durch die gepflasterten Straßen, weigerte sich zu essen und wollte nur Kaffee. Ihre Anspannung ließ erst nach, als sie es schließlich, kurz vor Einbruch der Dämmerung, geschafft hatten, den Zug nach Berlin zu besteigen. Dann erst schloß sie ihre Augen und schlief im Sitzen ein.
Am Morgen erblickten sie und Alja eine deutsche Landschaft, die (zu Aljas freudigem Staunen) aus einem Bilderbuch für Kinder zu stammen schien. Nach der Unordnung, die sie in Moskau zurückgelassen hatten, kam sie ihnen außergewöhnlich korrekt und ordentlich vor.
Sie erreichten Berlin – wo sie Serjoscha aus Prag kommend erwarten wollten – am 15. Mai 1922 bei strahlendem Sonnenschein, und sofort war ein grüngekleideter Gepäckträger zur Stelle, um ihre Habseligkeiten zu einer Droschke zu schaffen. Mit einem Schlag tat sich Berlin (das sogar nach dem Krieg eine Stadt von beträchtlicher Eleganz geblieben war) vor ihnen auf. Marina fuhr zum Prager Platz, einem kleinen, stillen Platz, in dessen Nähe sich viele Russen einquartiert hatten. Ilja Ehrenburg wohnte dort in einer Pension und erwartete sie. Zu Marinas großer Erleichterung hieß er sie dort willkommen und stellte ihnen sofort ein großes, dunkles, mit Büchern vollgestopftes Zimmer zur Verfügung.
Nach der Armut Moskaus wirkte Berlin berauschend. Der Kaffee war möglicherweise dünn, doch der Duft von Orangen, Schokolade und gutem Tabak war eine überwältigende Erinnerung an eine verschwundene Welt. Obgleich die Inflationsrate bereits beängstigend war, sahen die Leute trotzdem wohlgenährt und zufrieden aus.
In Berlin lebte eine große Zahl von Russen. Dutzende von russischen Restaurants mit Balalaikas, Zigeunern, Pfannkuchen und Schaschlik hatten geöffnet. Überall konnte man russische Laute hören. Es gab drei Tageszeitungen und fünf Wochenzeitungen in russischer Sprache, und im Laufe eines Jahres hatten sich siebzehn russische Verlage etabliert. Zu dieser Zeit war die Trennungslinie zwischen Emigrantenliteratur und Sowjetliteratur noch nicht so streng gezogen, und Schriftsteller, die sich mit dem neuen Regime arrangiert hatten, verkehrten immer noch zwanglos mit solchen, die es abgelehnt hatten. Und, was am wichtigsten war: Bücher aus Berlin waren in Rußland ebenfalls im Umlauf und wurden in der sowjetischen Presse rezensiert.
In jenen Tagen gab es in Berlin viele Russen, die eher zufällig ins Exil geraten waren, weil sie in panischer Angst geflohen waren und die sich jetzt zu ihrer Verblüffung gezwungen sahen, ihren Lebensunterhalt mit Tellerwaschen oder anderen Handarbeiten zu verdienen. Selbst bei jenen, die ihren Entschluß sorgfältiger bedacht hatten, herrschte das Gefühl vor; es handele sich um eine Übergangszeit.
In der Pension, in der Marina und Alja untergebracht waren, wohnten zahlreiche Schriftsteller und Verlagsleute. In der Nähe war die Prager Diele, ein besonders beliebtes Café. Dort trafen Ehrenburg und Marina oft mit dem jungen Verleger Abram G. Wischnjak zusammen, der sich lieber, nach seinem Verlagssignet, Helikon nennen ließ. Bald war Marina mit allen regelmäßigen Besuchern des Cafés gut bekannt und schloß, ebenso Wischnjak, enge Freundschaft mit Ehrenburgs Gattin, der Künstlerin Ljuba Kosinzewa, und mit Ludmila Tschirikowa (der Tochter des berühmten Autors).
Die zehnjährige Alja machte Notizen über ihre Eindrücke von Helikon, die zeigen, in welchem Maße sie die Betrachtungsweise ihrer Mutter übernommen hatte.
Helikon wird von einer Vielzahl von Gestalten besucht: Von einem alten Herrn, der seine Uhr an einer Art Hundekette trägt (seine goldene Uhrkette hat er verkauft); von mageren, langweiligen Schriftstellerwitwen, die in der Hoffnung kommen, die Honorare ihrer Ehegatten kassieren zu können. Alles umsonst. Helikon versucht, niemanden zu kränken, aber jedermann verflucht ihn, weil er so schlecht zahlt.
Helikon ist ein Mann mit zwei Gesichtern – er wird hin und her gerissen zwischen dem Alltag und seiner Seele. Der Alltag ist das kleine Gewicht, das ihn auf der Erde zurückhält, damit er sich, wie er glaubt, nicht losreißt und wie Andrej Bely geradewegs in den Himmel fliegt. In Wirklichkeit würde er sich gar nicht so leicht losreißen – er hat zu wenig Seele, weil er dringend Frieden, Ruhe, Schlaf, Geborgenheit braucht, die die Seele eben nicht gibt.
