Marlen Pelny: Wir müssen nur noch die Tiere erschlagen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Marlen Pelny: Wir müssen nur noch die Tiere erschlagen

Pelny-Wir müssen nur noch die Tiere erschlagen

WAS WIR SEHEN, IST

was wir sehen, ist weiß
wie neunzig Prozent der deutschen Wände
oder das, was nicht Boden und Decke ist
der äußere Kreis lässt den inneren kreiseln
sodass, wenn wir die Augen schließen
wir hinter den Sternen sind

 

 

 

Marlen Pelny: „Nehmen wir an“ in einem Poesiefilm von Catalina GV.

 

Marlen Pelny: „Post aus Eisenhüttenstadt“ in einem Poesiefilm von Catalina GV.

 

Marlen Pelny: „Das Bild in dem Bild in dem Bild in dem Bild“ von Gato & Mono Design.

 

Marlen Pelnys Gedichte

sind wie Bleistiftzeichnungen alltäglicher Räume, in denen Details der Schwerkraft widersprechen. Sie macht Schnappschüsse von der Wirklichkeit, die uns zeigen, was wir wahrnehmen könnten, würden wir uns nur öffnen und einmal genau hinschauen. Wir könnten den „Jetlag vor dem Atomkraftwerk“ spüren, reisten „ans andere Ende der Zeit“ und wenn im Radio „Nachrichten kämen, würden wir tanzen“.

Verlag Voland & Quist, Klappentext, 2013

 

Das gefällt mir

Für mich als Lyrik-Legastheniker gleicht ein Gedichtband einem Gesetzestext oder der Rückseite einer Versicherungspolice. Alles was ich nicht beherrsche, versuche ich in regelmäßigen Abständen immer wieder, um erneut daran zu scheitern.
Aber manchmal kommt eben doch eine gerade Melodie aus der Blockflöte oder ich halte mich für zehn Sekunden auf dem Einrad. Und so finde ich manchmal tatsächlich Zugang zu den verschachtelten Worten und den sprerrigen Themen eines Gedichts. Und es zeichnen sich Bilder im Kopf von Situationen, die ich kenne, von Menschen und Ideen, die ich zu mögen scheine. Das gefällt mir.

Der Stadtzyniker, amazon.de, 5.11.2013

Ein leister, unverdächtiger, aber besonderer Gedichtband

wir stehen am Fenster und sehen nicht raus
seit Tagen schon diese Geräusche
wie stichfester Regen, wie Kartenspiel
jemand mischt auf den Wegen

Viele Leute bemerken, wenn sie zeitgenössische Lyrik lesen, nicht den Bann der Worte, der hinter der undurchdringlichen Fassade von Ästhetik und Innovation sitzt. Dieser Bann, diese anziehende Hypnotik ist jedoch ein wesentlicher Teil der modernen Politik der Lyrik. Die Idee einer Sprache, die auf einer Ebene jenseits gesicherter Ausdruck-Systeme existieren kann und von dort Eindrücke und Formulierungen zurückschickt, die dennoch wesentlich, für uns relevant und in der Ahnung nachvollziehbar sind, gehört zwar seit jeher zum Genre der Lyrik, aber die Moderne hat diese Idee auf die Spitze getrieben.

draußen sehen wir die Menschen wie Bäume
weiß wie Schnee im Schnee da stehen
drinnen hören wir einen seltenen Vogel
durch die Wände gehen

Man könnte auch sagen: Sie hat ihr endgültig die Sicherheit genommen. Das Visuelle wird nur noch spärlich, einzeln, miteinander verdrahtet, die Zärtlichkeit ist meist allein noch in der schmalen Ausbreitung des Ich, wie ständig gedimmtes Licht, aufzufinden. Bleibt nur noch die Physis der Sprache selbst, ihre Eins zu Eins Wirkung, ohne viel Erweiterung. Dichter und dichter muss man sie formen. Jede Zeile, jede Aussage muss eine neue Anregung sein, das nächste Glied des Flusses (und somit auf den ganzen Fluss, der sich darin fortsetzt) auf sich wirken zu lassen. Denn oft ist es nur der Zug des Flusses, die sich aufschaukelnde Mutation des Sinns, in der Sprache, die ein Gedicht lebendig und eindrücklich macht.

ich würde dir gern sagen, wie es um mich steht
welche Farbe die See in meinen Augen hat
was ihr gemeinsam habt, du und meine Gier
welches Kabel mein Herz mit meinem Kopf verbindet
was mein innerer Schweinehund
mit äußeren Katastrophen zu tun hat
was die anderen Hunde von mir halten

