ZEITRAUM
Ich werde die verbannten Worte dann
im Sonnenlicht suchen: als Schatten vorüber
zog deine Hand und wehrte dem Tau;
die Schönheit zehrte an den Marien
den weißen Straßen entlang,
still leuchtete dein Gang
durch einen Garten aus Vätererbe,
und Himmelsbläue raste am fernen
Fensterbrett deiner Mutter:
ein wildwüchsiger Baum durchlüftete
− sein Strahlenkranz gleich seinem Schmerz −
deine Kleider am Eckstein der Gassen
gebläht von farblosem Ungestüm.
Bachbetten die Mauern: droben
harrten noch unerkundete Sinnbilder,
wo in das lange Schweigen eines Abschieds
der Wind fährt am eisigen Eisengeländer
eines Hauses in der Obhut der Sterne.
Und mit dem Herzen wirst du einst den Grund
der geritzten Städte suchen, den Flug
der Tauben, der zwischen Pfeilern im Traum verging:
und wirst in einem milden Himmel
− da du mich liebst, ist auch dein Himmel blond −
aus deinen Händen alles Leben schütten.
Aber das Ewige werden erstarrt die Trugbilder
vortragen, wenn sie den Abend einatmen
hoch über den Dächern in ihrem Fragen.
Als Hugo Friedrich vor bald vierzig Jahren das Wagnis einging, „Die Struktur der modernen Lyrik“ generell zu bestimmen, erklärte er:
Dunkelheit ist zum durchgängigen ästhetischen Prinzip geworden. Sie ist es, die das Gedicht übermäßig absondert von der üblichen Mitteilungsfunktion der Sprache, um es in der Schwebe zu halten, in der es sich eher entziehen als annähern kann. Manchmal scheint es, als ob modernes Dichten nur ein Notieren von Ahnungen und blinden Experimenten sei, aufbewahrt für irgendeine Zukunft, in der hellere Ahnungen und geglücktere Experimente sich an ihm entzünden könnten.
In Friedrichs Studie kommt der Name Mario Luzi nicht vor. Sie orientiert sich, so weit sie italienische Lyrik berücksichtigt, ganz an Montale und Ungaretti. Aber noch eher als diesen beiden Autoren wird der zitierte Passus dem Frühwerk des 1914 geborenen, also um eine knappe Generation jüngeren Luzi gerecht. Ihm ist der Begriff des „Hermetischen“, den man zeitweise wohl zu sorglos verwendet hat, angemessen; und hier meint „hermetisch“ nicht nur ein dem Leser schwer oder kaum verständliches Schreiben, sondern ein mindestens vorläufig für den Dichter selbst undurchdringliches Reden der Dinge.
Mario Luzi hat dieses Frühwerk hinter sich gelassen – auf der Suche nach „helleren Ahnungen“, zu denen auch sein katholischer Glaube ihn führte. Als er 1990, bei der Verleihung des Premio Val di Comino, gebeten wurde, ein Gedicht aus La barca, der ersten Sammlung von 1935, vorzutragen, sträubte er sich: jene Anfänge seien ihm fremd geworden. Nachdem er aber die Verse gelesen hatte, bekannte er: es sei ihm nun doch wieder hörbar, wie er schon damals sich auf den Weg gemacht habe, den er seither gegangen sei. Und tatsächlich gilt, was er anläßlich der französischen Publikation von Per il battesimo dei nostri frammenti 1987 in einem Gespräch mit den Übersetzern zur Erläuterung seines Dichtens sagte, für das fünfzig Jahre früher nicht weniger als für das später Geschriebene.