Wenn Marina in sein Büro kommt, ist sie wie diese verkörperte Seele, die die Menschen zu sich emporreißt, statt sich zu ihnen herabzulassen. Sogar ein Kind muß sie aus der Wiege reißen. Sie glaubt die ganze Zeit, daß sie ihn in den Schlaf wiegt – doch es ist eine Art von Wiegen, bei der man sich nicht sehr wohlfühlt. Marina spricht mit Helikon wie eine Titanin. Sie ist ihm ebenso unbegreiflich wie der Nordpol einem Mann aus dem Orient, und ebenso verlockend. Ich habe gemerkt, daß er sich zu Marina hingezogen fühlte wie zur Sonne, wie ein zerknickter kleiner Halm. Aber die Sonne ist weit weg, weil Marinas ganzes Wesen zurückgenommen ist, und sie hat zusammengebissene Zähne, während er biegsam und weich ist wie ein Erbsenschößling.1
Nicht jeder fand Marina derart furchteinflößend. Obgleich in ihrer Jugend während ihrer Freundschaft mit Ellis mit Verehrung der Name des Schriftstellers Andrej Bely genannt worden war, war es Marina nie vergönnt gewesen, ihm zu begegnen. Später war durch seine Heirat mit Assja Turgenjewa eine, wenn auch nie intime, Bekanntschaft möglich geworden. Eifersüchtig, wie Marina wegen ihrer eigenen Schwärmerei für Assja war, verzieh sie ihr doch, das sie Bely erwählt hatte, weil sie beide aus demselben Holz geschnitzt waren: sie schrieben Gedichte, anstatt dazu zu inspirieren. Marina begegnete Bely in der Prager Diele an Ehrenburgs Tisch. Er erkannte sie sofort:
Sie? Sie?… Hier? Wie mich das freut! Sind Sie schon lange hier? Sind Sie für immer gekommen? Hat man Sie unterwegs verfolgt?2
Bely lebte ganz in der Nähe, in Zossen; und obgleich es nicht leicht war, ihm zu helfen, wußte Marina, wie sie mit Menschen umgehen mußte, deren Nerven bis zum Zerreißen angespannt waren. Zu dieser Zeit hatte der Kummer über das Zerbrechen seiner Ehe mit Assja Turgenjewa ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben, doch Marina vermochte ihm, obwohl ihre eigene Zukunft alles andere als gesichert war, ein Gefühl der Geborgenheit zu vermitteln. Im Juni 1922 schrieb er ihr:
Meine liebe, liebe, liebe, liebe Marina Iwanowna… während dieser letzten besonders schwierigen, beschwerlichen Tage waren Sie es wiederum, deren Stimme als der einzige echte Ton zu mir drang… ein sanfter, sanfter, außerordentlicher Ton des Vertrauens. Es gibt doch noch Wunder!3
Das Gefühl der Kameradschaft, das Marina für Bely hegte, erwuchs zum Teil aus der Tatsache, daß sie beide Kinder von Professoren waren. Bely hatte immer erklärt, er wäre lieber der Sohn eines Sargtischlers gewesen, doch jetzt, nachdem er Marina begegnet war, machte es ihm große Freude, ihre Verwandtschaft hervorzuheben – nicht nur als Waisen und Dichter, sondern auch was das Brandmal betraf, das die Berufe ihrer Väter ihnen beiden aufgeprägt hatte. Marina selbst hatte den Beruf ihres Vaters niemals in irgendeiner Weise als bedrückend empfunden, doch sie verstand Belys Lage und schrieb 1934 nach seinem Tod in ihren Erinnerungen an ihn:
Jedes Pseudonym ist, unbewußt, eine Absage an Herkunft und Fortdauer, Nachfolgeschaft, Sohnestum. Absage an den Vater.4
Andrej Bely hatte sich so endgültig von seinem Vater gelöst, daß er einen neuen Namen für sich selbst erfand.
Als sie einander begegneten, hatte Bely Marinas Buch Trennung (das ihr Gedicht „Auf rotem Roß“ enthielt, welches sie Anna Achmatowa gewidmet hatte), das gerade in Berlin erschienen war, noch nicht gelesen, und sie gab ihm ein Exemplar. Am nächsten Tag erhielt sie einen Brief voll ungläubiger Bewunderung, und einige Tage später gab Bely seinem Lob noch einmal Ausdruck. Er selbst behauptete, seit drei Jahren keine Gedichte mehr geschrieben zu haben und daß er kaum noch das Recht hätte, sich noch länger Dichter nennen zu dürfen. Sein überschwengliches Lob des Werkes von Marina veranlaßte ihn, zwei ihrer Manuskripte bei einem Verlag unterzubringen – eine bemerkenswerte Geste für jemanden, der fast unfähig war, für sich selbst etwas zu tun.
Es war nicht Marinas Gewohnheit, diejenigen, die sie liebte, zu analysieren, und weil Bely das Befremdliche seines Verhaltens nicht wahrnehmen, geschweige denn sein Leben in den Griff bekommen konnte, machte sie auch keinen Versuch, ihn zu etwas zu zwingen, das ihm nicht zusagte. Sie beließ ihn in seiner Arglosigkeit und sah nicht, wie oft er andere Menschen verletzte, um seinen eigenen Schmerz zu lindern. Er verkörperte die Art von Schwäche, der Marina mit praktischer Hilfe begegnen konnte – zum Beispiel, indem sie seinen Ofen in Zossen heizte oder seine Abfälle wegfegte.
Während sie in Berlin wochenlang auf Serjoscha wartete, kam Bely oft von Zossen herüber und übernachtete bei Marina. Alja (inzwischen neun Jahre alt) und dem fünfjährigen Sohn seines Verlegers, der oft in der Wohnung war, machte es Spaß, Bely zu necken, und sie legten ihm hin und wieder mit Wasser gefüllte Gummitiere ins Bett. Das kümmerte Bely nicht sonderlich, der am Morgen den Kindern gewöhnlich ausführlich berichtete, was ihm widerfahren sei. Seine Probleme mit der Schlaflosigkeit lagen weit tiefer, als daß Kinderspielzeug in seinem Bett ihn hätte stören können: Eine seiner größten Ängste war, unter einem Antlitz aufzuwachen, das ihn anstarrte. Marina war einer der wenigen Menschen, deren Anwesenheit in seinem Haus ihm das Gefühl des Friedens schenkte. Er sagte:
Sie bringt mir den Frieden. Ich schlafe ein und schlafe und schlafe.
Bely schätzte ihre Vitalität und Gesundheit, die so ganz anders als seine nervöse Überreizung war. Bely war in Berlin unglücklich. Er sah die Stadt wie in einem Vexierspiegel als einen Ort, wo die Bäume keine Schatten warfen und die Vögel nicht sangen. Ihm mißfiel sogar der Name des Vorortes, in dem er wohnte: Zossen. Er fand ihn „scharf und irgendwie fleischlich wie ein Knödel“. Sein größter Kummer war jedoch der Verlust der Frau, die er liebte und die Eifersucht, die er für den Mann empfand, der ihn ausgestochen hatte. Sein Schmerz war mitleiderregend, und bei ihrem Versuch, ihn zu trösten, achtete Marina kaum auf Alja, die sie immer mitnahmen, wohin sie auch gingen. Bei diesen Gelegenheiten war Alja immer sehr still, als begreife sie, daß eine Begegnung zweier Dichter von großer Bedeutung sei.
Wenn Marina Alja, die sie immer als eine Erweiterung ihrer selbst, ansah, die imstande war, alle ihre Gedanken zu teilen, auf diese Weise ausschloß, geschah das nicht mit Absicht: Sie vergaß einfach, daß Alja eigene Bedürfnisse hatte. Alja erinnerte sich an ein komisches Beispiel für diesen Zustand: Während eines langen Spazierganges mit Bely mußte Alja eine Toilette aufsuchen, hatte aber so große Furcht, die Unterhaltung zu unterbrechen, daß ihr schließlich nichts anderes übrig blieb, als sich im Freien zu erleichtern. Nicht alle Veränderungen, die Marinas Hinwendung zu Bely nach sich zog, waren freilich so unangenehm – Marina legte gegenüber Aljas Verhalten eine neue und willkommene Toleranz an den Tag. Zum Beispiel wurde dem jungen Mädchen jetzt gestattet, wann immer es wollte, Bier zu trinken, was früher streng verboten gewesen war.
