FÜR MAJAKOWSKI
1
Daß die Erde nicht krepier
An Kerlen ohne Verve,
Sei, Säugling Wolodimir:
Die ganze Welt beherrsche!
2
„Die Literarische“ – ohne Frage
Nicht sie steht zur Rede – sondern Blut!
Erscheint alle sieben Tage.
Der Fortgegangene – gehts gut,
Einmal im Jahrhundert. Der Vorposten
Erschossen. Sag, Hauptstadt, was
Noch willst du hörn, welche Chose
Käm dir als Titel zupaß?
So ists doch, Freunde, sagt
Ein Tschernowe zum Miljuken:
„Wladimir Majakowski? Tja.
Ein Baß, heißt es, mit Bluse
Drumrum…“
aaaaaaaaaaaaAch Blut, dein Blut!
Wie sich dem Neuen befreunden,
Wenn sie seines Ersten Tod
Auf Seite zwei beleumden
(Der „Iswestija“).
3
„In einem Sarg, schlichtem dunklem Anzug
und derben, eisenbeschlagnen Stiefeln liegt
der größte Dichter der Revolution.“
„Extranummer“, 24. April 1930
In den Stiefeln, beschlagen mit Eisen,
Den Stiefeln, mit denen er nachmaß
Den nicht auf Schlichen, Zingelkreisen
Zu bezwingenden Paß –
Verschlissen glänzend wie Talmi
Im Marsch über zwanzig Jahr
Nahm er den proletarischen Sinai,
Auf dem er Gesetzgeber war.
In den Stiefeln, zweihöhlige Bleibe,
Aus Abscheu vorm Wohnungsamt –
In denen, gequälten Leibes,
Den Berg er trug – und nahm – und schalt – und sang.
In den Stiefeln, bis zum Umbruch ungebrochen,
Über des Oktobers brachen Schlag,
In den Stiefeln, beinah Taucherglocken,
Landsturmstiefeln, sauberer gesagt:
In den Stiefeln des großen Feldzugs
Gewiß, mit Donbaß-Nägeln begabt,
Trug er den Elendsberg seines Volkes
Von hundertfünfzig (Gosizdat)
Millionen… In einem Maße Eignen,
Wo es das zigte Jahr schon heißt:
,,Nichts Eignes in den Zeilen!“
Aller Völker Elendsberg – hier der Beweis!
In diesen also – von seinen Amischlitten
Ist das Getuschel nicht verstummt –
Rief der Tote den Pionieren: Angetreten!
In diesen Stiefeln – wie Zeugenmund.
4
Das Liebesboot zerbrach am Sein.
Keinen Sechser setzt man
Auf so einen Banditen.
Dein Liebesboot, Genosse, stammt
Aus welchen Exerzitien?
Mit einem Boot, gar Liebesnachen
Umzukippen – welch Skandal!
Rasin – dir wohl gleich im Kragen –
Litt am Alltag weniger Qual.
Welche Neuigkeit – ein Mittel,
Sprudelnd wie ein Wasserhahn!
Junge, nicht sehr proletarisch
Ist das – eher à la Pan!
Lohnte denn, bei Gott und Mutter!
Dein Fluch um – Blut, nicht Morgenrot!
Vorzukehrn das Klassenfutter,
Das weiße, weils der Schluß gebot.
Kadettenwitz, der in der „Tosca“
Schoß – aus Melancholia!
Junge! nicht nach Majakowski
Riecht das: bloß nach Schah.
Besser: Mützlein in die Augen
Und – leb wohl, meine Djanym!
Lebtest wie dein eigner Enkel
Und gingst wie – deine Ahnen hin.
Einst, wenn wir zum Richter
Treten, wird dich Scham zerfressen:
Sowjetwerther, Selbstvernichter.
Rußlands alte Adelsgeste.
Hieß es früher – Auf die Wache!
Liest man heute…
aaaaaaaaaaaaaaaaa– Liebster Feind!
Keine neuen Liebesbarken
Gibt es unterm Mondschein.
5
Der Schuß – gezielt in die Seele,
Als wäre sie ein Feind.
Der Heide zerfetzte die Kehle
Des letzten Götterheims.
Noch einmal brillierte er.
Ins Schwarze – und entschlief.
Also doch ein Herz,
Wenn drüber nichts mehr lief.
(Bei Treffen – Ausländerscherze:
„Teufel nochmal! Bombending!
So, haben die auch Herzen,
Und genau wie wir, links?“)
Der Schuß – gezielt ins Schwarze
Wie in ein Jahrmarktsbrett.
(Blessiert den Ohrenrand
Und dann die Frau ins Bett.)
Solch Schütze! Nicht daneben.
Und wenn frauenhalber – was machts.
Noch Helena, bei Licht besehen,
Geriet als Schlampe in Betracht.
Mit einem nur, dafür gehörig,
Hat der LEF-Mann uns bekehrt:
Der nur nach rechts zu röhren
Wußte, hat die Linke sich versehrt.
Wär rechts es gewesen – zügig
Skalpell: gesund der Mann.
Der Schuß – in den linken Flügel:
Den Sitz von „Zentralgesang“.
6
Körner, mit feuerigem Antlitz
Streue ich auf die Hand;
Daß er im Schlund des Lichts
Erscheine als roter Brand.
Sowjetischer Adel
Plenare Synode…
– Gegrüßt, Serjosha!
– Gegrüßt, Wolodja!
Gemartert? – Ein wenig.
– Behördlich? – Persönlich.
– Schoß sichs? – Gewöhnlich.
– Brannt es? – Phantastisch.
– Schon ausgelebt?
– Ich passe, im Grunde.
… Verwerflich, Serjosha
…Verwerflich, Wolodja.
Ich hoffe, du weißt noch
Wie du mich im Baßton
Mit üppigen Flüchen
Belegtest? – Laß schon
Laß… – Da, die Schaluppe
Die Liebeskajüte!
Und wegen ner Puppe?
– Um Wodka ist übler.
Gedunsene Visage
Und seitdem besoffen!
Verderblich, Serjosha.
– Verderblich, Wolodja.
Indessen – kein Bartdolch –
Saubere Mittel.
So ist denn gelocht
Das Kärtchen? – Es sickert.
– Leg Wegerich auf.
– Gut tut Kollodium.
Leg auf, Serjosha.
– Leg auf, Wolodja.
Und was gibts in Rußland
Dem Mütterchen! – Au!!
Wo? – In der ESESESER
Gibts Neues? – Man baut.
Die Eltern – gebären.
Die Schädlinge – raspeln.
Die Verleger – verklären.
Die Schriftsteller – basteln.
Es wuchs eine Brücke
Doch fiel sie ins Wasser.
Wie immer, Serjosha!…
– Wie immer, Wolodja!
Und unsere ,Sänger‘?
– Dies Volk ist gerissen!
Uns Kränze flechtend
Uns, wie Verblichene
Bestiehlt man. Die ROSTA
Mit morgigem Lack.
Ist halt nicht genug
Mit einem Pasternak.
Wolln Hand wir anlegen
In ihrer Ödnis?
Wolln wir, Serjosha?
– Wolln wir, Wolodja?
Noch grüßt und verehrt dich…
– Was macht unser guter
Lsan Alexanytsch?
– Das Englein, dort! – Fjodor
Kusmitsch? – Am Kanal.
Tief, bis an die Wangen
Stand er. – Gumiljow, Nikolai?
– Gen Orient gegangen.
(In blutiger Matte
Das Fuhrwerk beladen…)
– Das alte, Serjosha.
– Das alte, Wolodja.
Und wenn stets das alte
Wolodja, mein Knabe
So lassen wir uns
Nochmals zur Ader.
– Und, ohne sie zu haben
Serjosha, Bruder
Plaziern wir Granaten
Unter dies Ruder!
Im zitternden Licht
Der steigenden Sonne
Plaziern wir, Serjosha!
– Plaziern wir, Wolodja!
7
Viele Tempel zertrat er
Doch dieser ist ohne Vergleich.
Nimm, Herr, in ewigen Frieden
Die Seele deines Feinds.
August 1930, Savoyen
Nachdichtung Richard Pietraß
1
Kein russischer Dichter hat sich so sehr selber erfinden müssen wie Marina Zwetajewa. Tochter, die ein Sohn sein sollte. Dichter, in dem man die Poetessa lieber sah als den Poeten.
Als Sohn erwartet und als die unerwünschte Tochter zur Pianistin bestimmt (dem Wunschleben der Mutter), erträumt sie sich phantastische Adoptionen: durch einen Teufel im Zimmer der Stiefschwester, durch Altgläubigen-Nonnen in Tarussa, dem mittelrussischen Sommersitz der Familie, durch eine Tante in der Schweiz. Daß man eine Poetessa vor sich habe, war ein Gemeinplatz der beginnenden zwanziger Jahre. Ossip Mandelstam konnte sich nicht fassen vor Entrüstung über die „Muttergottesstrickereien“ der Zwetajewa; ihr ganzes Moskau sei erlogen, bestenfalls unfreiwillige Parodie und überhaupt gebe es nur eine Frau, die mit dem Recht einer neuen Muse in den Kreis der Poesie getreten sei – die russische Wissenschaft von der Poesie, wie sie jetzt in der Formalen Schule von Eichenbaum, Shirmunski und Schklowski an Kraft gewonnen habe. „Zigeunerlyrismen“ sagt Majakowski. „Kleine Welt“, sagt Leo Trotzki:
Sie umfaßt die Dichterin selbst, einen Unbekannten mit Melone oder mit Sporen und – unvermeidlich – Gott, ohne besondere Kennzeichen.
Valeri Brjussow, der Symbolist und frühe Förderer der Zwetajewa, will der Verkennung steuern, worauf kommt er? Auf einen Abend der Poetessen, von ihm präsidiert. Noch als Boris Pasternak 1926 Rilke auf Marina Zwetajewa aufmerksam macht, weiß er nur Marceline Desbordes-Valmore, die französische Romantikerin, zum Vergleich zu empfehlen.
Und das einer Frau, die ein „Wunder an Verstehen“ erwartet. Das Wunder zwischen „Ich küsse immer – als erste“ und „Zwischen uns – die Doppelklinge“. In ihrer „Erzählung von Sonetschka“, ihrer Geliebten während des Kriegskommunismus in Rußland, gibt es eine Stelle, die keiner der Sprecherinnen ausdrücklich zugewiesen ist, beide könnten sie sprechen:
Vor allem aber, ich küsse immer – als erste, einfach so wie ich die Hand gebe, nur – unwiderstehlicher. Ich kann es einfach nicht erwarten! Danach, jedes Mal: Wer treibt dich bloß? Du bist selber schuld! Ich weiß genau, daß das niemandem gefällt, daß sie alle gern demütig tun und scharwenzeln, eine Gelegenheit abpassen, hinterherrennen, Jagd machen… Vor allem das – ich kann es nicht ausstehen, wenn der andere als erster küßt. Jedenfalls weiß ich, daß ich das will.