Marlen Pelnys Gedichte sind Alltagsgedichte und doch auch wieder nicht. Wie jede gute Dichtung haben sie der oben beschriebenen Entwicklung der Lyrik noch ihre eigenen Ausläufer hinzugefügt, ihre eigenen Modifikationen und Sicherungen eingebaut. So kommt in Pelnys Gedichten schon mal hier und da ein Reim vor oder eine Reimfolge, die aber eher wie streunende, denn wie hofgehaltene Wesen wirken.

die ganze Nacht einschlafen
den Tieren die Haare einfrieren
das ganze Haar verteilen
die ganze Nacht tätowieren

Ihre Art des Reims ist sozusagen seltsam getrimmt, die Reimmoral nicht ganz zu erkennen.

Pelny hat in diesem Band vorwiegend Alltagsgedichte geschrieben, wenn Sie sie auch nicht alltäglich serviert. Der Lauf ihrer Gedichte ist von der Sondierung bestimmt, der Sondierung im allen, eine Sondierung die auf langsam und auf Feinjustierung eingestellt ist.

und da ist es auch schon: das bild
in dem bild in dem bild in dem bild
wir packen es ein und gleich wieder aus
es ist verblichen, wir erscheinen noch blasser

Es scheint, als würde das Unförmige dominieren, aber das täuscht. Das Format der Gedichte ist lediglich ein sehr subtiles, ökonomisch alternatives. In diesem Format durchdringen sich fortwährend die Dimensionen; es liegt darin eine adaptive Musterung der Realität, ein (wie in dem Ausschnitt über diesem Absatz anklingend) Abpausen der Welt, der ruhelosen Statiken, dem Vergehen von Ideen schon wenn sie erscheinen, wenn sie in den Sinn kommen.

innere Strichlisten für jeden guten Morgen
haben immer die gleiche Überschrift
weiß unterstrichen, wie der Himmel
ausgesprochen weit oben

Die Gedichte finden wenig halt, sie sind mehr ein reiner Halt in sich. Ich würde nicht von einer kritischen Stimme in ihnen sprechen (vielleicht von einem Anteil, einem kleinen), dafür sind sie viel zu direkt, zu hautnah.

wie wir über Kalk nachdenken, beim Wasserkochen
beim Pflegen unsrer Alltäglichkeit

Am stärksten sind Pelnys Verse jedoch, wenn sie ein kleines bisschen umgetippter Zärtlichkeit durchscheinen lassen. Wenn sie in diesen Räumen von Alltag, Fragwürdigkeit und den Linien auf dem Chrom der Zeit auch eine lyrische Note in ihrer Dichtung sich Bahn brechen lässt. Sehr gut zu sehen in diesen zwei einfachen Zeilen:

im Radio liefe unsere Musik
und wenn Nachrichten kämen, würden wir tanzen

Ich möchte abschließend eine Empfehlung für diese Gedichte aussprechen. Ihre Lektüre ist, im geringsten Falle (wie man hoffentlich bemerkt hat), zumindest inspirierend. Und man kann in den Momenten, Eindrücken, Welten, die hier wie Laken aufgeschlagen werden, auch eine sehr rare Art von ungewisser Gewissheit finden, eine gedankliche Reflexion ohne Spiegelungen, die sehr beeindruckend ist.

Timo Brandt, amazon.de, 21.10.2013

Unendliche Song-Gedichte

Mit der Literaturgruppe augenpost plakatierte Marlen Pelny die Straßen deutscher Großstädte mit ihren Gedichten. Und sie vertont ihre Texte auch. In ihrem neuen Gedichtband zum Hören geht es um das Grauen hinter den Fassaden des Alltags.

WAS WIR SEHEN, IST

was wir sehen, ist weiß
wie neunzig Prozent der deutschen Wände
oder das, was nicht Boden und Decke ist
der äußere Kreis lässt den inneren kreiseln
sodass, wenn wir die Augen schließen
wir hinter den Sternen sind

Weiße Wände und kreiselnde Kreise: Bilder der Unendlichkeit. Marlen Pelny skizziert in ihren Gedichten Empfindsamkeiten, beschreibt Eindrücke und beschäftigt sich mit den Augenblicken vor der Momentaufnahme – eher mit der Möglichkeit der Wahrnehmung, als mit der Wahrnehmung selbst.

