Mario Andrea Rigoni: Gespräche mit meinem Dämon

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Mario Andrea Rigoni: Gespräche mit meinem Dämon

Rigoni-Gespräche mit meinem Dämon

ZUR ZEIT DES CORONAVIRUS

I
Mein Dämon, du hattest mich nicht gewarnt,
dass ein mörderisches Virus aus einem Wald
oder einem orientalischen Markt auftauchen
und die ganze bewohnte Welt infizieren würde.
Oder bist du vielleicht sein geheimer Verbündeter?
Durch Alter und Krankheit bin ich schon seit Jahren
betrübt und nun wird überall ein Todesbanner
geschwenkt. In den Weinbergen, die ich allein durchstreife,
geht sogar von den Weinranken eine Stimmung aus,
die nicht den Triumph des Bacchus bedeutet sondern
den der Trauer, obwohl die Sonne übermütig über allem
erstrahlt. Und nun heulen Angst einflößende Sirenen
ohne Unterlass in dicht besiedelten Städten und
in kleineren Ortschaften, bis zum überquellen
werden die Münder der Spitäler, Friedhöfe und Krematorien
gestopft. Gab es nicht schon genügend Leid auf der Erde?
Oder wurde vielleicht gerade deshalb eine grausame
Mahnung von der dunklen Macht ausgeschickt,
die unsere Existenz regiert?
Soll das heißen, dass unsere Spezies, wenn sie nicht
ihren Lebensstil ändert, am Ende ist und durch
andere Arten ersetzt werden wird? Das erratische Virus
macht sich über uns lustig, wenn wir, selbst blind,
Blinde an der Hand halten und nur an Macht und Profit denken.
Wir sind nicht bereit für die Trompeten des Jüngsten Gerichts,
noch werden wir es je in Zukunft sein:
die Erde ist unsere einzige Heimstatt!
Und wir hätten gern, dass sich jener unheilvolle Tag,
wenn er auch nicht abgewendet werden kann, doch
wenigstens so weit wie möglich entfernen möge.

 

II
Oft fürchteten wir einen dritten Weltkrieg,
aber nun ist ein vielleicht noch schlimmeres Ereignis
eingetreten. Das neue Virus ist unerforscht,
unsichtbar und überall verbreitet: einen solchen Feind
haben wir niemals zuvor gehabt. „Ex Oriente lux“,
unterstellt mein hämischer, aber eher gut
informierter Dämon und fügt mit unbarmherzigem
Sarkasmus hinzu: „Erinnere dich, was euer
zuweilen zitierter, aber kaum angehörter
Denker sagte: ,Das ganze Unglück der Menschen
rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem
Zimmer zu bleiben vermögen.‘“ „Du bist wirklich
ein verfluchter Bastard“, habe ich ebenso wütend
wie entmutigt leise zu mir gesagt.

 

III
Descartes, was nützt dein cogito
und dein sum, wenn ein nicht fassbares Virus
ungehindert das cogito und das sum niederstreckt
und nur das ergo in der verseuchten Luft hängen bleibt,
nicht mehr hinweisendes Bindewort, sondern
verstörtes Fragewort? Deine so sichere Formel
ist immer eine verdächtige Luftblase gewesen,
anfällig dafür, in den Händen des Menschen-Kinds
zu zerplatzen, aber man kann unterschiedliche
Zeiten und Grade dieser Erkenntnis feststellen.
Was du nun von der Bastion
deines Geistes siehst, ist nur eine gesicherte Einsicht:
es gibt keine Philosophie, die nicht der Natur unterliegt.

 

IV
Betrachtet durch das Mikroskop haben Virus,
Bakterien und andere heimtückische
oder tödliche Keime schöne und originelle
Farben und Formen, die vielfach an
Kristalle und Pflanzen gemahnen. Und alles
ist unter der Lupe so strahlend hell!
Auch im Allergeringsten hört die Natur
nicht auf, ihr doppeltes Antlitz zu zeigen,
das der Herrlichkeit und das des Todes,
damit ihr Rätsel ungelöst bleibe.

