Mario Andrea Rigoni: Immanenz / Innesein

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Mario Andrea Rigoni: Immanenz / Innesein

Rigoni-Immanenz / Innesein

DIE BIBLIOTHEK

Lasst meine Bibliothek in ihrem ursprünglichen
Chaos, wischt nur den Staub weg und die Spinnennetze.
Jedes Buch ist ein Freund, jedes ist ausgewählt,
mein Spiegel oder mein Wunsch, treu oder betrogen
– heute jedoch eine unbewachte Stele. Es gibt nicht
viele Eindringlinge, seid nachsichtig mit ihnen,
denn sie hatten keine feindlichen Absichten,
und man muss mit allen freundlich sein.
Lasst unsere Katzen umherstreifen,
sie sind gewohnte Besucher der Klüfte.
Sie haben immer Diskretion gezeigt,
keine hat jemals einen Band attackiert:
sie stammen aus einer esoterischen Weisheit
und werden glauben, dass ich noch am Leben bin.

 

 

 

Nachbemerkung

Der Titel des zweiten Gedichtbandes von Mario Andrea Rigoni Immanenza hat mir große Schwierigkeiten bereitet. Die Bedeutung des Wortes „Immanenz“ ist einerseits das Innewohnen, das Enthaltensein in einem Lebewesen oder auch in einem Gedanken; in der Philosophie hingegen bedeutet es das Verbleiben in einem vorgegebenen Bereich ohne Überschreitung von Grenzen. Den Gegensatz dazu bildet der Begriff „Transzendenz“, der jenseits der Erfahrung, des Gegenständlichen Liegendes benennt; in der Philosophie das Überschreiten der Grenzen von Erfahrung und Bewusstsein, der Grenzen des Diesseits. So verweist dieser Titel also auf den Umstand, dass der Inhalt der Gedichte auf Erfahrung, auf Erlebtem beruht, auf Erinnertem, das wieder ins Bewusstsein gerückt wird. Gemeinhin wird für solche Gedichte die Bezeichnung „Gedankenlyrik“ verwendet, was im Falle Rigonis auch seine Richtigkeit hat. Der Dichter spricht zumeist in einfachen Worten von gelebtem Leben, von seinem Leben, von Erlittenem, Erduldetem, Gelungenem, Verfehltem. Jedoch verweist er dabei immer über das Private hinaus auf allgemein Menschliches, nachvollziehbar Gültiges.
Nicht nur der Titel erschien mir für die deutsche Ausgabe ein Wagnis, auch die Umschlaggestaltung erwies sich als schwierig. Auf dem Umschlag des italienischen Originals ist ein Aquarell William Blakes (1757–1827), des englischen Malers, Dichters, Theologen, Graveurs und Illustrators zu sehen: „Satan betrachtet die Zärtlichkeiten von Adam und Eva“, eine Illustration aus dem Jahre 1808 zu Paradise lost, einem epischen Gedicht von John Milton (1608–1674), dem englischen Dichter und politischen Denker.
Satan wird als gefallener Engel dargestellt, der die Schlange in Händen hält. Adam und Eva umarmen einander liebevoll. Satan beneidet sie um ihr Glück.
Der Autor hatte mir dieses Bild für den Umschlag seines ersten Gedichtbandes Gespräche mit meinem Dämon vorgeschlagen. Ich habe mich damals widerstrebend und skeptisch geäußert. Ich fand das Sujet des Bildes unpassend. Die Darstellung zweier vom Sündenfall bedrohter Liebender schien mir im Hinblick auf den Inhalt des Buchs irreführend. Liebe ist nicht Leitmotiv oder mindestens Thema einiger Gedichte, sie kommt nicht vor. Ich wählte deshalb das „Bildnis des Tänzers Alexander Sacharoff“ von Alexej Jawlensky aus dem Jahre 1909. Der „dämonische“ Blick des Tänzers, der ebenso gut eine Frau sein konnte, bewogen mich dazu. In Rigonis zweitem Lyrikband nun ist allerdings durchaus auch von Liebe die Rede. Geliebte Menschen werden erinnert, der sterbende Vater, die Frau in jungen Jahren, das Kind, das in den zu großen Schuhen des Vaters zu gehen versucht, Freunde, die Wegbegleiter waren. Da ist aber auch Liebe zur Natur, zur Tier- und Pflanzenwelt, Liebe zu scheinbar nutzlosen und unwichtigen Dingen. Und dabei ist ein Umstand Gegenstand sehr vieler Texte: die schicksalhafte Vergeblichkeit jeglichen menschlichen Bemühens, die Fruchtlosigkeit aller Anstrengungen, die darauf abzielen, Bleibendes, Gültiges zu schaffen und zu erhalten. Rigonis schonungslose Direktheit brüskiert zuweilen, stößt vor den Kopf. Viele dieser Gedichte muten wie ein tagebuchartiges Testament an. So hat Rigoni sie auch selbst bezeichnet – ein „diario testamento“.
Der Autor hat die meisten dieser Gedichte geschrieben, als er bereits sehr krank war, als ihm bereits klar war, dass er nicht mehr viel Zeit hatte, seine Gedanken zu Papier zu bringen. Die Gedichte haben kurze, unprätentiöse Titel, sind höchst unterschiedlich, was ihre Länge betrifft, die Sprache ist klar. Das italienische Original enthält zahlreiche Binnen- und Endreime, die im Deutschen leider kaum bewahrt werden konnten. Dennoch entsteht nie der Eindruck des Gekünstelten, des absichtsvoll Undeutlichen, Geheimnisvollen.
Rigonis Bewunderung der Pflanzen- und Tierwelt berührt, aber auch seine Ehrlichkeit, seine Direktheit, ich möchte fast sagen Schonungslosigkeit, wenn er von seinem häufigen Versagen im zwischenmenschlichen Bereich spricht. Das Scheitern am anderen, die Nichtigkeit jeglichen Bemühens um Dauer, um Gültigkeit, dies sind die in den Gedichten vorrangig behandelten Themen.
Kindheitserinnerungen werden wach, als „Wirklichkeit und Erzählung“ noch ein „Fest“ waren. Doch da ist auch schon die Angst vor dem Dunkel, die Sprachverwirrung, die frühe Begegnung mit dem Tod und bald auch die klar benannte Depression. Da ist der Bruder, der nur einen Tag lang lebt und dessen „Stellvertreter“ Rigoni wird, die Mutter, die ein entbehrungsreiches Leben führte, der angekündigte Tod des Vaters, den der Sohn versäumt, was er sich nicht verzeiht, und da sind Liebesgedichte, die mit Fug und Recht als solche bezeichnet werden dürfen und die in ihrer Einfachheit und Direktheit betroffen machen. Historische Ereignisse werden bloß gestreift, z.B. in „Erinnerung an den 11. September“, „Das Gehirn Stalins“.
Die zuletzt gereihten, ergreifenden Gedichte stellen zweifellos eine Art Vermächtnis des Dichters dar. In „Koffer fürs Spital“, „Totenepigramm“, „Die Bibliothek“ hat Rigoni den eigenen, nicht abwendbaren Tod vor Augen. Die „Poetik“ am Ende des Bands spricht in klaren, unmissverständlichen Versen das Anliegen Rigonis aus: sich durch die Freude am Umgang mit Sprache lebendig zu fühlen, im vermeintlich Flüchtigsten, dem Wort, zu leben, ja vielleicht sogar zu überleben…

Franziska Raimund, Hochstrass, im Juni 2022, Nachwort

 

 

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Mario Andrea Rigoni liest aus seinem Buch Vanidad.

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