Es sagt einiges über Marinas seelische Größe aus, daß sie die Kraft hatte, mit Belys Zuständen von Verzweiflung sanft umzugehen. Für sie war es eine Zeit großer Erregung und fortdauernder Anspannung. Dank Ehrenburgs Großzügigkeit konnte sie es sich jetzt leisten, für ihren Mann Geschenke zu kaufen (warme Unterwäsche, Socken und Zigarrenkästchen), doch Serjoscha hatte es noch nicht geschafft, nach Berlin zu kommen, so daß jede dieser Gesten wie eine Herausforderung des Schicksals erschien. Marinas Jahre in Moskau hatten ihren Tribut gefordert, und Berlin bestätigte ihr Gefühl, die ganze Welt sei im Fluß, in dem sie vielleicht Serjoschas Spur gerade jetzt verlieren konnte, da sie ihn zu finden hoffte.
Das genaue Datum von Serjoschas Ankunft war ungewiß. Am Ende traf das Telegramm mit der Ankunftszeit seines Zuges verspätet ein, so daß Marina nach Wochen des Wartens hilflos zum Bahnhof eilte, wo der Zug längst eingelaufen war. Wie in einem Alptraum umherirrend, sah sie, daß die Fahrgäste sich bereits zerstreut hatten und sich außer ihr und Alja in der riesigen Bahnhofshalle niemand mehr aufzuhalten schien. Niemand konnte ihnen eine Auskunft geben; es gab keine Nachricht für sie. Marina begann ungläubig und verwirrt auf dem verlassenen weißen Platz vor dem Bahnhof hin und her zu gehen, als sie mit einem Mal Serjoschas Stimme hörte, und sie sich endlich in die Arme fielen und nach allen Ängsten in Tränen ausbrachen. Nach fünfjähriger Trennung waren sie wieder vereint. Und für den Augenblick schien nur das zu zählen.
In einem Brief an Maximilian Woloschin vom Herbst 1923 (veröffentlicht in Karlinskys Zwetajewa-Buch) beschrieb Efron, auf welche Weise sich die Beziehung zu seiner Frau während ihrer Trennung verändert hatte:
Marina ist ein leidenschaftliches Geschöpf. In weit stärkerem Maße als früher – vor meiner Abreise. Sich kopfüber in einen selbstgeschaffenen Orkan zu stürzen, ist für sie zur Notwendigkeit geworden, es gehört zu ihrem Leben.
Er fügte bitter hinzu, daß er lange vergeblich versucht habe, die Feuer ihrer Leidenschaften wieder für ihn zu schüren und erwähnte eine kurze und unerwiderte Leidenschaft, die Marina für Wischnjak empfunden habe:
Wenige Tage vor meiner Ankunft ist das Feuer angefacht worden – aber nicht von mir.
Das beeinträchtigte in keiner Weise die Freude, die Mann und Frau empfanden, als sie sich nach den langen Jahren der Trennung wiedersahen. Ihre Beziehung hatte sich in ihrem Wesen verändert, doch es kann auch eine intensive Liebe zwischen Bruder und Schwester oder vielleicht eher zwischen Mutter und Sohn geben; und bereits Serjoschas erster Brief an Marina vom Juli 1922 zeigt, daß er sich dieser möglichen Wendung in ihrer Beziehung bewußt war. „Lebe einfach weiter“, erklärte er damals.
Ich werde keine Forderungen an Dich stellen. Ich erwarte nichts von Dir, außer daß Du am Leben bleibst.
An jenem Abend gaben die Ehrenburgs ein großes Fest, um die Wiedervereinigung zu feiern. Es gab sogar Champagner. Alja, die ihren Vater mit scharfem Auge beobachtete, notierte:
Serjoscha, der fast neunundzwanzig Jahre alt war, sah immer noch wie ein Junge aus, der sich gerade von einer schweren Krankheit erholt hat: er war so mager und großäugig und schien noch immer einsam – selbst mit Marina, die neben ihm saß. Im Gegensatz zu ihm schien sie völlig erwachsen zu sein – ein für allemal! – bis hinauf zu den frühen grauen Fäden, die bereits deutlich in ihrem Haar schimmerten.5
Aljas Blick drang außerordentlich tief und erfaßte untrüglich, was in der Zukunft lag. Die Einsamkeit, die sie in Serjoschas Wesen bemerkte, ist leicht begreiflich. Er hatte sich (im Gegensatz zu den anderen) unwiderruflich auf das Exil eingestellt und dessen Bitterkeit bereits zu spüren bekommen. Und während seiner Abwesenheit hatte Marina sich verändert und war gereift.
Serjoschas erster Berlin-Besuch war kurz. Er mußte nach Prag zurückkehren, um sich auf das neue Semester vorzubereiten. Er hatte vor, bei Nikodim Kondakow Vorlesungen über Byzantinische Kunst zu hören, und er fand die Arbeit nicht leicht. Zuvor mußten allerdings noch viele Entscheidungen getroffen werden. Die erste betraf den Umzug in ein kleines Hotel in der Trautenaustraße, wo die Familie Efron sich zwei winzige Zimmer mit Balkon leisten konnte. Aber die wichtigste Entscheidung war schwerer: sie betraf den Umzug in die Tschechoslowakei.
Wenn sie in Berlin blieben, würden sie zweifellos in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Die kleinen Honorare, die Marina von russischen Verlagen bekam, konnten leicht ausbleiben, wogegen es für Studenten an der Universität Prag Studienbeihilfen gab, welche die Regierung Masaryk zur Verfügung stellt, und angesichts der wirtschaftlichen Krise, die zur Zeit in Deutschland herrschte, war es wenig wahrscheinlich, daß ein Russe eine Stellung fand. In der Tschechoslowakei dagegen gab es eine sichere Geldquelle, und die wohlwollende Regierung stellte russischen Wissenschaftlern bereits Geldmittel zur Verfügung. Darüber hinaus war die Tschechoslowakei ein slawisches Land, und die Stadt Prag nach Serjoschas Beschreibung so schön wie ein Märchen.
Marina begrub ihre Vorstellungen von Berlin als einem Zentrum russischen Verlagswesens, und ihre Entscheidung wurde gefällt. Nachdem alles vereinbart war, kehrte Serjoscha nach Prag zurück. Er hatte sich nur ein paar Wochen in Berlin aufgehalten, war Anfang Juli angekommen und fuhr Ende des Monats wieder ab. Nachdem er abgereist war, machte Marina ihren ersten, ziemlich hoffnungslosen Versuch, zusammen mit Ludmila Tschirikowa und Alja etwas von der Stadt zu sehen.