Aber dann „Die Klinge“:
Zwischen uns – die Doppelklinge,
Treueschneide – auch im Geist…
Aber der Bruder, herzbezwingend?
Und die Bezaubrung, die Schwester heißt?
……………………
Zwei Seiten geschärft – und schneidet?
Es vereint! Zerreiß, Schwert, das Kleid,
Und, Wunde zu Wunde, Bein zu Beine,
Zueinander uns, drohender Wächter, befreit!
Marina Zwetajewa erfand das „ewige Paar der Sich-Nie-Begegnenden“. So bezeichnete sie 1929 (in deutsch) ihr Leben, das sie mit den Männern und Frauen ihrer Liebe lebte. Die Irritationen waren ungeheuer, beginnend bei ihrem Mann Sergej Efron, der nicht ahnte, wem er zugefallen war und endend bei Tanja Kwanina, ihrer letzten Liebe in Moskau, die auch nachdem sie die „Erzählung von Sonetschka“ gelesen hatte, nicht begriff, wie sie geliebt wurde. Das Wunder blieb aus und der eine, von dem Marina Zwetajewa sagt, er sei der einzige gewesen, der gewußt habe, wie sie geliebt sein wolle, Nikodim Plutzer-Sarna, ihr Geliebter im Sommer 1916, ist verschollen.
Heftig und innig, Usurpation und Verzicht, beides in einem – darauf war keiner gefaßt. Als es 1940 zu Begegnungen mit Anna Achmatowa kam, war die Achmatowa, die in den Gesprächen meist geschwiegen hatte, von der ungebrochenen Wildheit der Zwetajewa aufgerührt und soll gesagt haben, verglichen mit Marina sei sie sanft wie ein Kälbchen. Zweifellos blieb in dieser Verbindung immer ein Rest an Gewaltsamkeit, die Gewaltsamkeit einer Erfindung. Doch nur auf diese Weise ist es Marina Zwetajewa gelungen, etwas Unglaubliches zu vollbringen: In ihrer Heftigkeit reinigte sie das große Gefühl und man wird sich nicht wundern, von der Lieblingslektüre ihrer Jugend zu hören: „Der junge Adler“ von Edmond Rostand, „Der Trompeter von Säkkingen“ von Viktor von Scheffel, „Undine“ von de la Motte Fouqué. Herzzerreißende Geschichten von großen Passionen und großem Entsagen. Die viel verhöhnten Verse aus dem „Büchlein der Lieder“, das Scheffel in sein Versepos hineinschreibt, hört man hier etwas anders:
Behüt’ dich Gott! Es wär so schön gewesen,
Behüt’ dich Gott! Es hat nicht sollen sein.
Es gab für Marina Zwetajewa nur eine Gestalt, die die Spannung von Heftigkeit und Innigkeit, von Gefühlswucht und Entsagung auszuhalten vermochte, eine Gestalt, die sie ihr Leben lang gesucht und erfunden hat, die sie aus den Büchern ihrer Jugend herauslas, an der sie ihre geschichtlichen Sympathien maß und der sie sogar noch den Namen ihres Sohnes entlieh – die Gestalt des Ritters. Alexander Blok ist für sie der Ritter inmitten eines leeren Literaturbetriebs. Ritter St. Georg, der alte Schutzheilige Nordrußlands, steht ihr für die Weiße Bewegung, und ihrem Mann, dem Offizier der Weißen Armee, huldigt sie in einem „Georg“-Zyklus. Im Gesicht der Statue des Ritters Bruncvík unterhalb der Prager Karlsbrücke glaubte sie, ihre Züge zu erkennen. Ritter Bruncvík, der Legende nach Přemysl II., erwarb auf seinen Fahrten vor seiner vierzigjährigen Herrschaft über Böhmen einen Löwen und ein Zauberschwert. Wenn sie einen Schutzengel habe, so Zwetajewa, dann einen mit seinem Gesicht, seinem Löwen und seinem Schwert. 1925 nannte sie ihren Sohn Georg.
Marina Zwetajewa – der weibliche Ritter, die Amazone. Was hat sie erzählt? Mit sechzehn besuchte sie mit dem Vater eine Charlottenburger Gipsabgießerei und durfte sich von den Kopien zwei wählen.
Und was war es, meine Liebe auf den ersten Blick – eine Amazone! Achills geliebte Feindin, von ihm erschlagen und beweint, und jene, die andere, gesittete, meine ,erste beste‘ – niemand anderes als Aspasia!
Aspasia, die kluge Hetäre, Geliebte des Perikles, Genossin der Philosophen.
Sieht man die Erfindungen in der Ritter-Amazone-Aspasia ineinandergehen? Sohn in der Tochter, Dichter in der Poetessa, Mann in der Frau.
2
Hochfahrend und wild wird sie einem begegnen, wo immer man sie aufschlägt. Aber diese Abschiede, Abweisungen, Verzichte, Sarkasmen, Beschimpfungen – vogelbeerbitter, sagt sie – haben einen unwiderstehlichen Zauber, den Zauber des Aufruhrs gegen die Vergänglichkeit. Es ist dieser Aufruhr, der sie zum Dichter macht.
„Für wen schreibe ich“, fragt sie 1927 in ihrem Essay „Dichter über Kritiker“: „Nicht für die Millionen, nicht für einen einzelnen, nicht für mich. Ich schreibe für die Sache selber. Die Sache schreibt sich durch mich.“ – „Der furchtbarste, der erbittertste (und der würdigste!) Feind des Dichters ist das Sichtbare. Ein Feind, den er nur auf dem Wege der Erkenntnis überwältigt. Das Sichtbare in den Dienst des Unsichtbaren zu zwingen – das macht das Leben des Dichters aus.“ Man hat sie mit diesem Anspruch mythoman genannt, und tatsächlich haben alle, die mit ihr zu tun bekamen, diesen Kampf gegen das Sichtbare am eigenen Leib erfahren müssen und fürchten gelernt. Selbst die Tapfersten, die Helden ihrer großen Brief-Romanzen – Boris Pasternak und Rainer Maria Rilke – sind am Ende vor Marina Zwetajewas Mythisierungen zurückgeschreckt, wie erst die Zaghaften. Sie fanden da ihr Leben wieder als das sichtbare Material, aus dem die Zwetajewa das unsichtbare Entzücken ihrer Liebe, ihrer Verlassenheit, ihrer Vermessenheiten und Niederlagen arbeitete. Dem Dichter Maximilian Woloschin, ihrem Förderer und väterlichen Freund von der Krim, hat sie die Beschreibung dieser Operationen in den Mund gelegt: „Wenn Sie einen Menschen lieben“, sagt er zu ihr, „möchten Sie immer, daß er ginge, damit Sie von ihm träumen können. Möglichst weit weg ginge, damit es sich um so länger träumen ließe.“
Daß sie mit diesem Konzept nie die Saison bediente, gar die wechselnden Ismen, die „Quadrille der Literatur“, ist nur die äußere Form ihrer Entledigung von den gefährlichen Sichtbarkeiten. Immer sind die Besiegten ihre Helden, die ins Unsichtbare Sinkenden. In der Revolution zeigt sie das Heldentum der Gegenrevolutionäre. In der Emigration sagt sie von der Sowjetunion:
Die Kraft ist dort.
Der Massendissens der Frauen in Frauenkursen, im Suffragetteneifer, Feminismus, Heilsarmeetreiben ist ihr tief zuwider: in der Kunst gebe es keine Frauenfrage. Die Russin kultiviert ihre deutschen Verwurzelungen, mythisiert natürlich auch hier. 1919 im Tagebuch:
Frankreich ist mir zu leicht, Rußland zu schwer, Deutschland angemessen – der alte Stamm, die Eiche, heilige Eiche (Goethe! Zeus!). Deutschland ist die passende Hülle für meinen Geist, Deutschland – mein Leib: seine Ströme – meine Hände, seine Haine – mein Haar, es ist ganz mein, und ich ganz – sein!… Deutschland – Schraubstock für den Leib und Eleusinische Felder für die Seele. Ich bei meiner Maßlosigkeit brauche einen Schraubstock.
Und die Russin verbindet sich mit einem russischen Juden, dem sie durch alle Unlösbarkeiten folgt, folgt „wie ein Hund“, wie sie es in der Stunde seiner tödlichen Bedrohung mit einem furchtbaren Eid geschworen hat, denn:
Alle Dichter sind Juden.
Sie bleibt sich selber treu, als sie wider allen guten Rat in der sicheren Erkenntnis ihres Untergangs 1939, ihrem Mann folgend, in die Sowjetunion zurückkehrt.
Außerhalb der literarischen Schulen und politischen Übereinkünfte stehend, fehlt der Zwetajewa der Gruppen-Bonus. Und es mag durchaus auch darauf zurückgehen, daß sie von den großen russischen Dichtern des Jahrhundertbeginns Westeuropa als letzte erreicht. Sie ist ganz allein. Valeri Brjussow, einer der Organisatoren des russischen Symbolismus und nach der Revolution ein Arrangeur der literarischen „Quadrillen“, nannte die Zwetajewa wegen dieser fehlenden Gruppenzugehörigkeit sogar einen „Niemand“, was sie freilich selber nur als einen weiteren „titre de noblesse“ verbuchen konnte.
Wahr ist, daß sie von keinem der Flügel der russischen Avantgarde mitgetragen wurde. Weder vom poetischen Aktivismus, der sich vor der Revolution geistig und nach der Revolution auch organisatorisch mit der sozialistischen Umwandlung Rußlands verband (Futurismus, vor allem Majakowski und seine „Linke Kunstfront“), noch vom poetischen Universalismus, der sein Ziel in der Anstrengung des Menschheitsgedächtnisses und der Gewinnung einer welterfahrenen Häuslichkeit für Rußland sah (Akmeismus, vor allem Nikolai Gumiljow, Ossip Mandelstam und Anna Achmatowa).
Beide Wege waren für Marina Zwetajewa ungangbar, weil sie ihre Grundlagen zerstört hätten. Der aktivistische, weil er einer ruhmredigen Ausstellung des persönlichen Lebens, eines Terrors des Sichtbaren, einer Glorifizierung der Vergänglichkeit bedurfte. Der universalistische, weil er einer Vereinigung von Alltag und Poesie, der Sublimierung des Sichtbaren, eines Einverständnisses mit der Vergänglichkeit bedurfte. An Majakowskis Beispiel hat sie ihr kritisches Verständnis des Aktivismus erörtert:
Ruhm beim Dichter konzediere ich als Reklame – zu finanziellen Zwecken. So applaudiere ich, selber der Reklame abhold, dem – auch hier unvergleichlichen – Maßstab Majakowskis. Wenn Majakowski Geld braucht, veranstaltet er die fällige Sensation („Reinigung der Dichter“, „Schlachtfest der Poetessen“, „Amerikas“ usw.). Skandal, die Leute strömen und lassen ihr Geld. Majakowski, den Dichter, schert weder Lob noch Schmähung. Er weiß, was er wert ist. Aber Geld braucht er. Und seine Selbstreklame ist gerade in ihrer Grobheit reiner als die Papageien, Affen und der Harem von Lord Byron, der bekanntlich kein Geld brauchte.