 

V
Plötzlich ist es so, als hätte uns
eine unsichtbare Hand
in einen anderen Zustand des Seins
und des Fühlens geschleudert, vergleichbar mit jemandem,
der vom zehnten Stockwerk herunterfällt.
In einem einzigen Augenblick sind alle Schutzmaßnahmen,
Konventionen, Gewohnheiten, Konstrukte,
Projekte zerstört worden: was bleibt, ist nur
der zitternde Knochen unseres armseligen Ichs.
Ebenso wie für den Einzelnen jegliche Krankheit,
so enthüllt die Pandemie für die Menschheit
den einzigen wahrhaftigen Kern der Philosophie,
nämlich jenen, den wir seit jeher theoretisch kannten,
in den wir nun aber beißen wie in bitteres Gras.

 

VI
In meinem Garten in diesem Monat April,
der wirklich der grausamste der Monate ist,
und den wir, falls wir überleben, nur sehr schwer
vergessen werden können, ist alles
ein einziges Wuchern und Wachsen:
ach, warum hat sich die Schöpfung nicht
mit der Pflanzenwelt begnügt!

 

VII
Das Damoklesschwert ist nicht länger eine
sinnentleerte Metapher, der dünne Rosshaarfaden
ist zerrissen, und die Klinge durchschneidet
die Kehle von Millionen Menschen. Niemals noch
haben wir ein derartiges Massaker gesehen,
dessen Ende wir nicht absehen können. Er,
der mehr Glück hatte als wir, falls er einen Tag lang
die Lust auf Luxus, Speisen und anziehende Jünglinge
verloren hatte, so konnte er doch wenigstens
das Bankett des Dionysos unversehrt verlassen; wir hingegen
knirschen schon seit langem täglich mit den Zähnen.

 

VIII
Thomas, Pilatus und jene, die zu Jesus sagten:
„Wenn du Gott bist, dann steig herunter vom Kreuz“,
sind sie nicht, angesichts des Unfassbaren,
unsere Brüder gewesen? Haben sie nicht alle,
von den Gläubigen auf stets andere Art verleumdet,
die vernünftigste und menschlichste Empfindung gehabt,
dass Christus nämlich unschuldig war
und anderseits sterben wollte oder sollte,
um einen dunklen Plan der Vorsehung zu verwirklichen?
Nun, da in dieser neuen Tragödie der Papst
erklärt, dass der Glaube an Gott uns Mut verleihen müsse,
stellt sich dieselbe, immer gleiche Frage: warum schreitet
der Vater – der Vater! – , falls er existiert, nicht selbst ein
und hilft uns, anstatt uns Zweifel oder
nutzlosen Trost zu senden? Wenn er das nicht kann,
was für ein Gott ist das? Wenn er nicht will, ist er bösartig.
Tertium non datur. Oder aber, was auch gedacht wurde,
er muss mit einem anderen Gott abrechnen,
dem er in dieser verdammten Welt unterliegt.
War es übrigens nicht Jesus selbst, der sagte,
dass Satan ungestört über die ganze Schöpfung herrscht?
Welch ein Wahnsinn! Ist es vielleicht nötig,
dass auf unsere Wunden auch das Salz
dieses Märchens, dieser grausamen Farce gestreut wird?

 

 

 

Vorwort

In einer Sommernacht im verlassenen Internat hörte ich, angeklammert an die Stäbe meines Betts, das Pfeifen eines Zugs, das die wattierte Stille wie ein Gewehrschuss zerriss. Rund um mich weder Sterne noch Stimmen; nur der Tumult im Herzen eines Kindes.

Diese Kindheitserinnerung Mario Andrea Rigonis aus dem Band Impénétrable est le monde – Aphorismes et fragments / Unzugänglich ist die Welt – Aphorismen und Fragmente) erscheint mir neben dem Gedicht „Fallen“, auf das ich später näher eingehen werde, symptomatisch für den Autor, für seine Haltung dem Leben gegenüber. Der Tumult in seinem Herzen, nun in dem eines geachteten, gebildeten, lebenserfahrenen Gelehrten und Autors, hat sich, angesichts der Schrecknisse der Realität, angesichts der Schutzlosigkeit des Menschen, nicht gelegt.
Das Prekäre der conditio humana ist das Thema Rigonis, auch in diesem Band, seinem ersten Gedichtband nach einer Vielzahl von wissenschaftlichen und essayistischen Prosawerken, der spät in seinem Leben entstanden ist.