Marina hatte sehr intensiv gearbeitet. Während der zweieinhalb Monate, die sie in Berlin war, hatte sie sehr wenig von der Stadt gesehen, doch ihre Produktion war überwältigend gewesen: Dreißig Gedichte, eine Geschichte mit dem Titel „Florentinische Nächte“ und ein Essay über die Lyrik Boris Pasternaks, „Lichtregen“, der zeigte, wie intensiv sie sich in sein Werk vertieft hatte und wie sehr sie sich davon berührt fühlte.
Ein sonderbarer Zufall wollte es, daß Pasternak just zu dieser Zeit in Moskau Marinas Band Werstpfähle in die Hände fiel, und er sich bewogen fühlte, ihr zu schreiben und zu erklären, in welchem Maße diese Erfahrung ihn verändert habe.
Der Brief von Pasternak, weitergeleitet von Ehrenburg, traf am 27. Juni 1922 ein; Pasternak hatte Ehrenburg dringlich gebeten, ihn zu lesen, vermutlich um Marina auch weiterhin Ehrenburgs Fürsorge zu erhalten. Es ist ein ungewöhnlicher Brief, und der Beginn eines Briefwechsels, der für Marina in den langen Jahren des Exils eine der wichtigsten emotionalen Stützen werden sollte.
13.6.22
Liebe Marina Iwanowna
gerade habe ich mit bebender Stimme meinem Bruder Ihre Gedichtzeile „Ich weiß, daß ich sterben werde beim Himmelrat! Bei welchem, mit welchem – das ist nicht auf Wunsch zu entscheiden“ vorgelesen – und eine Welle von Tränen trug mich davon, wie etwas Fremdes. Sie stahlen sich in meine Kehle, und ich weinte. Wenn ich meine Bemühungen bei „Ich will dir erzählen vom großen Betrug“ mit Ihrem Gedicht vergleiche, bin ich ziemlich abgestoßen, und als ich sie verglich mit „Werst und Werst und Werst und altbackenes Brot“, passierte das gleiche.
Sie sind kein Kind, meine teure, goldene, unvergleichliche Dichterin, und ich hoffe, Sie wissen, was das in einer Zeit bedeutet, wo wir eine Fülle von Dichtern und Dichterinnen haben; nicht nur solche, die man nur in ihrem Verband kennt oder die Menge an Phantasten – sondern die Fülle makelloser Talente wie Majakowski und Achmatowa. Verzeihen Sie mir, verzeihen Sie, verzeihen Sie mir!
Wie konnte es nur geschehen, daß ich mit Ihnen hinter dem Sarg von Tatjana Skrjabina ging, ohne zu ahnen, wer da neben mir ging?6
Es ist völlig verständlich, daß Marina angesichts eines solchen Lobes nicht sofort antwortete – und daß sie es dann auf ungewöhnliche Art tat. In ihrem Brief an Pasternak klingt anfangs fast so etwas wie Zorn an. Ohne Zweifel wollte sie, daß Pasternak die gemischten Gefühle verstand, die sie erfüllten, als sie seinen Brief zum erstenmal las. Und ihren ganzen Brief durchzieht nicht eigentlich ein Tadel oder gar ein Bedauern, sondern eher das Erkennen eines Verlustes, dem sie so oft ausgesetzt war und das zum Teil darauf beruhte, daß sie es versäumt hatte, in Moskau mehr als einen oberflächlichen Kontakt herzustellen. Und es findet sich auch noch etwas anderes darin: Nicht Stolz, nicht eigentlich Schüchternheit, sondern dasselbe Zögern, das sie davon abgehalten hatte, Pasternak einen Besuch zu machen, bevor sie Moskau verließ; dieselbe Scheu, die eine Begegnung mit Blok verhindert hatte. Marina war immer zu der höchst weiblichen, menschlichen Furcht fähig: Was aber, wenn ich die Erwartungen, die man in mich setzt, nicht erfüllen kann? Hier ist ihre Antwort:7
Berlin, 29. neu[er] Juni 1922
Lieber Boris Leonidowitsch!
Ich schreibe Ihnen am nüchternen, hellichten Tag, nachdem ich den Versuchungen der nächtlichen Stunde und der ersten Regung widerstand.
Ich ließ Ihren Brief in mir abkühlen, sich unterm Schotter zweier Tage vergraben – was wird bestehen?
Nun also, unter dem Schotter hervor:
Das erste, was ich fühlte – bei flüchtigem Hinsehen: Widerspruch. Jemand widerspricht, jemand fordert Rechenschaft: jemand blieb ich etwas schuldig. Mein Herz verkrampfte sich vor Hoffnungslosigkeit, vor Nutzlosigkeit – (Ich hatte noch kein einziges Wort gelesen.)
Ich lese (begreife immer noch nicht – wer), und als erstes dringt durch den unbekannten Schwung der Hand: er ist abgestoßen. (Und mein: unerträgliches: Nun ja, jemand ist unzufrieden, entrüstet! O Gott! Wieso bin ich daran schuld, daß er meine Gedichte las!) Erst gegen Ende der zweiten Seite, beim Namen Tatjana Fjodorowna Skrjabinas, wie ein Hieb: Pasternak!
Jetzt hören Sie:
Irgendwann (1918, im Frühjahr) saßen Sie und ich nebeneinander beim Abendessen bei den Zetlins. Sie sagten: „Ich möchte einen großen Roman schreiben: einen mit Liebe, mit einer Heldin – wie Balzac.“ Und ich dachte: Wie gut. Wie richtig. Wie ohne jeden Dünkel. – Ein Dichter.
Dann lud ich Sie ein: „Ich würde mich freuen, wenn“ – Sie kamen nicht, weil Sie nichts Neues im Leben wollen.
… 11. April (nach altem Kalender) 1922 – das Begräbnis Tatjana Fjodorowna Skrjabinas. Zwei volle Jahre war ich mit ihr befreundet – der einzige weibliche Freund ihres Lebens. Eine strenge Freundschaft: ganz über der Sache und im Gespräch, männlich, ohne die Zärtlichkeit irdischer Zeichen.
Und nun begleite ich ihre großen Augen zur Erde.