Unerläßliche Anmerkung: weder Byron noch Majakowski setzten für Ruhm ihre Leier in Gang, beide – das persönliche Leben, den Abfall. Byron braucht Ruhm? Da legt er sich einen Zoo zu, wohnt im Hause Rafaels, fährt – vielleicht – nach Griechenland… Majakowski braucht Ruhm? Da zieht er sich die gelbe Jacke an und wählt zum Auftrittsort einen Bretterzaun. Das Skandalöse des persönlichen Lebens bei gut der Hälfte aller Dichter ist lediglich die Reinigung jenes Lebens, damit es dort rein sei.
Diese Forderung von Vergänglichkeit war für Marina Zwetajewa ebenso unannehmbar wie die eines stillen Einverständnisses mit ihr. Daher der Aufruhr, als sie bei der Rückkehr in die Sowjetunion die Achmatowa in ihrer großen Dichtung der Gedächtnisse Poem ohne Held scheinbar nur mit irgendwelchen Banalitäten aus dem Balleben der russischen Vorkriegszeit beschäftigt fand.
Auch was den Vers angeht, hielt sich Marina Zwetajewa außerhalb der Saison. Sie macht die exzessive Anstrengung der russischen Wortwurzeln bei Welimir Chlebnikow und den Futuristen ebensowenig mit wie die (impressionistischen) Lautnuancentechniken Mandelstams. Weder die Meetingssyntax Majakowskis noch die Flüstersyntax der Achmatowa. Was sie sich gewinnt, ist eine Virtuosität im Rhythmischen: russische Lied- und Sagenfolklore, russischer Kirchengesang, die Auslassungen und Kürzel der Zurufe auf der Straße, das Stammeln und Stottern der Erregung, das Stocken des Erkennens. Gedankenstrich und Ausrufezeichen sind daher die Favoriten ihrer poetischen Interpunktion – die Zeichen des Wechsels und des Affekts. Der Wechsel als Übergang, noch mehr als Ankündigung des Unerwarteten, aber dann auch kombiniert mit Einschaltungen von Fragen und Ausrufen. Und das Zeichen des Affekts nach Befehl, Aufforderung, Warnung, Wunsch, Ausruf, Anrede. Man sehe als extremen Fall das Gedicht „Der Vorhang“ von 1923: Bei 24 Versen 18 Gedankenstriche, 12 Ausrufezeichen; in der deutschen Fassung von Elke Erb sogar 29 bzw. 14.
Hier gibt es nicht den Versuch, einer Syntax des Alltags zu folgen, weder der des vertrauten Gesprächs oder des Selbstgesprächs wie bei Anna Achmatowa noch der des argumentierenden Tribunen wie bei Majakowski. Es ist eine Syntax, die dem Sichtbaren seine wesentliche, innere, unsichtbare, unvergängliche Bewegung ablauscht. „Ablauscht“ – so hat sie es selber genannt, „Silbe für Silbe ablauscht“; aber gleich hat sie eine schöne Ermunterung angefügt, die unsere Lektüre bestimmen könnte. Sie schrieb nämlich:
Wie kann ich, ein Dichter, d.h. ein Mensch des Wesens der Dinge, von Form verführt werden? Ich werde vom Wesen verführt, die Form kommt von allein… Die allmähliche Offenbarung der Züge – so wächst der Mensch, so wächst das Kunstwerk. Wie abgeschmackt, ,formal‘ vorzugehen, d.h. mir (und häufig noch ziemlich falsch) meine Entwürfe nachzuerzählen. Wenn es die Reinschrift gibt, ist der Entwurf (die Form) schon überwunden. Ehe du mir erzählst, was ich in dem vorliegenden Fall bieten wollte, zeig mir lieber, was du dir hast nehmen können.
Fritz Mierau, Nachwort
Meine Mutter, Marina Iwanowna Zwetajewa, war klein – einen Meter dreiundsechzig, sie hatte die Figur eines ägyptischen Knaben – breite Schultern, schmale Hüften, schlanke Taille. Die jugendliche Rundlichkeit wich bald und für immer ins rassig Hagere; sehnig und schmal Fuß- und Handgelenk, ihr Gang beschwingt und rasch, ihre Gesten leicht und ungestüm – ohne Heftigkeit.
Gezügelt und beherrscht unter Leuten, wenn sie fühlte, daß sie gesehen oder gar beobachtet wurde. Dann wurden ihre Gesten behutsam karg, aber befangen war sie nie.
Die strenge aufrechte Haltung: auch über den Schreibtisch gebeugt, behielt sie das „stählerne Rückgrat“…
Ihre Stimme war mädchenhaft hoch, hell, kräftig.
Sie sprach kurz, ihre Antworten waren Formeln.
Sie konnte zuhören; nie bedrängte sie ihren Gesprächspartner, aber im Streit war sie gefährlich: auf Disputen, Diskussionen und Erörterungen warf sie, ohne die Grenzen eisiger Höflichkeit zu verlassen, ihren Opponenten mit einem blitzschnellen Ausfall zu Boden.
Sie konnte glänzend erzählen…
Ariadna Efron: Wie sie war
vereint Gedichte der Jahre 1916–1939 und autobiographische Prosa von 1933/34. – Ein existentieller und poetologischer Diskurs zugleich, geführt mit ungestümer Leidenschaft, mit äußerster Subjektivität der Lebenssicht und -empfindung.
Reclam Verlag Leipzig, Klappentext, 1994
Von dieser Dichterin weiß man sicher, wo sie wohnt, weil sie ja seit 1941 schon tot ist. Im Efeuturm des Poetischen sitzt sie, hoch über Moskau, manchmal bekommt sie Besuch von den Genossen, manchmal fährt sie hinaus auf den See Melancholie, aber immer hat sie ihren Revolver dabei, falls Feinde auftauchen. Dann zielt sie auf deren Seelen, mitten ins Schwarze. Nachher rudert sie heim, zu ihrem Verehrer Paul Celan. Sie selber liebt viele, mal Puschkin, mal Goethe, mal Majakowskij. Eine wie sie lernt man nie ganz aus.
Insgesamt siebzehn Jahre ihres allzu kurzen Lebens hat die russische Dichterin Marina Zwetajewa – geboren 1892 in Moskau, gestorben 1941 in Jelabuga – unfreiwillig im Exil verbracht. Revolution und Kriegskommunismus zwangen die Tochter aus grossbürgerlichem Haus zur Flucht, spurten ihren nomadischen, äusserst entbehrungsreichen Lebensweg ein, der über Berlin, Prag und Paris wieder zurück in die Sowjetunion führte, wo sie sich – nach Tatarstan abgeschoben, als Rückwanderin von den stalinistischen Behörden beargwöhnt und vom Literaturbetrieb faktisch ausgeschlossen – den Tod gab. In einem ihrer späten Briefe umschrieb und erklärte sie ihre damalige Situation wie folgt:
Mit den ständigen Ortswechseln habe ich mein Realitätsgefühl allmählich verloren: Mich gibt es immer weniger … Es bleibt bloss mein grundsätzliches Nein.
Dass Marina Zwetajewa ungeachtet ihrer erratischen Vita, ungeachtet auch der Tatsache, dass sie als alleinerziehende Mutter dreier Kinder (von denen eines während des Bürgerkriegs an Unterernährung starb) extrem belastet und stets auf die Armutsgrenze fixiert war, ein umfangreiches literarisches Werk von fast durchweg höchstem Rang geschaffen hat, ist staunenswert genug; noch erstaunlicher – dass von ihr überdies Hunderte von Briefen sowie rund zwei Dutzend Arbeits- und Notizhefte erhalten geblieben sind, die zweifellos – neben Rainer Maria Rilkes Korrespondenzen, Paul Valérys Heften, Franz Kafkas Tagebüchern oder E.M. Ciorans Aufzeichnungen – zu den grossen Zeit- und Lebenszeugnissen des vergangenen Jahrhunderts gehören.
Vier Bände, gut 2.000 Druckseiten insgesamt, sind unter dem schlichten Titel Unveröffentlichtes zwischen 1997 und 2001 aus Marina Zwetajewas weit verstreutem Nachlass publiziert worden, zuletzt – in zwei Bänden – fünfzehn ihrer Notizhefte aus den Jahren 1913 bis 1939, die, sieht man von einigen Zeitlücken ab, als ein durchlaufendes Tagebuch zu lesen sind.
Die Integralität der doch recht disparaten Texte – es finden sich darunter Wahrnehmungs- und Traumnotizen, Briefentwürfe und Werkkonzepte, Mikroessays und Gedichte, Aphorismen und Exzerpte – ergibt sich nicht aus dem chronologischen oder thematischen Zusammenhang, sondern einzig aus der permanenten machtvollen Präsenz der Autorin, die sich zugleich als schreibendes und handelndes Ich sowie als „Heldin“ in vielerlei Gestalt zu erkennen gibt, um ganz allein und nur für sich selbst ein Stück Welttheater – eine Tragödie, versteht sich – vorzuführen. Die eingestandne Subjektivität der Inszenierung soll deren objektive Gültigkeit beglaubigen. Deshalb fehlen in den vorliegenden Aufzeichnungen zeitgeschichtliche Realien und Personen weitgehend, während das Privatissimum der Autorin – von den Niederungen der Windelwäsche bis zu den Orgasmen dichterischer Kreativität – minutiös dokumentiert wird.
Die grosse Welt der Zwetajewa ist eine Gegenwelt zur schlechten Alltäglichkeit hienieden, gleichwohl ist es keine bloss gute oder gar ideale Welt, es ist ein eigenwilliges riskantes Konstrukt, das eignen Bau- und Funktionsgesetzen folgt und das im Akt seiner Entstehung – durch kühne Vergleiche, Metaphernbildungen, Assoziationen, rhetorische Figuren – auch eine eigne Dynamik gewinnt. Die Schreibhefte bilden gewissermassen die Bühne, von der herunter die Autorin (wohlverstanden: ohne Publikum) ihr trotziges Nein an all jene adressiert, die anders sind als sie, mithin an die Mehrheit der Normalverbraucher, von denen der Gang der Dinge auf Erden, wohl oder übel, bestimmt wird und die sie in dem desolaten Gefühl bestärken, niemandes Zeitgenossin zu sein.