In seinen Gedichten bewegt sich Rigoni zumeist in einer Welt voller lebloser Dinge, in der Menschen kaum in Erscheinung treten. (Eine Ausnahme bilden hier die Texte, in denen historische Personen wie Julius Caesar, Marc Aurel, Pilatus zu Wort kommen und ihr Leben betrachten.) Die Dinge erhalten jedoch durch den „genauen Blick aufs Objekt“ (Adorno) besondere Bedeutung: die Rede ist von der „Perfektion des Kieselsteins“; „des Sandkorns“; die „Straße spricht“; „Bank“, „Tür“, „Fenster“, „Das Bett“; alte Fotografien sprechen und weisen über sich hinaus. All diese Dinge sind Relikte aus der Vergangenheit, sozusagen „Fossilien“, Spuren eines anderen, früheren Zeitalters, eines anderen Seinszustands.
Die Orte sind unbewohnt, menschenleer (Padua, Essaouira in Marokko) bis hin zur „Città ideale“, einem Bild, das man in der Galleria in Urbino bewundern kann; der Name des Malers ist unbekannt.

Bedeutet diese deutliche Hinwendung zum Unbelebten, zu den Dingen, eine Abwendung vom Menschen? Hat sie mit dem Skeptizismus Emil Ciorans zu tun, den Rigoni übersetzte und mit dem er sehr verbunden war?
Cioran meinte dezidiert:

Es gibt keinerlei Argumente für das Leben.

In dem Gedicht „Skeptizismus“ heißt es:

Der Skeptizismus ist zweifellos
die edelste und wahrhaftigste Philosophie.

In den Aphorismen Rigonis findet sich der Satz:

Die Erfahrung und die Weisheit raten dazu, sich nicht fortzupflanzen.

Eines der Gedichte trägt den Titel „Kinder machen“. Darin wird eindeutig davon abgeraten „Kinder zu machen“, denn „sie nicht zu machen, ist das Beste für sie“. Der Titel eines Werks Ciorans lautet: Vom Nachteil, geboren zu sein.

An dieser Stelle soll das bemerkenswerte Gedicht „Fallen“ erwähnt werden, in dem Rigoni sich daran erinnert, wie er als Kind mit seiner Mutter in einem Autobus im Winter auf einer steilen Bergstraße fuhr und wie der Fahrer den Absturz des Fahrzeugs in die Schlucht nur mit Mühe verhindern konnte. Die Schlussverse lauten:

Von diesem präzisen Moment an, von da an
hatte das nachdenkliche Kind Angst davor, aus der Welt zu fallen.

Oder manifestiert sich in dieser Abkehr vom Lebendigen die Einsicht, dass die prekäre Existenz des Menschen ein verfehlter Schöpfungsakt ist?
Die Themen der Gedichte sind großteils Reflexionen über das Schicksal, die Zeit, den Schmerz, den Tod, Gott und den Teufel.
Die Liebe wird ausgespart, sieht man von einem einzigen, innigen Liebesgedicht ab und einem erotischen Text. Liebe ist vergebliches Bemühen zweier Menschen umeinander, das immer zum Scheitern verurteilt ist.
Der Dämon, der zuweilen genannt wird, und der der Gesprächspartner des Dichters ist, dürfte sein alter ego sein, ein Geist, der stets verneint, so wie Mephisto in Goethes Faust. Allerdings ist Mephisto auch „ein Teil von jener Kraft, / die stets das Böse will und doch das Gute schafft!“

Die Form der Gedichte ist erstaunlich frei. Es sind sozusagen „petits poèmes en prose“, die wohl manchmal Reime und Assonanzen enthalten, aber ohne allzu bemühte Stilmittel auskommen. Die Länge der Gedichte ist sehr unterschiedlich.
Viele Gedichte haben ihre Vorlage bereits in dem Band Fondi di cassetto. Aforismi e frammenti (2019). Manches Thema ist zeitgemäß und aktuellen Geschehnissen geschuldet, wie z.B. die Texte zur Pandemie.