Ich gehe mit Kogan, dann mit noch irgendwem, und plötzlich – eine Hand auf meinem Ärmel – wie eine Pranke: Sie. – Ich schrieb später Ehrenburg darüber. Wir sprachen von ihm, ich bat Sie, ihm zu schreiben, erwähnte seine ungeheure Zuneigung für Sie, Sie nahmen es befremdet auf, sogar mit Besorgnis: „Ich verstehe absolut nicht, wofür… Wie schwierig…“ (Ilja Grigorjewitsch tat mir leid, und das schrieb ich ihm nicht.) – „Ich habe Ihre Verse gelesen, über den Hunger…“ – „Reden Sie nicht davon. Eine Blamage. Ich wollte etwas ganz anderes. Aber wissen Sie – manchmal ist es so: überm Kopf-Myriaden, doch blickst du hin: ein weißes Blatt. Es ist vorübergeschwebt. Hat den Tisch nicht berührt. Und dies hier schrieb ich in letzter Minute: Man drängt mich, ruft an, die Nummer kann nicht erscheinen…“
Dann erzählten Sie von der Achmatowa. Ich fragte nach ihrem wichtigsten irdischen Merkmal. Und Sie, mich musternd: – Die Reinheit der Aufmerksamkeit. Sie erinnert mich an eine Schwester. Dann lobten Sie mich („obwohl man das keinem ins Gesicht sagen sollte“), daß ich in diesen Jahren trotz allem schrieb – ach, ich vergaß ja die Hauptsache – „wissen Sie, wem Ihr Buch sehr gefiel? – Majakowski.“
Das war eine große Freude: ein Geschenk aller Fremdheit besiegt Räume (Zeiten?).
Wirklich – ich erstrahlte innerlich.
Und der Sarg: weiß, ohne Kränze. Und – schon nahe – die beruhigende Pforte des Nowodewitschi Monastyr: die Gnade.
Und Sie… „Ich habe nichts mit denen…, es ist ein Irrtum wissen Sie: Sie geben die Gedichte in irgendwelche Anthologien…“
Jetzt das Wichtigste: Wir stehen am Grab. Auf meinem Ärmel schon keine Hand mehr. Ich fühle – wie immer in der ersten Sekunde einer Trennung – mit der Schulter, daß Sie neben mir sind, einen Schritt zur Seite getreten.
Ich versinke in Gedanken an Tatjana Fjodorowna. Ihre letzte Erdenluft. Und – wie ein Ruck: das Gefühl von Abbruch ich denke nicht zu Ende, weil ich mit Tatjana Fjodorowna beschäftigt bin, – damit, sie bis zuletzt zu begleiten.
Und als ich mich umsehe, sind Sie bereits fort: ein Verschwinden.
Das ist meine letzte Vision von Ihnen. Genau einen Monat später – auf den Tag – reiste ich ab. Ich wollte bei Ehrenburg vorbeigehen, ihn mit dem Augenzeugenbericht über Sie zu erfreuen, doch das Gefühl: ein fremdes Haus, sicher treffe ich ihn nicht an usw.
Später schämte ich mich sogar vor Ehrenburg für diesen Mangel an freundschaftlichem Eifer.
Soweit, lieber Boris Leonidowitsch, meine „Geschichte mit Ihnen“, – ebenfalls bruchstückhaft.
Ihre Gedichte kenne ich wenig: einmal hörte ich Sie von der Bühne, Sie vergaßen damals ständig den Text. Ihr Buch sah ich nicht.
Das, was mir Ehrenburg sagte, – traf mich augenblicks, riß mich fort: klirrend, zwitschernd, mit allem gleichzeitig: wie das Leben.
Ein Lauf im Kreise, doch der Kreis – ist die Welt (das Universum!) und Sie – sind ganz am Anfang und werden ihn nie vollenden, denn Sie sind sterblich.
Alles nur skizziert – zugespitzt! und weiter, ohne sich Besinnung zu gönnen. Eine Poesie der Vorhaben, – stimmen Sie zu?
Das schließe ich aus jenen fünf – sechs Gedichten, die ich kenne.
Bald wird mein Buch Handwerk erscheinen – Verse der letzten anderthalb Jahre. Gern werde ich es Ihnen zusenden. Vorerst aber schicke ich zwei winzige Heftchen, die hier in meiner Abwesenheit herauskamen – einfach um die Reisekosten zu decken: Gedichte an Blok und Abschied.
Ich bin für lange in Berlin, wollte nach Prag fahren, doch dort sind die äußeren Lebensumstände sehr hart.
Hier bin ich mit niemand befreundet, außer mit den Ehrenburgs, und Bely und mit meinem Verleger Helikon.
Schreiben Sie mir, wie es um Ihre Abfahrt steht: ob Sie richtig reisen (in der äußeren Welt: der Visa, Fragebögen, Milliarden.) Hier lebt es sich sehr gut, keine Stadt (so oder anders) – Anonymität – Weite! Man kann ganz ohne Menschen sein. Ein bißchen wie im Jenseits.
Ich drücke Ihre Hand – erwarte Ihr Buch und Sie
M. Z.
Meine Anschrift:
Berlin-Wilmersdorf Trautenaustraße 9,
„Trautenau-Haus“8
Pasternaks Eltern hatten die Sowjetunion bereits verlassen und wohnten in Berlin. Wie man hörte, stand Pasternaks Ankunft in Berlin unmittelbar bevor, doch man wußte nicht, ob er die Absicht hatte, auf Dauer ins Exil zu gehen. Marina (inzwischen in der Tschechoslowakei) hätte diese Gelegenheit ergreifen und nach Berlin reisen können, um ihn zu treffen. Sie tat es nicht, obgleich ihr bewußt gewesen sein muß, daß dies vielleicht ihre letzte Chance war, mit ihm zusammenzutreffen. Ihr Entschluß wurde vielleicht durch die Tatsache beeinflußt, daß er in Begleitung seiner Gattin kommen würde, die er im vergangenen Frühjahr geheiratet hatte – Jewgenja Muratowa, eine überaus schöne Künstlerin. (Marina sollte seine Heirat während ihrer langen Korrespondenz nie erwähnen.) Auch die Fahrtkosten bereiteten Schwierigkeiten: Marina hielt sich nie für berechtigt, das Budget der Familie aus ausschließlich selbstsüchtigen Gründen zu dezimieren. Nichtsdestoweniger erwog sie Pasternaks Einladung, nach Berlin zu kommen, und entschied sich aus praktischen und eigentümlichen persönlichen Gründen gegen die Reise. In einem unvergleichlichen Brief legte sie die Gründe dar:
Mokropsy, 9. März (neuer Zählung) 19239
Lieber Pasternak,
Ich werde nicht kommen, – habe einen sowjetischen Paß und keine Bescheinigung über einen todkranken Verwandten in Berlin und keine Beziehungen, das durchzusetzen – bestenfalls dauert ein Visum zwei Wochen. (Gleich nachdem ich Ihren Brief bekam, erkundigte ich mich aufs genaueste.) Hätten Sie eher geschrieben, und hätte ich gewußt, daß Sie so bald fahren… Vor einer Woche ein beiläufiger Hinweis in Ljubow Michailowna Ehrenburgs Brief: Pasternak will Rußland verlassen… Danach: dies und jenes, alles flüchtig, ohne ein Datum.