PARIS UND DU

du schreibst Karten, wenn der Regen fällt
ich seh dich an, als könnte Licht dich verändern
mit dem Wetter hinter dir versinkst du in Geschichten
über eine Stadt, die jetzt nicht existiert
Paris wie Prag wie Köln, wie du
ein rohes Herz, das, eben noch greifbar
im Regen verschwimmt

Alltägliches wird durch die Augen der Lyrikerin zu leisen Bildern voll lauter Leidenschaft. Beklemmend, die Gefühle. Weitläufig, die Architekturen, traurig, melancholisch. 55 Gedichte veröffentlicht Marlen Pelny unter dem Titel Wir müssen nur noch die Tiere erschlagen. Schon der Titel deutet auf das gemeinsame Unvorstellbare hin, das Grauen hinter den Fassaden des Alltags:

O-TON

wir stehen am Fenster und sehen nicht raus
seit Tagen schon diese Geräusche
wie sichtfester Regen, wie Kartenspiel
jemand mischt auf den Wegen
werden wir die Räume verlassen
mit unserem Gewicht
die plastischen Kugeln bewegen
ein Fanal, das sich hinter dem Vorhang regt
ein Feuer wird zu Sirenen

Marlen Pelny ist 1981 in Nordhausen in Thüringen geboren und arbeitet als Musikerin und Lyrikerin in Berlin und Leipzig. 2007 veröffentlicht sie ihren ersten Gedichtband mit dem programmatischen Titel Auftakt. In ihren Arbeiten vermischt sie Popmusik und Poesie zu einer Art Song-Gedicht.

WAS ICH DIR GERNE SAGEN WÜRDE

ich würde dir gerne sagen, wie es um mich steht
die Sterne, all die Leute, das Getier
welche Farbe die See in meinen Augen hat
was ihr gemeinsam habt, du und meine Gier
welches Kabel mein Herz mit meinem Kopf verbindet
was mein innerer Schweinehund
mit äußeren Katastrophen zu tun hat
was die anderen Hunde von mir halten
ich habe über alles nachgedacht
wieso ich ausgerechnet an dich denke
und an das Kabel zwischen unseren Häuten
ich würde es dir gerne sagen

18 der 55 Gedichte hat Marlen Pelny auf einer dem DIN A5-Büchlein beigelegten CD eingesprochen, sieben davon selbst vertont. Bass, Schlagzeug und Gitarre, hin und wieder auch die weichen Töne eines Fender Rhodes Piano, untermalen ihre Lyrik. Manchmal genügt ihr sogar schon ein tiefes Summen aus dem Kehlkopf als endloser Loop, um ihren Texten Leben einzuhauchen.

DAS BILD IN DEM BILD IN DEM BILD IN DEM BILD

wir entwirren unser Gedächtnis
nach brauchbaren Spuren seiner Funktion
wir atmen sehr deutlich
unserem Gegenüber ins Ohr
wir fahren mit geöffneten Hände
in unsere Kindheitserinnerungen
schließen das Fenster, kochen das Wasser
summen immer denselben Ton
und da ist es auch schon: das Bild
in dem Bild in dem Bild in dem Bild
wir packen es ein und gleich wieder aus
es ist verblichen, wir erscheinen noch blasser
alles in allem, wir in diesem Haus
sind Negative und schwimmen im Wasser
bis zur nächsten Station

Die Musik harmoniert in den vertonten Gedichten am besten an den Stellen, wo sie für die  ohnehin stark assoziativen Gedichte noch mal neue Räume öffnet. Oder eben wie es bei Marlen Pelny heißt: „das Bild in dem Bild in dem Bild“. Gläserne Gitarre, galoppierendes Schlagzeug und Schwermut in der Stimme ziehen in dieser vertonten Lyrik endlose Spiralen – ein Wechselspiel zwischen sich annähern und sich entfernen.

WEGEN DIR

wir sind
wie alle anderen auch
wir rollen die Zungen in uns hinein
und warten, bis irgendetwas brennt

Andi Hörmann, Deutschlandfunk Kultur, 24.1.2014

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Dirk Uwe Hansen: Gedichte am Fenster
signaturen-magazin.de

 