Meine Begegnung mit den Gedichten Mario Andrea Rigonis beruht auf einem Zufall. Ein gemeinsamer Freund, Massimo Bacigalupo, emeritierter Professor für Englische Literatur an der Universität Genua, hatte dem Kollegen Rigoni offenbar geraten, meinem Mann Hans Raimund (Lyriker und Übersetzer zahlreicher italienischer Dichter) und mir seinen ersten Gedichtband zu schicken. Ich hatte eben Übersetzungen von Werken der italienischen Dichterinnen Donatella Bisutti und Elena Salibra fertiggestellt. Zweifellos dachte Massimo, dass uns diese Texte interessieren könnten, was auch der Fall war. Ich beschloss, mich an die Übersetzung zu wagen. Vielleicht hatte aber auch die beigelegte Kunstkarte mein Interesse geweckt: Ein Porträt des Tänzers Alexander Sacharoff von Alexej Jawlensky aus dem Jahre 1909. Die dunkel umrandeten Augen, das schmale Gesicht, das ebenso gut das Gesicht einer Frau sein könnte, die schwarze Haartracht, das grellrote Kleid, der kritische, direkte Blick auf den Betrachter – ein faszinierendes Bild.
Ich nahm Kontakt mit Prof. Rigoni auf, der sich sehr rasch als liebenswürdiger und kooperativer Korrespondent erwies und der bereitwillig meine Fragen beantwortete.

Allmählich erschloss sich mir Rigonis Kosmos, allmählich begann ich, seinen unbarmherzigen, scharfen Blick auf die menschliche Existenz und deren Ausgesetztheit, Versehrtheit zu verstehen.
Die Müßigkeit jeglichen Tuns, die Ausweglosigkeit aller Bemühungen um Bleibendes, Gültiges, die Nutzlosigkeit aller Anstrengungen, all das wird benannt und dies ohne Erbitterung, ohne Larmoyanz.

Nur hin und wieder sprechen diese Gedichte von Schönem, Tröstlichem. Über den Wind heißt es:

Ich liebe ihn, weil er die Erde berührt, aber nicht bewohnt.

Der Himmel „verschwimmt zu zartem Perlmutt / unter dem einsamen Morgenstern.“ Der bescheidene Löwenzahn ist ein Kunstwerk der Natur, die Amseln sind weise Vögel, ihr Gefieder ist ein „vielsagendes Wappen“. Das Buch ist eine „Arznei“, die Bibliothek eine „Apotheke“. Diese Gedichte sind hell, tröstlich. Denn es hat zweifellos seine Richtigkeit damit, dass Trost zumeist nicht von Menschen sondern aus der Natur kommt.

In krassem Gegensatz dazu jedoch etwa das „Lied des Mannes aus Stein“, der ebenso gut ein „Mensch“ aus Stein könnte, da das italienische Wort „uomo“ beides bedeutet. Die Versteinerung, auch die Lots, ist unmissverständlich, selbst wenn sie als „Lied“ vorgetragen wird.

Ergreifend zuletzt Rigonis unverstellter, illusionsloser und mutiger Blick auf sein Leben in zwei kurzen Gedichten, die mich nachhaltig beeindruckt haben und die ich vollständig zitieren möchte, weil sie, wie ich meine, den Dichter dem Leser besonders nahebringen.

VERSPÄTETE UMKEHR

Ich habe mich zum Leben bekehrt,
nun, da es zu Ende ist. Letzte
Täuschung: zu oft verleumdet,
hat es sich vielleicht gewehrt.

 

EPITAPH

Er hasste sich, er verachtete sich, aber er liebte und wurde geliebt:
dies war das Paradoxon seines Geschicks.

Erschüttert jedoch hat mich eine Reihe von scheinbar zufälligen Ereignissen, die dieses Buch für mich wie ein Vermächtnis erscheinen lassen.
Voller Freude hatte ich meine fertiggestellte Übersetzung am Nachmittag des 15. Oktober 2021 vorerst dem Verleger und kurz danach Maria Andrea Rigoni gesandt. Mein Schreiben an Rigoni beginnt mit den Worten:

Das Projekt ,Rigoni‘ ist beendet.