Lieber Pasternak, ich habe nichts als mein Streben zu Ihnen, und das wird nicht helfen. All die Zeit wartete ich auf Ihren Brief, wagte nichts zu tun ohne Ihre Erlaubnis, wußte nicht, ob Sie mich brauchen oder nicht. Ich verlor einfach den Mut. (Ich schreibe Ihnen in fröhlicher, fieberhafter Todeserwartung.) Jetzt weiß ich es, doch zu spät.
Seit ich Ihre Themen und Variationen erhielt – nein, früher, seit ich von Ihrer Ankunft weiß, sagte ich: Ich werde ihn sehen. Mit Ihrem lila Büchlein lebte das auf, verwandelte sich in Wirklichkeit (in Blut), ich setzte mich an einen großen Prosaband (Briefwechsel!), den ich Mitte April zu beenden gedachte. Ich arbeitete Tag für Tag, ohne den Rücken zu strecken. Was das miteinander zu tun hat? Das ist klar. Mich so auf etwas zu stürzen, habe ich kein Recht (vor meinem lebensunterhaltenden Ich). Mein Leben (das der Meinen) ist sehr schwer. Reise ich ab – lastet der ganze verfluchte Alltag auf ihnen. Ich hatte mich mit Feuereifer darangesetzt. Jetzt ist es zu spät: das Buch wird da sein, Sie aber – nicht. Sie brauche ich, das Buch aber – nicht.
Ein letztes Wort: nicht aus Hinterlist (mehr werden Sie an mich denken, wenn ich nicht komme. Nicht mehr – eine Lüge!), nicht aus Berechnung (zu sehr werde ich an ihn denken, wenn ich ihn sehe! Ohnedies ist’s zu sehr – und mehr geht nicht!) und nicht aus Feigheit (zu enttäuschen, enttäuscht zu werden).
Gleichviel, es ist ungeheuerlich – Ihre Abreise, vom Berliner Perron, von meinem böhmischen Berg, von dem ich Ihnen am 18.ten den ganzen Tag (da ich die Stunde nicht weiß) das Geleit geben werde – solange die Seelenkraft reicht.
Ich werde nicht kommen, weil es zu spät ist, weil ich hilflos bin, weil Mark Slonim zum Beispiel sich die Erlaubnis in einer Stunde beschafft, weil dies mein Schicksal ist – Verlust.
Nun aber zu Weimar. Pasternak, spaßen Sie nicht. Diese ganzen zwei Jahre werde ich darauf hinleben. Und sollte ich in diesen Jahren sterben (ich werde nicht sterben!), wird das mein vorletzter Gedanke sein. Nur spaßen Sie nicht. Ich kenne mich. Pasternak, soeben bin ich auf einem schwarzen Feldweg zurückgekehrt (ich war bei Leuten, die gerade erst gereist waren, mich wegen des Visums zu erkundigen) – ich ging tastend: der Schmutz, die Löcher, die dunklen Laternenmasten. Pasternak, ich dachte so heftig an Sie, nein, nicht an Sie, an mich ohne Sie, an diese Laternen und Wege ohne Sie, – ach, Pasternak, meine Füße werden noch Milliarden Werst gehen, ehe wir uns begegnen! (Verzeihen Sie diesen Wahrheitsausbruch, ich schreibe wie vor dem Sterben.)
Eine mächtige Schlaflosigkeit steht mir bevor, Lenze und Sommer, ich kenne mich, jeder Baum, auf den mein Auge fällt, werden – Sie sein. Wie damit leben? Es geht ja nicht darum, daß Sie dort sind, während ich hier bin, es geht darum, daß Sie dort sein werden, daß ich nie wissen werde, ob es Sie gibt oder nicht. Sehnsucht nach Ihnen und Angst um Sie, unbändige Angst, ich kenne mich.
Pasternak, das begann mit der Schwester, ich schrieb es Ihnen. Doch damals, im Sommer, stoppte, kappte ich es durch die Abreise in ein andres Land, ein andres Leben, und jetzt sind mein Leben – Sie, und ich kann nirgendwohin davonfahren.
Nun unverblümt. Was ist denn? Was ist los? Ich bin ehrlich und klar, – ich schwöre! – ich weiß kein Wort dafür. Ich werde alle durchprobieren! (Wie wenig ich es weiß – werden Sie den Februargedichten entnehmen.) Die Begegnung mit Ihnen wäre für mich eine gewisse Erlösung von Ihnen gewesen, eine legitime – verstehen Sie? Ein Ausatmen! Ich würde (von Ihnen) in Sie ausatmen. Nur seien Sie nicht böse! Das sind keine maßlosen Worte, es sind maßlose Gefühle: Gefühle, die den Begriff des Maßes bereits ausschließen! – Und ich sage weniger, als ist.
… Pasternak, zwei Jahre Wachstum noch vor mir, vor Weimar. Plötzlich beginne ich zu glauben – wie verrückt! Ich möchte Ihnen ein Versprechen geben, gebe es lautlos. – Ich werde Ihnen Gedichte schicken und alles, was ich haben werde im Leben. Von Ihnen, dem Dichter, werde ich anderen erzählen. Kein einziges Wort nehme ich zurück, doch wenn es Sie belastet, werde ich schweigen. Dann allerdings bleibt eins: das über mich an Sie (ohne Beschönigung), was ich so sorgsam, Ihretwegen, zu vermeiden suchte. Pasternak, sollte Ihnen das plötzlich zu schwer werden – oder nein, ich bitte nichts, dies aber fordere ich: machen Sie Schluß. Dann jage ich es tief hinein, breche es ab, daß es unter der Erde vermodre – wie damals, im Februar, die Gedichte.
Jetzt ist es 2 Uhr nachts. – Pasternak, werden Sie am Leben bleiben? – Zwei Jahre – was ist das? Ich verstehe die Zeit nicht, verstehe nur den Raum. Ich ging gerade am Steilhang eines Berges entlang, sehe den Zug vorüberfliegen, ich dachte: da ist er! Pasternak, keinen einzigen Zug wird es geben in diesen… warten Sie: 730 Tagen! – um
Ihre erlesene Sendung… Und ich werde mir nichts anmerken lassen! – Ich verliere den Kopf. – „Für die Erlaubnis zu denken, daß ich mich an Sie wende, erwidere ich Ihnen…“ Und weiter, habe ich das etwa vergessen? Nein, ich habe es nicht vergessen, sollte ich es vergessen – mein Gedanke an Sie wird es nicht vergessen.