Die tragische Intonation, von der die meisten Werke Marina Zwetajewas und grade auch ihre Tagebücher getragen sind, ist ebenso wie ihre fundamentale Einsamkeit und ihr lange intendierter Suizid letztlich darauf zurückzuführen, dass sie – unfähig, sich der bestehenden Welt anzupassen – die Welt sich selber anpassen, ja unterwerfen wollte. Womöglich erklärt sich daraus auch ihre befremdliche, bisweilen pathetisch überhöhte Vergötterung starker, „weltbewegender“ Männer wie Goethe (als Genie), Casanova (als Beherrscher der Frauenwelt) oder Napoleon (als Staatsmann und Eroberer).
Die Zwetajewa sieht sich als „dezidierte Frondeuse“, vereinigt in sich „spartanisches“ mit „mystischem“ Lebensgefühl, empfindet sich als ein Nichts und kann deshalb Alles werden – der grosse Generator solchen Werdens ist die Liebe. In ihren Aufzeichnungen ist die Liebe, in all ihren Spielarten, mit ihren unvergleichlichen Höhepunkten und in ihrem unvermeidlichen Scheitern, das dominante Thema. Da die Autorin nirgendwo in der Welt sich zu verorten vermochte, sollte ihr Ort die Liebe sein, und sie selbst wollte diesen Ort – auch er eine Art Bühne – in immer wieder andern Rollen bespielen.
Der Ort der Frau ist die Liebe.
Die Liebesaura des Mannes entsteht aus der Liebe der Frau, die Aura der Frau – aus der Liebe zu sich selbst.
Ist es nicht gleichgültig, mit wem man auf Erden schläft, da man doch unter der Erde ohnehin mit jedem schlafen wird, der zufällig da ist.
In der Liebe hat der recht, der mehr Schuld trägt.
Die physische Liebe ist vor allem ein Seelenzustand.
Der Leib ist in der Liebe nicht das Ziel, sondern das Mittel.
Körperliches Zutrauen – das steht bei mir für «Leiden schaft».
Auf den Bereich des Geschlechts übertrage ich ganz unter schiedliche Dinge: Höflichkeit – Beleidigung – délicatesse de cœur.
Zwei Leidenschaften: das Bett (Träume haben) und der Schreibtisch (sie aufschreiben) – oder: der Schreibtisch (Träume haben) und das Bett (sie verwirklichen, im Schlaf ).
Ein Mann, der mich nicht liebt, ist mir ein Rätsel.
Manche meiner Geliebten kenne ich wohl gar nicht.
Ich könnte herrliche – ewige! – Verse schreiben, liebte ich das Ewige ebenso wie das Vergängliche.
Wenn ich an meinen Tod denke, bin ich zutiefst verwirrt: wohin dann mit all meiner Liebe?
Als Liebesgöttin konnte die Zwetajewa, wenn sie sich im Spiegel zu sehn bekam, nicht taugen: ihre Schultern waren zu breit, ihre Hände zu schwer, ihr Haar vorzeitig ergraut, ihre Augen stets gerötet und verklebt. Dennoch ist ihr in Liebesdingen nichts fremd geblieben – von der Mutterliebe über die jäh aufglühende Gelegenheitsliebe bis zur Vaterlands- und Gottesliebe, von der ehelichen bis zur lesbischen Liebe hat sie alles, wenn auch nicht alles mit gleicher Intensität erprobt, ganz abgesehn davon, dass sie sich, darüber hinaus, leicht und gern mit mythologischen oder historischen Frauengestalten identifizierte, um so die Liebe einer Diana, einer Carmen, einer Bettina von Arnim, einer Sarah Bernhardt, selbst eines Hl. Johannes (der „vielleicht eine Frau“ war!) noch einmal in sich zu versammeln.
Ihre eigne Androgynie hielt Marina Zwetajewa für die ideale Ausformung des sexuellen Leibs, ihre bevorzugten Partner waren transsexuelle „Mädchen“, das heisst knabenhafte Frauen (Typ „Jeanne d’Arc“) oder weiblich veranlagte Männer (Typ „Chopin“), doch auch von souveränen, vorzugsweise adeligen Damen und soldatisch auftretenden Herren liess sie sich immer wieder faszinieren. Keine ihrer realen Liebesbeziehungen – ausgenommen ihre Ehe, die freilich nur punktuell gelebt wurde und nicht mehr als eine zweitbeste Liebe war – blieb von Dauer, die meisten endeten dramatisch, manche (etwa jene mit Pasternak, mit Rilke) gelangten nicht über den Verbalverkehr hinaus.
Die grosse, die grösste Liebe kann und darf für die Zwetajewa, die sich selbst als „Seelenkurtisane“ bezeichnet hat, nicht konsumierbar sein, nie ist Liebe „jetzt“, und wenn das Glück, also ihr Vollzug im Präsens droht, muss sie abgewiesen werden. Gross kann nur die Erwartung, nicht die Erfüllung der Liebe sein:
Zwei Hilfsverben machen meine Devise aus – Sein ist besser als Haben.
Frage:
Ist das meine Kälte, ist das mein „ich brauche keinen“? – Nein, ich leide ja selber darunter, wie ich die Liebe liebe. – Sie will nicht gelingen!.. Ich kann immer nur das Einzelne lieben: Stimmen, Hände, Worte, Lächeln, Gesten … und im Ergebnis: Einsamkeit, Ausgebranntsein, Leere.
Mit Marina Zwetajewas Unvermögen (oder war es ihr Unwille?), sich zu Lebzeiten als Liebende und als Dichterin durchzusetzen, kontrastiert ihre stolze Gewissheit, dass jedenfalls die Zukunft ihr gehören, dass ein kommendes Jahrhundert sie als Zeitgenossin erkennen würde:
Meine lieben Urenkel, Liebhaber und Leser in 100 Jahren! Mit euch rede ich wie mit lebendigen Menschen, denn ihr werdet sein!..
Und:
Ich hab’s verdient, dass man mich liebt.
Der hochgemute Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Die Zwetajewa ist da.
Felix Philipp Ingold aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe, Urs Engeler Editor, 2009
Während der Februarrevolution von 1917 war Marina in Moskau. Sie erwartete ihr zweites Kind, und der plötzliche und totale Zusammenbruch des Regimes versetzte sie in Aufregung, ohne daß ihr allzu klar war, was da vorging. Sie stand mit ihrer Verwirrung nicht allein, obgleich es nicht gerade für ihren politischen Scharfblick spricht, daß sie, wenn auch nur kurz, Kerenski mit Bonaparte verwechselte. In Gedichten, geschrieben im April 1917, die sich mit der Abdankung des Zaren befassen, richtet sich ihr Vorwurf gegen den Zaren, der aufgefordert wird, sich seiner Pflicht gegen seine Nachkommen zu erinnern. In den Augen jener, denen zu begegnen ihr einst geschmeichelt hatte, begann Marina etwas Heimtückisches und Kriecherisches zu entdecken. Gleichwohl ließ sie die Verzweiflung der Leute, welche die Bolschewiki unterstützten, unberührt, weil sie unter den Rebellen keine einzigartige heldenhafte Gestalt ausmachen konnte. (Keinen Mann wie Stenka Rasin, den sagenhaften Banditen, den sie immer bewundert hatte.) Statt dessen nur Pöbel, „von der Farbe der Asche und des Sandes“. Sie war beileibe nicht die einzige Schriftstellerin, die der revolutionäre Prozeß nicht berührte – Mandelstam, zum Beispiel, sah keine Veranlassung, die Datscha seiner Freunde auf der Krim zu verlassen, und während der Jahre der Umwälzung meditierte er weiterhin über die Mythen seines geliebten Mittelmeers. Im Juli 1917 hatte er eine ebenso heftige Abneigung gegen die Bolschewiki wie Marina, und im Oktober veröffentlichte er ein Gedicht, in dem er Lenin einen Parvenü nannte. Marina, die im April 1917 einer zweiten Tochter, Irina, das Leben schenkte, hatte allen Grund auf eine Wiederherstellung der bürgerlichen Ordnung zu hoffen und verspürte keinerlei Neigung, „das große, schwerfällige ächzende Herumwerfen des Ruders“1 zu begrüßen, wie Mandelstam es ab 1918 zu tun begann. Entscheidend für ihre Haltung war, daß Serjoscha sich auf die Seite der Weißen geschlagen hatte; es war ein Engagement, das er, wie so oft, mit dem Wunsch eingegangen war, Marina zu beeindrucken. Welche anderen radikalen Ansichten Marina auch immer gehegt haben mag, in der Person des Zaren sah sie immer noch Gott und Staat vereinigt. Später verlieh ihr Haß auf „jegliche organisierte Gewalt, gleich, in wessen Namen sie begangen wird oder wie sie sich auch nennen mag“, einigen Gedichten aus dem Lager der Schwäne moralische Kraft, während das Buch im übrigen einer sehr fragwürdigen Gruppe von Gegnern des Bolschewismus Größe zusprach. Zumindest ein Gedicht verrät einen unbeirrbaren Humanismus:
Zur Rechten, zur Linken
Nur blutige Schlünde.
Die Wunden, sie wimmern:
– Mama!
Und nur dieses eine
Vernehme ich trunken.
Ihr Ruf wird der meine:
– Mama!
Sie liegen im Sande.
Nichts, was sie scheidet.
Ich sehe: Soldaten.
Sinds Fremde, sinds meine?
Der weiß war, wurde rot:
Blut hat ihn gestreift.
Der rot war, wurde weiß:
Tod hat ihn gebleicht.2
Doch sie hatte sicherlich recht, wenn sie von den Tagebüchern, die sie während des Bürgerkrieges führte, behauptete:
Es findet sich darin keine Politik.3
Das Chaos der Tage, die auf den Ausbruch des Bürgerkrieges folgten, brachte alle Pläne durcheinander; und Marina sah sich gezwungen, Rußland viermal zu durchqueren. Im Oktober 1917 war sie bei Max und Pra in Koktebel, und in ihre Erinnerungen an Woloschin hat sie Tagebuchnotizen aus jenen Tagen aufgenommen. In Max’ Datscha erfuhr sie von zwei Offizieren, die an den letzten Kämpfen teilgenommen hatten, vom Sieg der Bolschewiken in Moskau.
Auf ihrer langen Rückreise nach Moskau am 2. November zwängte sich Marina in den Gang eines überfüllten Zuges, ohne zu wissen, welchen Nachrichten man glauben sollte. Zeitungsblätter aus rosa Papier, die von Hand zu Hand gingen, berichteten von der Zerstörung der Twerskaja, des Arbat4 und des „Metropol“-Hotels; die Straßen, hieß es, seien mit Leichen übersät. Schlimmer noch war, daß sie nicht wußte, ob ihr eigenes Haus unversehrt oder ob Serjoscha in Sicherheit war. In diesem Augenblick waren alle ihre Gedanken bei ihrem Mann. In dem Tagebuch, das sie während der dreitägigen Reise hinkritzelte, gelobte sie:
Wenn Gott dieses Wunder vollbringt – und dich am Leben läßt, werde ich dir folgen wie ein Hund.