Die Idee von uns bleibt

ein einziges Wort

– Was die Gedichte von Marlen Pelny mit uns zu tun haben. –

Viele Gedichte finden in einem ganz bestimmten Raum statt. Wir könnten ihn auch „Landschaft“ oder „Bühne“ nennen. Dieser Raum tut sich vor unserem inneren Auge auf, wenn wir Gedichte lesen. Er sieht in jedem Kopf anders aus. Seine Eigenschaften verändern sich um Nuancen, Koordinaten verschieben sich, Farben und Details variieren je nach der Persönlichkeit des Lesers und der Leserin. Es ist ein beweglicher Raum. Wir erschaffen ihn mit. Wir schieben ihn uns zurecht. Aber es bleibt immer derselbe.
Er ist so unverwechselbar wie die Texte, die ihn bevölkern. Levin Westermanns Gedichte (Lagebesprechung 40) finden im Halbdunkel von Nacht und Tag statt, in dem die Zeit für einen Moment stillzustehen scheint, bevor sie zum irren Rasen ausholt. Sünje Lewejohanns Gedichte (Lagebesprechung 41) spielen in einer Auenlandschaft, die sich aus halbleeren Dörfern, Dorfgräben, Teerstragen und weiten, beunruhigenden Kornfeldern zusammensetzt. Sie sieht der Heimat der Autorin südlich der dänischen Grenze zum Verwechseln ähnlich, aber sie ist nicht mit ihr identisch, denn es ist eine literarische Landschaft. Der rhetorische Raum von Lydia Dahers Gedichten (Lagebesprechung 42) verweigert sich jeder Koordinate, denn das „Gedicht ist kein Raum, an dem wir uns treffen.“ Man erkennt ihn am wechselnden Tonfall wieder, in dem der Zweifel durchklingt, ob es so etwas wie Kommunikation in der Sprache überhaupt gibt. Und die Gedichte von Marlen Pelny? Wie, Sie sehen nichts? Dann lösen Sie jetzt bitte den Blick von dieser Zeitschrift.
Heben Sie den Kopf, schauen Sie sich um. Befinden Sie sich in Ihrer eigenen Wohnung? Wie sieht es bei Ihnen zu Hause aus? Sind die Fenster geschlossen? Gibt es einen Balkon? Hören Sie Geräusche von draußen? Spielt drinnen Radio? Hören Sie sonst noch etwas? Das Geräusch Ihrer Vorhänge beim Auf- und Zuziehen? Das Springen des Toastbrots aus dem Toaster? Klingelt das Telefon? Hören Sie noch jemand anderen? Sind Sie allein? Brennt Licht? Nein? Dann schalten Sie es jetzt an. Willkommen auf der Bühne von Marlen Pelnys Gedichten. Willkommen bei Ihnen zu Hause.
In diesen Gedichten läuft Radio, die Vorhänge werden tatsächlich auf- und zugezogen, Anrufe kommen und manchmal ein Brief, Postkarten werden geschrieben, im Internet wird etwas bestellt und man gießt Schnaps nach. Man leert ihn, man steht am Fenster, man arbeitet, man geht seiner Wege. Aber irgendetwas stimmt hier nicht. Nicht ganz. Zigaretten erlöschen plötzlich, die Fenstervorhänge heben sich von allein und nicht nur das, sie ziehen regelrecht „bergauf“, und auch die Sterne stehen nicht am Himmel, sondern kreisen um uns herum. Selbst der Regen draußen scheint nicht flüssig zu sein, denn er ist „stichfest“ und verhindert auch nicht das Feuer, das wenige Zeilen später vor dem Fenster ausbricht. Die unbelebten Dinge auf der Bühne von Marlen Pelnys Gedichten führen ein sonderbares Eigenleben. Das beunruhigt, weil es haarscharf an der Wirklichkeit vorbeigeht.
Aber hier kümmert das niemanden. Vor dem Fenster mag es brennen oder schneien, man stört sich höchstens am Windstoß auf dem Balkon. Man geht auch nicht einfach über den Flur, sondern streckt sich darüber hinweg, als wäre man ein Gummiband. Aber wohin es einen zieht, scheint keine Rolle zu spielen. Was ist hier also los?
Jedes der Gedichte von Marlen Pelny ist ein „huis clos“, ein abgeschlossener Raum, in dem sich mehr oder weniger lebendige Menschen aufhalten, ohne wirklich etwas zu tun. Sie sind nicht aktiv, sie schauen nicht nach draußen, sie gehen nicht weg und sind trotzdem nicht da:

du machst, seit ich abgereist bin, Geräusche.

Diese Menschen sind wir. So steht es jedenfalls in den Gedichten. Wir schaffen uns unsere eigene geschlossene Gesellschaft, an der Sartre seine makabre Freude hätte. Wir sind eindeutig weniger lebendig als die Gegenstände um uns herum:

wir legen die Beine neben die Arme
und rufen uns zu, verschwunden zu sein.