Das aber, wogegen Sie sich sträuben, ist so zu lesen: „Vollbringen Sie das Wunder (bei mir: ,vermögen Sie‘), seien Sie endlich derjenige…“ „Endlich“ meint nicht Sie, ist so der Feder entschlüpft.
Fürchten Sie sich nicht. Nur dieser eine Brief ist so. Ich bin ja nicht dümmer geworden – und nicht elender, nur weil ich mich an Ihnen verschluckte. Sie bedrückt nicht nur meine Wertschätzung, sondern auch mein Verhältnis zu Ihnen, Sie verstehen noch nicht, daß Sie – der Gebende sind. Ich werde maßvoll sein. In Gedichten nicht. Aber in den Gedichten werden Sie es verzeihen.
Mein Pasternak, vielleicht werde ich einst wahrhaftig ein großer Dichter – dank Ihnen! Ich muß Ihnen doch Maßloses sagen: mir die Brust aufreißen! Im Gespräch geschieht das durch Schweigen. Ich aber habe nur die Feder!
Zwei Qualen kämpfen in mir, zwei Ängste: Die Angst, Sie könnten mir nicht glauben – und die Angst, Sie könnten glauben und vor mir zurückweichen. Ich weiß, das ist eine Sache des äußeren Maßes. Mit äußerer Maßlosigkeit sündige ich nicht nur. Äußerlich – ist mir alles zuviel: sowohl von anderen, als auch – besonders! – von mir. Mein Jammer mit Ihnen (schon Jammer!) liegt darin, daß das Wort für mich durchgängig – Gefühl ist: allerverborgenstes. Begegneten wir uns – Sie würden mich nicht wiedererkennen, sofort wäre Ihnen leichter. Im Wort spiele ich mich frei, wie ich mich einst in jener seligen und reichen Welt von der Verkrümmung und Armseligkeit der hiesigen befreien werde. – Ist Ihnen das klar? – Im Leben bin ich unmäßig scheu, nicht zu halten.
Pasternak, ich habe so viele Fragen an Sie! Wir haben noch über nichts geredet. Es wird ein langes Gespräch werden in Weimar.
Die Feder aus der Hand… Das Reich der Worte schon verlassen… Ich werde mich jetzt hinlegen und an Sie denken. Zuerst mit offenen Augen, dann mit geschlossenen. Aus dem Reich der Worte – ins Reich der Träume.
Pasternak, ich werde nur Gutes über Sie denken, Wahres, Großes. – Wie in hundert Jahren! – Keine einzige Zufälligkeit werde ich dulden, nichts Eigenmächtiges. Gott, jeder Tag meines Lebens gehört Ihnen! Wie alle meine Verse.
Morgen früh werde ich zuende schreiben. Jetzt ist es nach drei, und Sie schlafen längst. Die ganze Nacht habe ich mit Ihnen geredet, während Sie schliefen.
M. Z.
10. neuer März, morgens:
Eine ganze Seite habe ich noch vor mir – ein ganzes gesegnetes weißes Blatt – für alles!…
Eine meiner Sachen kennen Sie noch nicht. Der Recke. Ich habe für sie gelebt seit Ihnen (im Herbst) und vor Ihnen (vor dem Februar). Wenn Sie es lesen, wird Ihnen vielleicht vieles klarwerden. Es ist etwas Wildes, ich konnte nicht davon loskommen. Eine weitere meiner Bitten: schicken Sie mir Gedichte, sie sind für mich ebenso Befreiung wie die eigenen. Schildern Sie mir den Alltag, wo Sie leben und schreiben, Moskau, die Luft, sich im Raum. Das ist wichtig für mich, ich kann es müde werden (vor Glück!), in das „nirgendwohin“ zu denken. – Laternen und Straßen gibt es viele! – Ist mir jemand teuer, ist mir sein ganzes Leben teuer, der armseligste Alltagskram – kostbar! Auf die Formel gebracht: Ihr tägliches Dasein ist mir teurer als eines anderen Sein!
Gestern abend (ich hatte Ihren Brief noch nicht geöffnet, hielt ihn in der Hand) ein Schrei meiner Tochter: „Marina, Marina, kommen Sie!“ (ich dachte: der Himmel oder ein Hund?) Trete hinaus. Mit ausgestrecktem Arm zeigt sie es mir. Der halbe Himmel, Pasternak, war eine Schwinge, eine Schwinge, groß wie der halbe Himmel, einmalig! Die Farbe nicht zu beschreiben! Licht, das Farbe wurde! Und jagt dahin, verhüllt den halben Himmel. Und mir ging durch den Sinn, während ich starrte: „Die Schwinge Ihrer Abreise!“
Von solchen Symbolen und Vorzeichen werde ich leben.
Ich lege Ihnen mein Gedicht „Emigrant“ bei. Ich will, daß Sie es noch in Berlin lesen. Die übrigen (vom ersten bis zum letzten) werden in dem Brief sein, den ich hinterherschicke. Diese lesen Sie – das ist meine zärtliche und dringende Bitte – erst im Waggon, wenn sich der Zug in Bewegung setzt.
Sollte man mich in Moskau heftig des „Weißgardismus“ bezichtigen – machen Sie sich nichts draus. Das ist mein Kreuz. Ein freiwilliges. Mit Ihnen stehe ich darüber.
Ein letztes Wort: leben Sie, mehr brauche ich nicht.
– Hinterlassen Sie Ihre Anschrift. –
Marina10
Trotz seiner Freude über das Wiedersehen mit seinen Eltern war Pasternak in Deutschland sehr unglücklich. Er war von Bely enttäuscht. Ihm mißfielen die Mengen russischer Exilanten in Berlin. Und als er bei einem Besuch in Marburg erfuhr, daß sein alter Professor, Hermann Cohen, gestorben war, hatte die Stadt für ihn jeden Zauber eingebüßt. Bald bekam er Heimweh nach Rußland, und ohne lange zu zögern, beschloß er, mit seiner Frau zurückzukehren.