Einen Tag später schreibt mir Luisa, Rigonis Frau, dass er am Morgen des 15. Oktober nach langer, schwerer Krankheit verstorben ist. Ich bin zu spät gekommen. Meine Übersetzung, die für Mario, so scheint es, sehr wichtig war, hat ihn nicht mehr erreicht. Ich trauere um ihn wie um einen guten Freund. Und ich wünsche mir, dass seine Gedichte eine Leserschaft im deutschen Sprachraum erreichen, die diese Texte zu würdigen versteht.

Franziska Raimund, Hochstrass, im Februar 2022, Vorwort

Die existentielle Bestürzung

in den Gedichten Mario Andrea Rigonis

Seit vielen Jahre vagabundiert Mario Andrea Rigoni in der Welt der italienischen Literatur und beunruhigt, provoziert und fasziniert all jene, die sich von den Spuren der Aufklärung angezogen fühlen, die Gefallen finden an Toccata und Fuge für Cembalo und die nach Metaphysik dürsten. Ein weithin bekannter Spezialist für Leopardi, Freud, Korrespondent und Übersetzer Ciorans, dieses maßgeblichen Meisters des modernen Skeptizismus, verkörpert Rigoni auf ideale Weise den „esprit libertin“, der mit wachem Geist die Gefährdetheit und Anmaßung der Menschen demaskiert, dabei jedoch nie die Freude an der Pointe und an akrobatischen Stilvolten verliert; dennoch (oder gerade deshalb) lässt sich sein Werk keineswegs auf einen Rationalismus reduzieren, der nur in eine Richtung strebt. Indem er sich in seinen Essays und Dichtungen zwischen Dissonanzen, Aporien, dem Schwindel erzeugenden Sagbaren und Unsagbaren, den philosophischen Brüchen und dem Zerfall der Intuition bewegt, ist er jenen vergleichbar, die das Eis der Arktis durchstreifen, kurz bevor es schmilzt; er berührt häufig ein Anderswo, das so fern ist, dass es auf keine Kategorie zurückgeführt werden kann.
Die Gedichtsammlung, die er uns nun vorlegt, irritiert ein weiteres Mal, bestätigt uns aber vor allem die Tiefe und Vielseitigkeit seiner Gedankengänge. In diesen der Prosa sehr nahen Versen, die aber auch Reime und Assonanzen enthalten, öffnet der Autor eine Art existentieller und philosophischer „Wunderkammer“; er betrachtet die Spuren eines Lebens, indem er die Phantome der Zeit beschwört, die sie umschwirren; er beschreibt verlassene und totenstille Orte („Da steht ein großes Haus am Ende des Tals“ (…) In der Luft kreisen vereinzelt Raben, / die nicht nach Nahrung hungern, sondern nach Erinnerungen.“); er dreht und wendet einen Kieselstein in seinen Händen, um wie ein antiker Stoiker die Perfektion „seines unbeweglichen Mineralschlafs“ zu studieren; er erforscht mit Hilfe des Mikroskops „die überraschenden Wunder“, die sich in einem einfachen Sandkorn verbergen. Alles erscheint ihm gleichzeitig geheimnisvoll und des Interesses, des Staunens und der Reflexion wert: die Leichtigkeit des Winds („Ich liebe ihn, weil er die Erde berührt, aber nicht bewohnt.“), die Schönheit und Vergänglichkeit des Löwenzahns, der erbarmungslose Blick des Geiers und „der starre und heimliche Blick des Bergs“. Er lässt sich auf alles persönlich ein, ist sich dabei aber nicht nur der Grenzen des Intellekts beim Erleben der Realität bewusst, die er mit allen Menschen teilt, sondern auch seiner eigenen Furcht davor, in den Abgrund der Angst zu fallen, der Angst vor der Endlichkeit des Lebens und vor dessen langsamem, aber unvermeidlichem Verfall.
Trotz der reinen und quälenden Empfindung der Zeit und dem lauernden Tod gegenüber, trotz der Schatten, die das Flüstern seines „Dämons“ (eine Art wortgewandtes und sarkastisches alter ego) oder die Fragen ohne philosophische Antworten auf die Schritte dieses Dichters sui generis werfen, erhellen zeitweilig unvermittelte, geheimnisvolle und beseligende Strahlen seine Tage. Ein Ort, der völlig verlassen ist, ist „ein Tempel im Freien (…) die Grashalme (…) sind gebeugt / in Verehrung, und jedes Rascheln / scheint der Schritt eines Gottes zu sein“: in der Morgendämmerung, wenn „Der reine Lapislazuli des himmlischen / Tuchs zu zartem Perlmutt verschwimmt (…) sind wir für einen Augenblick (…) Seelen, Schall gegen die Zeit und das Schicksal, / teilhaftig eines göttlichen Spiels.“ Uns von dem Bild, das wir uns von uns gemacht haben, zu befreien, sei es auch nur für einen Augenblick, bedeutet „einen Punkt außerhalb der Zeit“ zu berühren. Erst dann können wir die Schönheit erkennen, „die überall auf Erden erstrahlt / trotz aller Schmerzen, aller Schrecken.“ Woher rührt diese namenlose Realität? Welches ist ihre Quelle? Hilflos, unfähig zu antworten stehen die Philosophen dem „Stern des Seins“ gegenüber. Nun bleibt uns nur mehr dies zu sagen: auch wenn uns die Schönheit nicht retten kann, „so wird sie uns doch / in ihren Traum von Ewigkeit entführt haben.“