Und an anderer Stelle:
Kein einziges Mal an die Kinder gedacht. Wenn Serjoscha nicht mehr ist, bin ich auch nicht mehr, also auch sie nicht. Alja wird ohne mich nicht leben, nicht wollen, nicht können. Wie ich nicht ohne Serjoscha.
Niemand sollte, angesichts der anderen Liebschaften Marinas, diese Gefühle als unecht abtun. An jedem Wendepunkt ihres Lebens sollte sich die emotionale Bindung an ihren Mann als entscheidend und verhängnisvoll erweisen.
Um Moskau betreten zu können, war ein Passierschein erforderlich, und Marina kam dort kurz vor der Morgendämmerung an. Die Stadt war dunkel und noch immer war Geschützdonner zu hören, doch selbst zu dieser frühen Zeit, morgens um halb sechs, konnte man mit einer Droschke durch die fast menschenleeren Straßen fahren. In ihrer Vorstellung war Serjoscha in diesem Augenblick unter den letzten Weißen, die Widerstand leisteten, und sie fürchtete, anzukommen und die Nachricht von seinem Tod zu erhalten.
An der Boris-und-Gleb-Kirche und am Eingang zur Seitengasse, in der sie wohnte, wurde sie von der Hauswache angehalten, die ihr nicht erlauben wollte, ihr Haus zu betreten. Erst als sich das Bauernmädchen Dunja (das für Marina arbeitete) einmischte, wurde ihr gestattet, ihre Kinder zu sehen.
Schließlich stellte sich heraus, daß ihre Sorgen wegen Serjoscha übertrieben gewesen waren – er lag tatsächlich unversehrt im Bett – aber sie drängte dennoch darauf, daß man Moskau auf der Stelle verließ. Noch am selben Tag machten sie sich in Richtung Krim auf den Weg; die Kinder ließen sie in Moskau bei Serjoschas Familie, um sie später nachkommen zu lassen. Es war Serjoschas Absicht, sich der Weißen Armee anzuschließen, die sich im Süden neu formierte, wozu ihn Marina nachdrücklich ermutigte.
In Marinas Notizen aus dieser Zeit heißt es:
Moskau, 4. November 1917. Am Abend desselben Tages reisen wir ab auf die Krim: S., sein Freund Golzew und ich. G. gelingt es, sich im Kreml seine Offizierslöhnung auszahlen zu lassen (200 Rubel). Diese Geste der Bolschewiken sollte nicht vergessen werden.
Ankunft in Koktebel bei irrsinnigem Schneesturm. Das Meer ist grau. Die riesige, fast physisch brennende Freude von Max W. beim Anblick des lebenden Serjoscha. Riesige weiße Brote.
Das Bild von Max W. auf dem kleinen Podest im Turm, wie er, Taine auf den Knien, Zwiebeln brät. Und während die Zwiebeln braten, liest er Serjoscha und mir die Geschicke Rußlands von morgen und übermorgen vor.
„Und jetzt, Serjoscha, kommt das und das… Merk es dir.“ Und einschmeichelnd, fast freudig, wie ein guter Zauberer den Kindern, Bild für Bild – die ganze russische Revolution auf fünf Jahre voraus: Terror, Bürgerkrieg, Erschießungen, Straßensperren, Vendée. Verrohung, Gesichtsverlust, die entfesselten Geister der Natur, Blut, Blut, Blut…5
In dem Chaos, das Rußland zu überfluten begonnen hatte, machte sich Marina tapfer noch einmal auf den Weg, um ihre Kinder zu holen. Marina und Serjoscha hatten die Situation abenteuerlich falsch eingeschätzt, als sie die Kinder zurückließen. Sie hatte noch Glück, daß sie Moskau erreichte, denn die Stadt war inzwischen von der Roten Armee abgeriegelt; aber die Stadt wieder zu verlassen, war gänzlich unmöglich. Marina und Serjoscha waren getrennt. Und sie ahnten nicht, daß die Trennung fünf Jahre dauern sollte.
Es sollten Jahre des Terrors und der Entbehrungen werden, denen Marina anfangs mit temperamentvoller Heiterkeit entgegentrat. Serjoscha blieb die einzige Person auf der Welt, der ihre meiste Sorge galt. Es war eine familiäre, häusliche Treue, die Liebesabenteuer nicht ausschloß, obgleich diese in der Regel eher prickelnde Anregung denn sexueller Natur waren.
Die Beziehungen, die Marina während dieser Zeit zu Männern unterhielt, dienten in der Hauptsache dazu, ihre Phantasie am Leben zu erhalten. Marina brauchte Liebe, um zu fühlen, daß sie lebte. Es war nicht wichtig, daß die Personen, die sie liebte, ihr Gefühl teilten; wichtig war nur, daß sie ihre Liebe weitergeben konnte.
Pawel Antokolski (oder „Pawlik“, wie Marina ihn nannte) war ein junger Dichter, dessen Verse Marina zum ersten Mal 1917, als sie allein nach Moskau zurückreiste, im Zug von einem Kadetten rezitieren hörte. Sie war so sehr beeindruckt, daß sie den Dichter aufsuchte und ihn zu einem Besuch in ihre Wohnung einlud. Dort in ihrer Küche, umgeben von Töpfen und Pfannen, wurden sie Freunde. Sie waren beide jung. Marina, damals fünfundzwanzig Jahre alt, hielt Pawel für siebzehn, für so alt wie Serjoscha gewesen war, als sie ihm begegnete; tatsächlich war er einundzwanzig, doch zumindest bei dieser ersten Begegnung kam er ihr wie ein Schuljunge vor. Er trug sogar noch seine korrekt zugeknöpfte Schuluniform, und in dieser Kleidung stellte er für sie einen kleinen Puschkin mit schwarzen Augen dar – den Puschkin ihrer Jugend. Es war eine Begegnung, von der Marina schrieb:
Sie war wie ein Erdbeben. So, wie ich verstand, wer er war, verstand auch er, wer ich war.6
Ob Antokolski Marinas Liebhaber oder Freund war oder nicht, er blieb jedenfalls „tagelang, morgendelang, nächtelang…7 Das Zusammentreffen war auch insofern bedeutsam, weil Pawel ihr Zugang zum innersten Kreis der Gruppe junger Leute verschaffte, die dem berühmten Wachtangow-Studio angehörten, der experimentellen Bühne des Moskauer Künstlertheaters – eine Gruppe, mit der Marina vorher nur am Rande in Berührung gekommen war.
Marina liebte sie alle; nicht nur wegen ihrer Schönheit und Lebensfreude, sondern auch wegen des Gefühls, das sie alle miteinander teilten – an einem gemeinsamen Abenteuer teilzunehmen, dem Spiel. Die Vorstellung vom „Spiel“ als Vergnügung unter Erwachsenen hatte für sie etwas Faszinierendes. Das Theater kam ihr wie ein konzessioniertes Märchen vor, und in diesem Gefühl verliebte sie sich der Reihe nach in alle, die darin mitwirkten. Viele Künstler unterhielten untereinander Liebesbeziehungen, und Antokolski selbst hatte ein besonders leidenschaftliches homosexuelles Verhältnis. Im Winter 1918/19 lernte Marina einen jungen Schauspieler vom Wachtangow-Studio kennen, den sie (in ihren Erinnerungen) Wolodja nannte. Ihr Verhältnis war ungewöhnlich förmlich – zum Beispiel sprach Wolodja seine Freundin nie anders als mit ihrem Familiennamen an. Anders als bei Marinas sonstigen Beziehungen, war es auch nicht die Dichtung, die sie verband: Weder las sie ihm je Gedichte vor noch sprach sie mit ihm darüber. Doch sie gelangte rasch zu der Gewißheit, daß Wolodja ihr unentbehrlich war. Dieses Gefühl der Abhängigkeit war nicht überraschend, denn trotz des geschäftigen Treibens der Theaterleute fühlte sich Marina oft bitter einsam. Die Politik spielte dabei eine gewisse Rolle: Sie konnte nicht anders als jene zu verachten, die die Weißen unterstützten, obwohl sie selbst nie aufgehört hatte, für deren Sache einzutreten; und sie weigerte sich, mit Anhängern der Roten Freundschaft zu schließen. Serjoscha setzte sein Leben aufs Spiel, ihrem Siegeszug Einhalt zu gebieten, und nach ihrem Gefühl konnte es „zwischen Siegern und Besiegten keine Freundschaft geben.“8
Entscheidend für ihre Beziehung waren Wolodjas erste Worte:
Sie erinnern mich an George Sand: Sie hatte auch Kinder – und sie hat auch geschrieben – und sie hatte auch so ein schweres Leben auf Mallorca.9
Durch das Bild, das er von ihr hatte, gerührt, lud ihn Marina für den folgenden Morgen in ihre Wohnung ein; nach dem Frühstück durchstreiften sie die Straßen. Danach besuchte Wolodja sie vielleicht zweimal in der Woche nach der Vorstellung (das heißt also, nach Mitternacht), doch ihre Beziehung blieb keusch: Sie saßen immer nur auf dem Sofa und unterhielten sich. Das war vielleicht nicht allein Marinas Entscheidung.
Es liegt etwas Erotisches in der Beschreibung ihres Vergnügens, das sie bei seinem Anblick empfand:
… wie ein auf eine Spitze gestelltes Dreieck. Die Schultern haben alles, die Hüften – nichts.
Sie mochte seine dunklen Augen und seine gerade Nase, „das ganze Gesicht gerade, dieselbe Geradheit wie in der Figur“.10
Wolodjas Freundschaft half, die Furcht zu zerstreuen, daß sich niemand mehr darum sorgte, wie es ihr erging (sogar ihre Schwester war weit fort auf der Krim). Am Karsamstag 1919 fühlten sich Marina und ihre Tochter Alja in ihrer Wohnung so einsam, daß Marina sagte:
Alja! Wenn die Menschen von den Menschen so im Stich gelassen werden, wie wir beide, hat es keinen Zweck, Gott zu belästigen – wie Bettler. Von denen gibt es bei ihm auch ohne uns genug. Wir legen uns beide schlafen – wie zwei Hunde.11
Sie legten sich beide in das Bett in der Küche, in dem früher das Hausmädchen geschlafen hatte. Alja schlief, angekleidet wie sie war, rasch ein. Auch Marina war noch in Kleidern, doch ihr fiel das Einschlafen schwerer. Der Jammer verzehrte sie, daß sie zum ersten Mal in ihrem Leben das Osterfest verbringen sollte, ohne die Worte „Christus ist auferstanden“ zu hören. Es war Wolodjas kurzes, scharfes Klopfen, das sie aus ihrer Einsamkeit erlöste. Er war gekommen, um sie beide zur Mitternachtsmesse abzuholen. Alja glaubte, sein überraschendes Erscheinen komme einem Wunder gleich.