„Ich meine“, so erklärte er damals, „daß Dichten ein Prophezeien im etymologischen Sinn eines prophemi ist, einer Verkündigung an eine Welt, die noch nicht reif ist, sie zu empfangen.“ „Zukünftig, beweglich, immer auf der Suche nach ihrem eigenen Gegenstand“ nennt er die Dichtung, auf die es ihm ankommt. Sie entsteht in der schwierigen, schmerzlichen Begegnung der Seele mit einer Welt, die „in Episoden, in widersprüchlichen, heterogenen und nur durch ihre Zusammenballung, nicht durch das Denken, das Fühlen oder das Glauben geeinten Fragmenten lebt“; mit einer Welt, in der „das Wort“ eine Krise durchmacht und „Dinge ohne Namen auftauchen… Wir leben in einer Parabel, das Menschsein durchläuft eine dunkle Phase.“
Die Seele aber „ist auch etwas Wachsendes; wir haben seinen Keim, es ist uns versprochen, aber es muß sich durch Welterfahrung verwirklichen.“ Diese Leidensgeschichte halte uns – nämlich: uns Christen – dazu an, „uns in die geistige Natur des Menschen hineinzufinden, damit die Seele immer mehr zu Erkenntnis werde.“ „Dort zu sein, wo die Dinge sich zutragen, gegenwärtig und teilnehmend, das ist der Sinn der (dichterischen) Rede, die nicht vorgeformt, nicht organisiert, sondern in ihrem Entstehungsprozeß erfaßt wird.“ Und näherhin zum Verfahren:
Meine Gedichte entstehen durch spontane Ansammlung: das Wort, das eine innere Wirklichkeit zum Brennpunkt macht und erhellt, dient anderen Worten als Katalysator, bildet mit ihnen zusammen ein Aggregat, das ich als Kern des Gedichts herausschäle und das eingefangen und in den Rhythmus (der für mich entscheidende Bedeutung hat in allen seinen Formen: innere Bewegung, Metrum, Tempi…) eingebracht wird: es fordert dann andere Aggregate in der Weise der Abwechslung oder der Abwandlung. Und die Kette, die so entsteht, richtet sich zu dem Sinn empor, welcher nie erreicht wird, dessen Erscheinen man aber beim höchsten Grade der Spannung voraus spürt.
Die „spontane Ansammlung“ von Bildern und Gedanken in einer frei assoziierenden Sprache – „laisser l’initiative aux mots, travailler sur les reflets réciproques des mots“ (Mallarmé)… Gerade in Luzis Frühwerk wird dieses Verfahren erkennbar; so wie sich das reine Fragen noch nicht am Versuch des Antwortens bricht. Erkennbar wird aber auch – bei Luzi so gut wie bei Ungaretti, wie bei Montale −, daß die Sprache der modernen italienischen Lyrik, selbst wo sie tatsächlich nur ein „Notieren von Ahnungen“ leistet, nicht von einem „Kahlschlag“ herrührt, nicht von der Absage an ein Dichten, das einstmals „möglich“ gewesen und es jetzt „nicht mehr“ sei. Die Worte, auf die sich Ungaretti zurückzieht, die Montale in neue Konstellationen versetzt, die Luzi ihren Weg fürs erste selbst finden läßt, stammen aus Überliefertem; wo zwar D’Annunzio oder Pascoli oder Carducci keine Autoritäten mehr sind, geht der Blick desto leichter zurück – oder merkt das Gehör desto freier wieder – auf Leopardi, auf Petrarca, auf Dante.
Nicht aus der Stille und aus der Kälte beginnt die Dichtung Luzis und seiner Zeitgenossen zu reden (doch freilich in die Kälte und Stille hat sich die Rede Giorgio Capronis im Lauf der Jahrzehnte gewandt; nichts, dort, von „helleren Ahnungen“). Der frühere Luzi hält sich an die Moll-Tonarten, bis die toskanische Landschaft und die christliche Hoffnung (alte Verbündete) ihm einen Übergang in den Dur-Bereich weisen werden. Einstweilen runden sich doch schon die Szenen (mehr oder weniger; fragmentarisch bleibt vieles) um ihren dunklen Sinn, und das Spiel der Empfindungen kann sich in einem „Quaderno gotico“, in dem Zyklus verdichten, der im Werk Luzis einen ähnlichen Platz einnimmt wie die „Mottetti“ im Œuvre Montales: als chiffrierte Meditation über persönlichste Erfahrung, die sich nicht ihrem biographischen Inhalt nach, aber in der literarischen Form entschlüsselt, denn so (und die Frage ist ernst gemeint) wird doch gedichtet?
Der Himmel flimmert, Hyazinth ergießt sich
zwischen den dunklen Mauern, und ein Wehn
fährt in die Kleider, ein Gewölk durchfließt mich −
ein Atemzug von heimlichem Geschehn?