Paolo Lagazzi, Nachwort
Aus dem Französischen übersetzt von Franziska Raimund

 

Rezension

Franziska Raimund haben wir es zu verdanken, dass es diesen einzigartigen Gedichtband für eine deutsche Leserschaft gibt! Rigoni war Professor für Italienische Literatur in Padua, Essayist, Kritiker, Autor, Übersetzer von E.M. Cioran, Kulturberichterstatter für Il Corriere della Sera usw. Er verstarb am Tag der Beendigung dieser Übersetzung 2021 in Biadene di Montebelluna.
Er ist ein kritischer, mit sich selbst unzufriedener Dichter, der (Zitat S. 9: „Epitaph / Er hasste sich, er verachtete sich, aber er liebte und wurde geliebt: / dies war das Paradoxon seines Geschicks.“)
In „Tierhaftigkeit“ S. 57 denkt er über die Taten nach, die wie Prankenhiebe sind und die Worte wie Gebrüll. Er beginnt:

Viele sagen mir, dass ich ihnen etwas
gegeben habe, manchen sogar sehr vielmehr.
Aber ich weiß, dass ich vielen auch Schmerzen
zugefügt habe, und dies ohne es zu wollen.

Rigoni verteidigt sich, sein Leben, Lieben und Wirken genauso wie er Pontius Pilatus oder Caesar sich verteidigen lässt. Er ist Skeptiker und sieht im Skeptizismus die edelste und wahrhaftigste Philosophie. Er durchleuchtet das menschliche Leben und sieht, dass es vom Dämon grausam und spöttisch „geleert“ wird. Vielleicht war das Gedicht S. 94 der Anlass für den Titel des Bandes.
Er sieht den Zerfall und das Verrotten. Und doch gibt es wieder Konstante, sei es die kurze Verweildauer der Liebe, seien es die Bücher, sei es die Amsel, der Löwenzahn, der Berg. Jedenfalls ist der Berg einer, „der dich anschaut mit einem starren und heimlichen Blick von Dauer, / er überlebt Generationen und Jahrtausende, währen deiner, beweglich und flüchtig, / nur eine kurze Zukunft hat…“.
Und trotzdem ist die Welt Rigonis nicht düster, sie ist offen und nicht verstellt. Ein philosophisches, poetisches Werk, voll des Abwägens zwischen Täuschung und Wahrheit!

Eva Riebler, Österreichischer Schriftsteller/innenverband Austrian Writers Association

 

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Mario Andrea Rigoni liest aus seinem Buch Vanidad.

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