Da Gott nicht selber zu uns kommen konnte – oder vielleicht fürchtete er, uns zu erschrecken –, da hat er Wolodja zu uns geschickt.12
In dieser Nacht beschloß Wolodja, Moskau zu verlassen und sich der Weißen Armee anzuschließen. Als er später kam, um sich zu verabschieden, zog er einen Siegelring vom Finger und schenkte ihn Marina, die durch dieses Geschenk besonders gerührt war, weil sie in der Regel diejenige war, die Geschenke machte. Daß sie jetzt ein Geschenk von ihm erhielt gab ihrer Freundschaft etwas Besonderes.
In anderer Hinsicht folgte ihre Beziehung einem Muster, das sich oft wiederholen sollte. Wolodja bemerkte, daß sie ihm Eigenschaften zusprach, die sie erfunden hatte. Als er an jenem Nachmittag zum letzten Mal kam, schien es Marina, als sehe sie ihn zum ersten Mal bei Tageslicht; sie war erstaunt, als sie feststellte, daß sein Haar nicht (wie sie gedacht hatte) schwarz, sondern hellblond war. Wolodja war über ihren Irrtum amüsiert und sagte:
Marina Iwanowna, ich fürchte… daß Sie auch alles übrige an mir auf Ihre Weise gesehen haben. Meine ganze Person und nicht nur das Haar.
Und er schüttelte verächtlich seine Haare. „Habe ich mir etwa ein schlechtes Bild gemacht?“ fragte sie.
Nein, Marina Iwanowna, ein gutes, ein zu gutes sogar. Deshalb fürchte ich auch mit Ihnen immer das Tageslicht. Morgen würde sich vielleicht herausstellen, daß ich langweilig bin. Vielleicht ist es gut, daß ich wegfahre?13
Beim Abschied küßte Wolodja ihre Stirn und ihre Lippen beinahe feierlich, und Marina schlug dreimal das Kreuz über ihn. Er schenkte ihr ein Buch über Johanna von Orleans, in das er als Widmung geschrieben hatte:
Sie und ich lieben – eines.
*
Trotz ihrer Zuneigung zu Wolodja galt Marinas heftigste Liebe in den Jahren des Bürgerkrieges abermals einer Frau. Ihre Leidenschaft war viel weniger sinnlich als die zu Sophia Parnok und glich eher den Schwärmereien ihrer Kinderzeit, besonders ihrer Verehrung Assja Turgenjewas. Damals hatten diese Beziehungen immer etwas Sehnsüchtiges gehabt: Anstatt die Schönheit anderer zu preisen, wäre sie lieber selbst als eine Schönheit geliebt worden. Doch in ihrer Beziehung zu Sonja Holliday wurden ihre Gefühle eindeutig erwidert.
Zwar war Marina oft einsam, doch auch weiterhin fanden Freunde vom Theater den Weg in ihre alte, anderthalbgeschössige Wohnung mit ihrer merkwürdigen Innentreppe. Im Winter mußten Marina, Alja und das Baby unten im wärmsten und dunkelsten Zimmer wohnen. Im Sommer zogen sie in eine lange, schmale Kammer auf den Dachboden mit einem einzigen Fenster. Dieses Zimmer war Marina am teuersten, weil Serjoscha es einst für sich bestimmt hatte. Jetzt war es von neuen Stimmen erfüllt: Diskussion, Unterhaltung, Probe und Rezitation.
Pawel Antokolski blieb ein regelmäßiger Besucher, und eines Abends im Jahr 1919 brachte er einen Freund mit, der der Geliebte eines Mädchens namens Sonja Holliday war, und so trat Sonetschka in Marinas Leben. In einem ihrer Briefe an Anna Tesková, die später in Prag ihre Freundin werden sollte, schrieb sie, Sonetschka sei die Frau, „die ich mehr als jeden anderen in der Welt liebte. Einfach weil sie die Liebe in weiblicher Gestalt war.“ Sie trug schwarze Zöpfe, hatte riesige schwarze Augen und leuchtend rote Wangen. Marina schrieb über sie:
Vor mir ein lebendes Feuer. Alles an ihr brennt. Brennende Wangen, brennende Lippen, brennende Augen, unversehrt die brennenden weißen Zähne im Scheiterhaufen des Mundes. Die Zöpfe brennen, als ob sie sich aus den Flammen winden! – zwei schwarze Zöpfe, der eine auf dem Rücken, der andere auf der Brust, als hätte es ihn vom Scheiterhaufen weggeschleudert. Und der Blick aus diesem Feuer – solches Entzücken, solche Verzweiflung, solches: ich fürchte mich! solches: ich liebe!14
Nach ihrer ersten Begegnung trennten sich Sonetschka und Marina mit nicht mehr als einem Blick – einem fragenden, zweifelnden, zögernden Blick – doch bald danach fragte Sonetschka telephonisch an, ob sie Marina irgendwann besuchen dürfe – ohne Pawel. Marina stimmte zu und fragte lediglich: „Wann?“ Offenbar kam Sonetschka noch am gleichen Tag.
Während einer Lesung von Marinas Versdrama Schneesturm vor dem Ensemble des Studios wurde sich Sonetschka klar, wie stark sie sich zu Marina hingezogen fühlte. Allein auf der Bühne, las Marina ihr Stück, als wäre es eines ihrer Gedichte. Die Bühne war hell, der Saal dunkel, und dann folgte die stürmische Begeisterung des schönen Mädchens, das zu ihr kam, um ihr zu sagen, wie aufgewühlt es gewesen sei. Fast zwanzig Jahre später konnte sich Marina immer noch genau an die Worte erinnern, mit der Sonetschka ihrer überschäumenden Begeisterung Ausdruck gegeben hatte:
O Marina! Ich bin damals so erschrocken! Dann habe ich fürchterlich geweint… Als ich Sie sah und hörte, war ich sofort wahnsinnig in Sie verliebt. Ich habe begriffen, daß man sich wahnsinnig in Sie verlieben muß…15
Eine Liebe kann leidenschaftlich sein, ohne sich auch sinnlich zu erfüllen, und selbst in der Übertriebenheit von Sonetschkas Worten liegt etwas Unschuldiges.
Ihr Leben lang suchte Marina bei den Männern, die sie liebte, eine so ausschließliche Liebe. Ungeachtet ihrer Schönheit und Begabung, liebte Marina mit einer Leidenschaft, die so heftig und verzehrend war, daß ihre Partner sie kaum erwidern oder ertragen konnten. Einzig Sonetschka schenkte ihr freiwillig eine Liebe von derselben ekstatischen Unbedingtheit. Marina kam es wie ein Wunder vor. Daß Sonetschka den Schneesturm so sehr liebte, war nur ein Teil der umfassenden Liebe, die sie für Marina empfand. Mit Sonetschkas Worten:
Marina, werden Sie mich immer lieben? Marina, Sie werden mich immer lieben, denn ich werde bald sterben, ich weiß überhaupt nicht, woran, ich liebe das Leben so sehr, aber ich weiß, daß ich bald sterben werde, und deshalb, deshalb liebe ich alles so wahnsinnig, so hoffnungslos.16
Ihre Art, sich auszudrücken, wie auch ihre ganze Persönlichkeit hatten etwas Kindliches. Marina sagte, Sonetschka könne keine ihrer erwachsenen Heldinnen spielen:
Ich mußte Stücke mit kleinen Personen schreiben.17
Die Rosa Fortuna in Abenteuer und die Francesca in Casanovas Ende waren Rollen, die sie für Sonetschka schrieb.
Ob kindlich oder nicht, Marina fand vieles, was Sonetschka sagte, einprägsam – zum Beispiel, als sie einmal in Worte faßte, wie sehr sie etwas getroffen hatte:
Meine Tränen waren so groß, größer als meine Augen!
Marina, fasziniert von der Poesie des Ausdrucks, drohte ihn zu stehlen. Sonetschka, die bereit war, alles zu opfern, stimmte eifrig zu:
Oh, nehmen Sie es, Marina! Nehmen Sie alles, was Sie wollen! Nehmen Sie für Ihre Gedichte alles, was Sie wollen, nehmen Sie mich ganz!18
Dieses Angebot ist nur im übertragenen Sinn zu verstehen, denn (wie Marina) liebte Sonetschka auch Männer und fühlte sich (anders als Marina) angesichts der Zahl derer, die sie geküßt hatte, ein wenig schuldig. In einem anrührenden Dialog heißt es:
„Marina, glauben Sie, Gott verzeiht mir, daß ich so viel geküßt habe?“
„Glauben Sie denn, Gott hat mitgezählt?“
„Ich habe auch nicht mitgezählt.“19
Gegenseitige Treue hatten sie sich trotz alledem nicht geschworen. Was Sonetschka nicht daran hinderte, verdrießlich und ein wenig eifersüchtig zu sein, wenn sie jemand anderen bei Marina vorfand. Marina fragte ironisch zurück, ob Sonetschka etwa ihre übrige Zeit allein verbringe. Diese erwiderte:
Ich? Ich bin ein ganz hoffnungsloser Fall, ich sitze mit allen herum, ich fürchte den Tod so sehr, daß ich, wenn niemand da ist und es wahrscheinlich ist, daß niemand kommt –, es gibt solche entsetzlichen Stunden! – sogar soweit gehe, zu meiner Katze aufs Dach zu kriechen – nur, um nicht alleine zu sein: um nicht alleine zu sterben…20
Auf Wolodja war Sonetschka besonders eifersüchtig, und bevor er zur Weißen Armee ging, bildeten sie in Marinas Wohnung ein seltsames Trio. Sonetschka und Wolodja zogen es vor, getrennt und zu verschiedenen Zeiten zu kommen, obwohl auch zwischen ihnen eine enge Bindung bestand. Wenn die drei trotzdem in Marinas Wohnung zusammen kamen, saß Wolodja links und Marina rechts von Sonetschka, als sei diese das Kind und Marina und Wolodja die Erwachsenen, die es beschützen mußten.
Im gleichen Jahr, in dem sie Sonetschka fand, verlor Marina sie auch wieder aus den Augen. Es gab keinen Abschied. Marina erfuhr von jemand anderem, daß Sonetschka am Tag zuvor abgereist war, und man wunderte sich, warum Sonetschka nicht gekommen war, um Marina Lebewohl zu sagen. Niemand wußte genau, wohin sie gefahren war.
Bei dieser Nachricht kam Marina ihr Zimmer plötzlich alt vor; die Wände und der Fußboden wurden farblos, und alles war mit einem Mal öde und grau. Sie empfand Sonetschkas überraschende Abreise weder als Beleidigung noch als Verrat. Sie erkannte, daß Wolodja kam, weil er sie nicht verlassen konnte, ohne Lebewohl zu sagen. Sonetschka war nicht gekommen, weil sie nicht Lebewohl sagen konnte.