Ein Schwindel hat mir im Vorübergehn
die Stirn berührt, da sprüht ein Feuerregen,
um den die ruhig wachen Schatten stehn,
ein unsichtbares Wesen will sich regen.
Du, ja, du hast den Himmel schnell gestreift
im Abendschein. Wie wenn eine Gestalt
in einem Tor verschwunden ist und kalt
um uns der Tod und lichtes Bangen schweift.
Wo sich die Schwalbe in die Straße schnellt,
gingst du vorüber, nur dies eine Schreiten
zerreißt den Schleier, der den Weg erhellt,
ruft nach dem Dunkel und verhallt im Weiten.
Das ist (auch im Original; man vergleiche) nicht Parodie, sondern Bereitschaft, sich verständlich zu machen, sobald zwischen Emotion und Diktion ein Gleichgewicht möglich oder ein Pakt geschlossen wird. Nicht nur ein Rhythmus – der ist immer und vor allem andern −, sondern ein festes Metrum und für einmal ein fast bis zum Ende durchgehaltenes Reimschema: In solchen Signalen bekundet sich der Vorsatz, dereinst von den Fragen zu den Antworten überzugehen. Aber noch näher an den poetischen Grundimpuls Mario Luzis führen uns jene Texte heran, in denen vom Unterwegs der Seele nicht nur gesprochen wird, sondern die ganze Bildhaftigkeit des Sprechens selbst in den Dienst der Frage tritt und sich dem Ruf des Weges fügt.
Gebannt ins eisige Maß der Marmorbilder,
löst alles, was fortan vollkommen schien,
sich auf, beseelt sich wieder, und ein Beben
geht durch das Licht, ein Schauer durch die Bäche,
ein Summen durch die ahnungsvollen Städte.
Dem treuen Bild bleibt keine Farbe mehr,
und ich erhebe mich, ich schwebe auf, bestrebt
ein Mario zu werden, unerreichbar
mir selbst, in unablässigem Bestehn
ein Feuer, das aus seiner Glut sich nährt.
Hanno Helbling, Nachwort
Mario Luzi, vor kurzem im hohen Alter von neunzig Jahren in Florenz verstorben, wurde einige Monate vor seinem Tod vom italienischen Staatspräsidenten zum Ehrensenator erhoben. Seine Bekleidung mit dem Amt eines Senators legte noch einmal Zeugnis dafür ab, daß die italienische Öffentlichkeit in ihm schon zuvor einen „Amtsträger“ erkannte, insofern er den Beruf des Dichters ausübte. Diese „Beamtung“ freilich kann nicht geschehen durch einen willentlichen Akt, sondern sie ergibt sich als Resultat der Wirkungsgeschichte des dichterischen Werkes, wenn es die Kraft besitzt, sich in der zugehörigen Sprachgemeinschaft im Lauf von Jahrzehnten festzusetzen. Mit dieser Bemerkung sei eine italienische Besonderheit und eine Besonderheit des Werkes von Mario Luzi nur angedeutet.
In den Gedichtwerken Luzis trifft man nirgends auf die Schlacken des bloß Privaten, es gibt darin keine direkten Konfessionen und keine unverarbeiteten biographischen Elemente. Die Texte zielen durchwegs auf den Versuch einer verbindlichen Sinngebung. Aus den archetypischen Reserven der Psyche werden sinnstiftende Bedeutungskomplexe bewußt gemacht, die als Selbstheilungskräfte wirken sollen. Die Gedichte sind frei von aller „Glossolalie“, ihr Wortlaut unmittelbar verständlich, keiner weiteren Erläuterungen bedürftig. Aber diese Selbstverständlichkeit ist das Geheimnis des Sinnes. A.N. Whitehead beschließt seine Metaphysik Prozeß und Realität mit einem Satz, der hier als Umschreibung dessen, was mit „Sinn“ gemeint ist, dienen kann:
Auf diese Weise ist die beharrliche Sehnsucht gerechtfertigt – die beharrliche Sehnsucht, dieser Drang nach Existenz möge aufgefrischt werden durch die allgegenwärtige, nicht nachlassende Bedeutung unserer unmittelbaren Handlungen, die vergehen und doch für immerdar leben werden.