Die meiste Zeit ihres Lebens im Exil wartete Marina weiterhin auf ihr Zusammentreffen mit Pasternak, das sie sich immer wieder ausmalte. Vermutlich war alles, was sie in den 20er und frühen 30er Jahren schuf, in gewissem Sinne von ihm inspiriert oder an ihn allein gerichtet. Sein Lob, das sich herzlich und verschwenderisch durch die Jahre fortsetzte, erwies sich als eine seltene Stimme, nachdem die Aufregung über ihre Ankunft unter den russischen Emigranten nachließ und in Ablehnung und Verwirrung umschlug. Marina schrieb später an Pasternak:
Ich brauche niemandes Lob oder Anerkennung, außer der Deinen.11
Aber zu dieser Zeit war sie unglücklich und schrieb über das, was zum Überleben nötig war, nicht für das Glück.
Es ist nicht schwer nachzuvollziehen, warum das Thema von Der Recke für Marina damals und in den folgenden Jahren so reizvoll war. Sie spürte in wachsendem Maße, wie sehr die Sorge um ihren kranken, müden Ehemann und die Belastung durch zunächst ein, dann ein zweites Kind ihre Lebenskräfte aufzehrten. Kein Wunder, daß ein Volksmärchen über ein junges Mädchen, das sich in einen Vampir verliebt, eine Saite in ihrem Inneren zum Erklingen brachte. Als das Dorfmädchen Marusja (Marinas eigener Kindheitsname) indes entdeckt, daß sein Verlobter ein Vampir ist, verrät es ihn nicht, obwohl ihre Mutter und ihr Bruder von ihm ermordet werden; am Schluß fällt Marusja ihm selbst zum Opfer. Marina wurde die Einseitigkeit ihrer Beziehung zu Serjoscha immer deutlicher, obwohl es Jahre dauerte, bevor sie ihre erste wahrhaft verzweifelte Bemerkung darüber machte:
Heirat und Liebe zerstören. Es ist ein Verhängnis. So dachten Goethe und Tolstoi. Und für eine frühe Heirat wie in meinem Fall – ist es eine Katastrophe…
Sie erspart sich jeden Hinweis auf einen persönlichen Bezug zum Thema von Der Recke, doch in ihrem Essay „Der Dichter über die Kritik“ beschrieb sie, welches Element des Volksmärchens sie am meisten reizte:
Ich habe bei Afanassjew das Märchen „Der Vampir“ gelesen und darüber nachgedacht, warum Marusja, die Angst vor dem Vampir hatte, sich so hartnäckig nicht eingestand, was sie gesehen hatte, wo sie doch wußte, daß Benennen die Rettung bedeutete. Warum nein, statt ja? Aus Angst? Aber aus Angst verkriecht man sich ja nicht nur unter die Bettdecke, aus Angst springt man auch aus dem Fenster. Nein, nicht aus Angst. Und wenn auch Angst, so war da doch noch etwas anderes. Angst und was? Wenn man mir sagt: tu das und das, und du bist frei, und ich tue es nicht, so heißt das, daß ich die Freiheit nicht so sehr will, so heißt es, daß mir die Unfreiheit teuer ist. Und was ist unter Menschen eine Unfreiheit, die einem teuer ist? Liebe. Marusja liebte den Vampir, und deshalb hat sie ihn nicht genannt und eins nach dem anderen: die Mutter, den Bruder, das Leben verloren. Leidenschaft und Verbrechen, Leidenschaft und Opfer…
Das war MEINE Aufgabe, als ich den Molodez in Angriff nahm. Das Wesen des Märchens aufzudecken, das als Gerüst gegeben war. Die Sache zu entzaubern. Und nicht etwa, eine ,neue Form‘ oder eine ,volkhafte Form‘ zu schaffen. Das Poem hat sich selbst geschrieben, ich habe daran gearbeitet, ich habe jedes Wort gehört (nicht abgewogen – herausgehört!), daß Arbeit in diesem Poem steckt, wird bezeugt 1) dadurch, daß der Leser sie nicht bemerkt; 2) durch die Entwürfe. Aber all das ist schon der Werdegang des Werks, seine Realisierung, nicht die Idee.12
1922 konnte Marina beim besten Willen nicht voraussehen, wie einsam sie als Schriftstellerin werden sollte. In diesem Jahr erschien ein schmaler Band ihrer Gedichte an Blok in Moskau und Berlin; dazu kam ein Nachdruck der Gedichte an Blok und der Gedichtband Handwerk. Ilja Ehrenburg förderte ihr Werk nach Kräften und nahm Beiträge von ihr in zwei wichtige Anthologien auf, von denen eine den Titel Die Dichtung des revolutionären Moskau trug. Ihr Name und der der Achmatowa wurden in einem Atemzug genannt – sogar von Trotzki, der ihre Werke mißbilligte.
Was immer ihr Brief an Pasternak vom Juni 1922 auch andeuten mag, sie hatte nicht die Absicht, lange in Berlin zu bleiben. Zu dieser Zeit sehnte sie sich von ganzem Herzen danach, mit Serjoscha zusammenzuleben. Voller Freude malte sie sich ein Dorf, möglichst in der Nähe Prags aus, ein Haus mit Paraffinlampen und einem Brunnen für das Wasser. So brachen denn Marina und Alja in die Tschechoslowakei auf.
(…)
Elaine Feinstein, aus Elaine Feinstein: Marina Zwetajewa. Eine Biographie, Frankfurter Verlagsanstalt, 1990
FÜR MARINA ZWETAJEWA
Was wandelbar schien, gewinnt an Sinn und Gestalt,
die Lüfte, die dich bis zu den Sternen trugen,
der Gürtel um deine Taille, dein ungelenker Gang
und der Klang deiner scharfkantigen Gedichte.
Erlöst Strömende, Entfesselte,
Brennende, dich freizügig Verschwendende,
stell dir vor: wir hätten uns niemals getrennt,
die Wasser der Zeit mündeten in eine Quelle.
Nimm diese Hand aus dem Fluß der Jahre!
Entzweie nicht, was ineinander fließt,
Herrscherin abgründiger Wasser:
trenne nicht, was zusammenströmt.
Arseni Tarkowski, 1941
(Übersetzung: Martina Jakobson)
Zwiesprachen VI: Katharina Schultens spricht über Marina Zwetajewa am 24.1.2016 im Lyrik Kabinett, München
Katharina Kohm: Die Begegnung an der Naht. Zu der Vortragsreihe Zwiesprachen VI: Katharina Schultens über Marina Zwetajewa am 25.1.2016 im Lyrik Kabinett
signaturen-magazin.de
Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa
Bettina Wöhrmann: Der Granatapfelkern Persephones
Ostragehege, Heft 64, 2011
Doris Liebermann: Vor 75 Jahren – Dichterin Marina Zwetajewa gestorben
Deutschlandfunk Kultur, 31.8.2016
Schreibe einen Kommentar