Als Marina viele Jahre später über diesen Verlust nachdachte, schrieb sie:
Sie war mir unentbehrlich wie Zucker. Wir alle wissen, daß Zucker nicht unentbehrlich ist, man kann ohne ihn leben, und vier Revolutionsjahre haben wir ohne Zucker gelebt, der eine hat ihn durch Sirup ersetzt, der zweite durch geriebene Rüben, der dritte durch Saccharin, der vierte durch nichts. Er hat den Tee pur getrunken. Davon stirbt man nicht. Aber davon lebt man auch nicht.21
Die Bedingungen, unter denen Marina 1918 und 1919 mit ihren zwei Kindern lebte, wurden täglich schwieriger. Im September 1918 mußte Marina Ausflüge aufs Land machen, um Nahrungsmittel zu beschaffen – das heißt, Schweineschmalz und Hirse – und um die offizielle Reiseerlaubnis zu erhalten, mußte sie vorgeben, sie wolle im Institut der Stiftsdame Tschertowa (heute Sektion für Bildende Künste) die „Bauern-Stickerei erforschen“.
Mit einer unveränderlich wilden Fröhlichkeit machte Marina Notizen über die gefährlichen Fahrten nach Usman im Gouvernement Tambowsk und zurück. Der erste Zug, den sie bestieg, wurde, kaum daß er den Bahnhof verlassen hatte, von Rotarmisten requiriert. Selbst als der zweite Zug gegen Mitternacht Usman erreichte, wußte sie, daß sie nicht sicher war. In dem einzigen Haus an der Station machten es sich die Leute, so gut es ging, bequem. Eine Frau, die einen Sohn in der Roten Armee hatte, schlägt daraus soviel Kapital, wie sie kann; ihre Belohnung sind die Kissen und die Federbetten der Wirtin. Marina verhökert den Kattun, den sie bei sich hat.
Mitten in der Nacht wird sie von heftigem Klopfen, Fußgetrampel, Lachen und Fluchen geweckt. Es ist schwer, im Licht eines Streichholzes etwas auszumachen, doch schließlich stellt sich heraus, daß eine weitere „Requirierungsabteilung“ zur amtlichen Durchsuchung gekommen ist. Hastig kritzelte Marina ihre Eindrücke von der Rohheit dieser Durchsuchung in ihr Tagebuch:
Schreie, Weinen, Goldgeklirre, die beiden Alten mit aufgelöstem Haar, aufgetrennte Federbetten, Bajonette… Sie stöbern überall herum.
„Und sucht auch gründlich hinter den Ikonen! Den Heiligen! Auch die Götter lieben Gold!“
„Aber wir haben nichts … Söhnchen! Vater! Sei ein Vater!“
„Halt den Mund, altes Aas!“
Der Kerzenstummel tanzt. An der Wand – die riesigen Schatten der Rotarmisten.22
Zum Feilschen war Marina nicht gewitzt genug. Obgleich man ihr beigebracht hatte, für eine Rolle Kattun drei Pud (ca. 50 kg) Schmalz zu verlangen, war sie zu furchtsam, mehr als ein halbes Pud zu fordern, und ihr Handel ließ sich übel an. Im übrigen ärgerten sich die Bauern über jeden, der aus Moskau kam, da sie davon überzeugt waren, daß kein Moskowiter etwas von harter Arbeit verstand. Marina notiert, wie sie schließlich für drei Schachteln Streichhölzer eine Holzpuppe und eine Bernsteinkette einhandelte. Zunächst hatten die Bauern sie in Wut versetzt, doch später dämmerte ihr, daß sie mit ihnen mehr gemeinsam hatte als mit einigen ihrer ungehobelten Mitreisenden, die sie übersahen und sie entweder wegen ihrer billigen Strümpfe verachteten oder in ihr aufgrund ihrer kurzen Haare und Ausdrucksweise eine Angehörige der verhaßten Bourgeoisie erkannten.
Trotz der liberalen Einstellung ihrer Mutter gegenüber dem Antisemitismus, hatte Marina die schwierige Situation der Juden in Rußland nie begriffen; und obgleich Serjoscha Halbjude war, teilte sie viele russische Vorurteile gegen die Juden, die sie auf dieser Reise sah. Sie identifizierte einen Kommunisten (mit einem Goldbarren um den Hals) und seine Frau als Juden und behandelte ihre Erinnerungen an ihr altes Schneidergeschäft in St. Petersburg als grotesk wichtigtuerisch. Doch der Dialog, den sie aufzeichnet, ist nicht ohne Mitleid:
Ach, eine Wohnung hatten wir! Ein Bonbon, keine Wohnung! Drei Zimmer mit Küche, und noch eine kleine Kammer für das Dienstmädchen. Nie habe ich dem Mädchen erlaubt, in der Küche zu schlafen – das ist unreinlich, es könnten Haare in den Kochtopf fallen. Ein Zimmer war das Schlafzimmer, das andere das Eßzimmer und das dritte – der Salon, himmelblau. Ich hatte ja sehr bedeutende Auftraggeberinnen, das ganze bessere Petrograd habe ich mit meinen Jäckchen bekleidet… Oh, wir haben sehr gut verdient, hatten jeden Sonntag Gäste: und Wein und die besten Eßwaren und Blumen… Jossja hatte eine ganze Rauchgarnitur: so ein kleines Tischchen aus Filigranarbeit, ein kaukasisches, mit allerlei Pfeifen und Sächelchen und Aschenbechern und Streichholzdöschen… Ein Gelegenheitskauf bei einem Fabrikanten… Und Karten spielten sie bei uns, ich versichere Ihnen, um durchaus nicht geringe Summen.23
Über ihre Hamsterfahrten hinaus beschloß Marina, durch Vermietung von Zimmern ihre Situation zu verbessern. Sie fand einen jungen Mann namens Sachs, einen bescheidenen, doch farblosen Kommunisten, dem sie leidtat. Er schlägt ihr als erstes vor, eine Stellung als Registratorin beim Volkskommissariat für Nationalitätenfragen anzunehmen, das im selben Gebäude untergebracht war wie die Tscheka, die Geheimpolizei. Sachs mußte ihr versichern, daß man nicht von ihr verlangen werde, für die Tscheka zu arbeiten (es war mehr als unwahrscheinlich, daß die Tschekisten auf diesen Gedanken gekommen wären), doch was sie am Ende überzeugte, war das Gebäude selbst: es war das Stadthaus der Familie Sologub, das Tolstoi als Vorbild für das Haus der Rostows in Krieg und Frieden gedient hatte. Doch da die Arbeit keine besonderen Vorteile wie Sonderrationen bot, fragte Sachs sie, ob sie in einer Bank arbeiten wolle. Trotz ihrer verzweifelten Lage behauptete sie mürrisch:
Ich kann nicht zusammenzählen.
So fand sie sich denn schließlich am 13. November 1918 in der Presseabteilung des Volkskommissariats für Nationalitätenfragen wieder. Es war schwerlich eine Arbeit, die besondere Aufmerksamkeit erforderte, und Marina fand sie quälend eintönig. (Die Aufgabe, sich um Irina zu kümmern, fiel zum größten Teil Alja zu.) Marinas Schilderung dieser Zeit in ihrem Tagebuch entwirft ein schärferes Bild ihrer Tätigkeit als ihr später geschriebener Essay „Meine Arbeitsstellen“, der unverkennbar auf demselben Material beruht:
15. November, dritter Arbeitstag. Ich archiviere Zeitungsausschnitte, das heißt: ich gebe mit eigenen Worten Steklow wieder, Kerschenzew, Berichte über Kriegsgefangene, den Vormarsch der Roten Armee usw. Ich tue es einmal, zweimal (ich schreibe sie aus dem „Journal der Zeitungsausschnitte“ auf ,Karteikärtchen‘ ab), dann klebe ich diese Ausschnitte auf riesengroße Bögen. Die Zeitungen sind hauchdünn, die Schrift kaum erkennbar, und dann noch Überschriften mit lila Bleistift, und dann noch Leim – das ist vollkommen nutzlos und wird, ehe man es verbrennt, zu Staub zerfallen.
Links von mir zwei schmutzige, niedergedrückte Jüdinnen, wie Heringe,24 ohne Alter. Weiter: eine rote, hellblonde – als ein Mensch, der zur Wurst wurde, ebenfalls schreckliche – Lettin; „Ich habe ihn gekannt. Er war so nett. Er hat an einer Verschwörung teilgenommen, und jetzt haben sie ihn zum Erschießen verurteilt. Hi-hi!“ Und sie kicherte exaltiert, in rotem Schal. Grellrosa, fetter Halsauschnitt.25
Ob eintönig oder unangenehm, Marina brauchte das Geld dringend, und sie hielt es fünfeinhalb Monate in dieser Stellung aus. Sie war fair genug, bevor sie kündigte, zu notieren, daß „Sie mich unter dem alten Regime sofort auf die Straße gesetzt hätten, wenn sie einen Blick auf meine Arbeit geworfen hätten“.
Bald danach fand sie eine Anstellung in einer Behörde der Regierung namens „Monplenbesch“, wo sie sich in einem sargähnlichen Raum mit dem alphabetischen Ordnen von Karteikarten beschäftigen mußte. Die Aufseherin war vierzig Jahre alt und kam Marina „wie eine schrecklich alte Frau, wie eine Gefängniswärterin“ vor. Mit Sicherheit machte sich diese Frau darüber lustig, wie langsam Marina mit der Arbeit vorankam. Sie erriet, daß sie mit der Arbeit nicht vertraut war und bemerkte säuerlich:
Unser übliches Pensum beträgt 200 Karten täglich.
Selbst das Wissen, daß ihre Kinder auf Nahrung angewiesen waren, hielt Marina nicht davon ab, bereits am ersten Morgen die Waffen zu strecken.
Es war nicht die edle Geste, die sie in „Meine Arbeitsstellen“ daraus machte, wo sie ihr Verhalten so erklärt:
Nicht ich bin aus der Kartothek fortgegangen: die Füße haben mich fortgetragen, die Füße waren die Seele: ohne vom Bewußtsein aufgehalten zu werden. Eben das ist Instinkt.26
Trotzdem war es gewiß keine bewußte Entscheidung. Sie hatte vergessen, sich für das Mittagessen eintragen zu lassen, und als Grund für das Verlassen des Büros sagte sie, sie wolle zum Essen heimgehen. Man gestand ihr eine halbe Stunde zu, weil sie in der Nähe wohnte, doch ihre morgendliche Arbeit hatte sie derart zum Weinen gebracht, daß eine alte Frau, die sie durch die Straße gehen sah, dachte, sie sei bestohlen worden. Marina bestätigte das, und als sie darüber nachdachte, was sie gesagt hatte, gaben ihr die Worte in gewisser Weise ein Gefühl der Freiheit wieder.