Von solcher „beharrlichen Sehnsucht“ wird das Schaffen Luzis angetrieben. Die überpersönliche Frage nach dem Sinn muß aufkommen in außergewöhnlichen geschichtlichen Konstellationen, in Epochenwenden, wenn große Einbrüche und Zusammenbrüche der kollektiven Wertsysteme eingetreten sind. So beginnt Mario Luzis gültiges dichterisches Werk in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit der Aufarbeitung der unmittelbar zurückliegenden geschichtlichen Ereignisse, welche die überlebende Welt in eine Situation des umfassenden zivilisatorischen Sinnverlustes versetzt hatten. Sinn hat sich entzogen, aber Sinn-Entzug ist auch, in negativer Form, Sinn-Bezug. Es entsteht ein Spannungsverhältnis unendlichen Ausmaßes. Die Spannung wird als die Leere empfunden, welche an dem geistigen Ort des Gemeinschaftslebens aufgekommen ist, nachdem ihn die traditionellen Sinn-Träger – Religionen, Künste, Wertsysteme – aus innerem Versagen räumen mußten. „Wozu Dichter in dürftiger Zeit?“, hatte Hölderlin gefragt. Was ist der Sinn all des Unfaßlichen, was gerade geschah und noch geschieht? Diese Frage zu stellen, ist die Aufgabe der Dichtung. Sie hält den Spannungsbogen der eingetretenen Leere aus, indem sie sich einspannt zwischen den Polen von Schmerz und Prophetie. Ihr schonungslos schmerzliches Erinnern hält fest, was geschah, heftet den Blick auf die „Trümmer“, die zusammenhanglos zurückgebliebenen Sinnfragmente, und sie erschaut in ihnen das gewesene Ganze, nicht als ein rekonstruierbares, sondern als zukünftigen Bau, dessen Grundriß sie entwirft. Den Titel der in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren entstandenen Gedichtsammlung Für die Taufe unseres Stückwerks“ kann man als Leitwort über Luzis Gesamtwerk setzen. „Taufen“ heißt mit einem Namen belegen. Die neuen Namen geben der Sprache die verlorene Bedeutung zurück. Aber ein solcher Sinnbau kann nicht beliebig gelingen, er bedarf der Gestalt des dichterischen Werkes.
Die Besinnung auf das Gedicht Mario Luzis führt zu einer Definition des Gedichtes des 20. Jahrhunderts, deren Anspruch er und andere Dichter, die ihm nahestehen, zu erfüllen strebten. Es beschreibt die Situation des Überlebenden, für den der Sinn des Weiterlebens fraglich geworden ist. Die lange Reihe von Luzis Gedichtsammlungen besteht aus Serien immer wechselnder und immer repräsentativer Situationsbeschreibungen, in denen er die verschiedensten Lebensbereiche seiner Zeit ausschreitet – à la recherche du sens perdu. Es ist die Trümmer-Welt des fragmentierten Sinnes. Aber der systematische Grundzug der Suche nach dem Einen bleibt sich über die Jahrzehnte hinweg gleich. Luzi spricht an einer Stelle seiner tiefschürfenden Dante-Interpretation darüber, wie jede Episode in der Divina Commedia sich immer nur im Interesse der „salvezza“ fokussiere. In analoger Weise konzentriert sich bei ihm selbst jede episodische Darstellung zeitgenössischen Lebens in der Aufmerksamkeit des Sinnsuchers, des Zeichendeuters, ob sich im jeweiligen Geschehnis, in der Begegnung, im Dialog mit andern – ein Zeichen zu erkennen gebe, das als Verheißung von Zukunft gelesen werden kann. Immer ist sich der Dichter auch der Gefahr bewußt, sich zu versehen, zu halluzinieren, aber er gibt die Hoffnung nicht auf, daß sich unvermutet die Lichtzeichen des Sinnes einstellen könnten.
Guido Schmidlin, Akzente. Zeitschrift für Literatur, Heft 4, August 2007
Thomas Stauder: Ruhelose Religiosität
Neue Zürcher Zeitung, 20.10.2014
Mario Luzi liest in Saronno seine beiden Gedichte Ottobre und Ignominiosamente.
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