Dies war eine der letzten Handlungen Marinas, in der sie sich, ohne Rücksicht auf ihre beiden Kinder, deren Leben von ihr abhing, wie ein verzogenes Kind weigerte, Verantwortung zu übernehmen. Es ist wahrscheinlich in ihrem ganzen Leben die einzige Reaktion, die ich persönlich unsympathisch finde, so verständlich sie auch sein mag.
Für den 7. Juli 1919 bot man ihr eine Lesung im „Palast der Künste“ an, bei der sie sich mit einiger Frechheit dafür entschied, vor Kollegen eine Reihe von Gedichten vorzutragen, welche die dreifache Lüge von „Freiheit. Gleichheit, Brüderlichkeit“ verdammten. Die Lesung dauerte fast fünfundvierzig Minuten, und sie sollte sechzig Rubel dafür bekommen, doch sie wies das Geld zurück. Es war natürlich nur Papiergeld, das wertlos war und für das man wenig hätte kaufen können, doch die Geste verriet einen Hochmut, der mit ihrer Weigerung, niedrige Arbeit zu übernehmen, in Einklang stand, während ihre Mittel dahinschwanden.
Die Moskauer Hungersnot des Jahres 1919 konnte man nicht durch den Besitz von bedrucktem Papier durchstehen, sondern man brauchte Geld. Marinas Versuch, sich durch den Verkauf einer antiken Uhr im Wert von 10.000 Rubeln Geld zu verschaffen, endete lediglich damit, daß sie die Uhr an den Mann verlor, der versprochen hatte, für sie einen Käufer zu finden. Sie nahm das Unglück resignierend hin, denn für das Geld hätte man auch nicht mehr als anderthalb Pfund Mehl kaufen können.
Freunde halfen ihr: Einige schenkten ihr Essensgutscheine; eine Schauspielerin brachte ein paar Kartoffeln und fertig gesägtes Feuerholz, ein Kollege Streichhölzer und ein wenig Brot. Trotzdem blieb die Lage der Familie weiterhin erbärmlich und dürftig, und daran hätte auch die beste Hausfrau nichts ändern können. Eine solche war Marina nicht. Sie schrieb in ihrem Tagebuch:
Ich lebe mit Alja und Irina (Alja ist 6, Irina 2 Jahre und 7 Monate alt) in der Boris-und-Gleb-Gasse, gegenüber von zwei Bäumen, im Dachzimmer, ehemals das von Serjoscha. Mehl haben wir keins, Brot haben wir keins. Die circa 12 Pfund Kartoffeln unter dem Schreibtisch, der Rest von einem Pud, das uns die Nachbarn ,liehen‘, sind unser ganzer Vorrat.27
Diese lakonische Auflistung der Vorräte ist weit entfernt von der üblichen Tonlage der Notizen, in denen Marina täglich ihr Leben aufzeichnete und welche die innere Welt ihrer Empfindungen widerspiegelten. Der Sprache fehlt jede Überschwenglichkeit und Freude; sie hat einen nüchternen Ton, als sollten für einen künftigen Leser nach Marinas Tod die Details ihrer Verzweiflung und das Alter ihrer Kinder festgehalten werden.
Sie tat, was sie konnte. Sie brachte Flaschen zum Kindergarten zurück, um Pfand zu kassieren; sie ging mit den geschenkten Essensmarken eines Schuhmachers zur Speisehalle Prag; sie lief durch Moskau, auf der Suche nach Brot. Was immer sie erbitten oder kaufen konnte, schaffte sie gewöhnlich ohne Hilfe heim. Wenn Alja sie begleitete, mußte Irina, die zur Sicherheit an ihrem Stuhl festgebunden wurde, allein zu Hause bleiben. Doch ihr Tagebuch macht deutlich, daß Marina mit der Situation nicht fertigwerden konnte:
Ich füttere Irina und lege sie schlafen. Sie schläft in dem blauen Sessel. Es gibt auch ein Bett, aber das geht nicht durch die Tür. – Ich koche Kaffee. Trinke. Rauche. Schreibe. Alja schreibt mir einen Brief oder liest. Etwa zwei Stunden Stille. Dann wacht Irina auf. Wir wärmen die Reste des Mischmaschs auf. Mit Aljas Hilfe fische ich die – in der Tiefe steckengebliebenen – restlichen Kartoffeln aus dem Samowar. Wir – entweder Alja oder ich – bringen Irina zu Bett. Dann geht Alja schlafen. Um 10 Uhr ist der Tag zu Ende.28
Dies waren die Jahre, in denen das Band zwischen Marina und ihrer Tochter Alja am festesten geknüpft wurde. Sie schliefen oft, manchmal in Kleidern, im selben Bett, um einander zu wärmen. Marina nutzte die Intelligenz ihrer Tochter, indem sie sie zu einer frühreifen Vertrauten machte. Das Kind reagierte ernst, ihre Mutter in vielen Dingen nachahmend; sie hatten die gleichen Vorbilder aus Büchern wie z.B. dem Don Quijote, den Alja bereits als Sechsjährige gelesen hatte oder sie malten sich aus, wie Marina sie wohl im 18. Jahrhundert erzogen haben würde. Marina war auf ihr Kind angewiesen, nicht nur auf seine Hilfe beim Tragen der Spüleimer und beim Holzhacken, sondern auch auf seinen geistigen Beistand. In mancher Hinsicht erinnerte die Beziehung an die wenigen Augenblicke, in denen Marina ihrer eigenen Mutter am nächsten gewesen war.
Marina blieb weltfremd, doch zum Glück waren nicht alle Bauern darauf aus, sie zu betrügen, und es machte ihr keine Mühe, mit Dunja, der Milchfrau, Freundschaft zu schließen, die während des ganzen Winters 1920 mit Milcheimern zu kommen pflegte. Deren Bereitwilligkeit, Papiergeld für die unerschwingliche Milch anzunehmen, beeindruckte Marina sehr. Es war ein Einverständnis unter Müttern: Dunja hatte selbst drei Söhne und zwei Töchter. Häufig schenkte Marina ihr etwas aus ihrem chaotischen Haushalt, während Dunja manchmal zerdrückte Kartoffelpfannkuchen oder ein kostbares hartgekochtes Ei mitbrachte.
Alle waren dauernd hungrig. Einmal versuchte Irina, sich rohen Kohl in den Mund zu stopfen. Und sie kränkelte. Im Juni 1919 bat ihr früheres Kindermädchen, eine Bäuerin aus dem Gouvernement Wladimir, Marina, das Kind mit in ihr Heimatdorf nehmen zu dürfen:
Unsere Milch ist noch Milch, weiß unter dem Zaren, weiß ohne den Zaren, und unsere Kartoffeln leben, sind nicht erfroren, und das Brot ist nicht gebleicht. Und Ihre Irina wird zurückkommen – ha!ha! – warten Sie nur ab!29
Marina erlaubte ihr, das Kind für einige Zeit mitzunehmen, und dank der Barmherzigkeit dieser Frau konnte Irina ein paar Wochen lang satt werden.
Alja wurde ernsthaft krank, und nur durch einen unerhörten Kampf hielt Marina sie am Leben – niemand half ihr dabei. Schließlich sah es so aus, als könne Irina nur in einem staatlichen Waisenhaus überleben. Doch diese Entscheidung erwies sich als ein tragischer Irrtum: Irina – die Alja als ein kleines Mädchen mit gerader Stirn, hellen Löckchen und grauen Augen beschrieb, das immer „Maena [Marina], meine Maena“ sang – starb im Winter 1919/20 an Hunger, zwei Jahre und zehn Monate alt, in der Obhut des Waisenhauses, das sie, wie Marina gehofft hatte, retten würde.
Das Entsetzen und die Verwirrung dieser Zeit kommen in einem Brief zum Ausdruck, den Marina im Dezember 1920 an ihre Schwester Anastassja schrieb:
Verzeih mir, wenn ich immer dasselbe schreibe – ich habe Angst, die Briefe kommen nicht an.
Im Februar dieses Jahres starb Irina – an Hunger – in einem Waisenhaus bei Moskau. Alja war schwer krank, aber ich hielt sie am Leben. Lilja und Vera [Serjoschas Schwestern] haben sich schlimmer benommen als Tiere – eigentlich hat mir fast jeder den Rücken zugedreht. Irina war fast drei Jahre alt. Sie hat kaum gesprochen und immer einen beklemmenden Eindruck gemacht. Sie hat sich ununterbrochen hin- und hergewiegt und gesungen. Ihr Gehör und ihre Stimme waren erstaunlich – solltest Du eine Spur von S. finden, schreibe ihm, daß sie an Lungenentzündung gestorben ist.30
(…)
Elaine Feinstein, aus Elaine Feinstein: Marina Zwetajewa. Eine Biographie, Frankfurter Verlagsanstalt, 1990
JELÁBUGA
(Marina Zwetajewa zum Gedenken)
Ich rufe sie – sie schweigt. Marina ist nicht aufzuwecken.
Jelábuga, Jelábuga – ein Totenacker hinter Hecken.
Der gottvergessne Sumpfgrund sollte deinen Namen tragen,
Ein solches Schlusswort würde künftig wie ein Riegel ragen.
Jelábuga – für wilde Kinder Schreckgespenst und Strafe,
Für Krämer, Räuber ist dein Friedhof passende Exklave.
Wen hat dein kalter Atem in die Flucht getrieben,
Für wen warst du die letzte Station hienieden?
Und wessen Schwanenschrei hast du vor Tag vernommen?
Es war Marinas letzter Ruf, du hast ihn mitbekommen.
Warum, Verfluchte, fehlen dir dafür bis jetzt die Tränen?
Der Goldschatz, den du birgst – Marina! – sollte dich beschämen.
Arsenij Tarkowskij, 1941
aus dem Russischen von Felix Philipp Ingold
Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa
Zwiesprachen VI: Katharina Schultens spricht über Marina Zwetajewa am 24.1.2016 im Lyrik Kabinett, München
Katharina Kohm: Die Begegnung an der Naht. Zu der Vortragsreihe Zwiesprachen VI: Katharina Schultens über Marina Zwetajewa am 25.1.2016 im Lyrik Kabinett
signaturen-magazin.de
Bettina Wöhrmann: Der Granatapfelkern Persephones
Ostragehege, Heft 64, 2011
Doris Liebermann: Vor 75 Jahren – Dichterin Marina Zwetajewa gestorben
Deutschlandfunk Kultur, 31.8.2016
Fritz Mierau: Ein biographisches Interview (Auszüge aus ca. 17 Stunden Videomaterial, 2006/2007) von Dietmar Hochmuth.
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