Wir sind die lebenden Toten im Versteck unseres Privatlebens. Was draußen passiert, kümmert uns nicht. Und hier schließt sich der Kreis, denn die Wirklichkeit ist Marlen Pelnys Gedichten vielleicht doch ähnlicher, als uns lieb ist; uns gut geschulten Lyriklesern, die die Wirklichkeit überall suchen, nur nicht in Gedichten.
Vielleicht sind es tatsächlich nur Gedichte und die Wirklichkeit sieht anders aus. Vielleicht sind wir ganz anders. Fest steht: Wir sehen den Akteuren auf der Bühne von Marlen Pelnys Gedichten täuschend ähnlich, wie wir da so in unserer Wohnung sitzen und Zeitschriften lesen. Verehrte Leserschaft, heben Sie den Kopf, schauen Sie sich um.

Ulrike Almut Sandig, Ostragehege, Heft 67, 2012

Ich bin eine Jukebox

– Ein Interview mit Marlen Pelny. –

Ulrike Almut Sandig: Liebe Marlen, willkommen in diesem kleinen Mailpingpong, ich eröffne unser Duett mit meinem ersten Satz: Seit Deinem Debütband Auftakt, der 2007 in der Connewitzer Verlagsbuchhandlung in Leipzig erschien, sind fünf Jahre vergangen, in denen Du fast nie Gedichte veröffentlicht hast. Warum war das so? Was hast Du in der Zwischenzeit gemacht?

Marlen Pelny: liebe almut, als ich anfing, an neuen gedichten zu arbeiten, die sich unter anderem hier in dieser textauswahl befinden, begann ich zunächst damit, meine notizbücher herauszukramen. dabei fiel mir dann auf, dass ich durchaus in den letzten jahren geschrieben habe, was mir selbst gar nicht so klar gewesen ist. die freunde schenken einem also diese heftchen, die man mindestens einmal im jahr zum geburtstag oder an weihnachten bekommt, nicht umsonst! gleichzeitig habe ich darin entdeckt, dass ich mich auf der suche befand. ich fand in den büchern sowohl gedichte als auch roman- und drehbuchideen. und ich fand dort: einen anderen ton. ich hatte quasi einen fundus aus dem, was war, und aus dem, was kommen sollte, und freute mich selbst über diese vorarbeit. dadurch war ich sehr schnell bei allen neuerungen angelangt, thematisch, sprachlich, formell. denn dass sich etwas ändern soll im vergleich zu den gedichten davor, ist mir ein bedürfnis.
warum ich 5 jahre dazu gebraucht habe, die arbeit an meinen texten wieder ernsthaft zu betreiben, ist dennoch schwer zu beantworten. ich könnte mich leicht herausreden und aufzählen, was mich alles davon abhielt. aber um ehrlich zu sein, glaube ich selbst nicht, dass das glaubwürdige „entschuldigungen“ dafür wären. immerhin hatte ich, als ich Auftakt geschrieben habe, ähnlich viel drumherum zu tun. wahrscheinlich habe ich diese pause tatsächlich gebraucht. vor allem dafür, die oben erwähnten neuerungen für meine texte zu finden, da kamen mir jobs beim film, beim theater und viele musikalische projekte eigentlich gerade recht. ich habe mich auch viel mit anderen autoren, wie zum beispiel marianne brandt, irmtraud morgner, heinrich von kleist und jetzt im moment mit günter grass beschäftigt und ihre texte vertont. deine natürlich nicht zu vergessen! auch unser gemeinsames hörbuch Märzwald ist innerhalb der letzten 5 jahre entstanden. und ich habe mein eigenes album Fischen produziert, dessen entstehung bis zur veröffentlichung schon allein 3 jahre in anspruch genommen hat. ich stand sehr viel im studio und auf bühnen, wenn nicht mit meinen eigenen sachen, dann mit Zuckerklub, dem songwriterpunkduo, dessen eine hälfte ich seit 2 jahren bin. ich habe, so weit ich konnte, meine fühler ausgestreckt, um sie danach wieder einzuziehen und nach innen zu richten und davon zu schreiben, was in den letzten 5 jahren so passiert ist. ja, so könnte man es sagen.

Sandig: Was genau ist das für ein anderer Ton, den Du in Deinen Notizheften gefunden hast? Worin unterscheidet sich Dein erster Band Auftakt von Deinen neuen Gedichten – thematisch, sprachlich und formell?

Pelny: in meinen notizbüchern habe ich vorrangig einen wütenden ton gefunden. ich hatte die liebe wohl irgendwie satt und habe mir eher gedanken um die welt und unsere gesellschaft gemacht. die liebe hat dennoch ihren platz gefunden, denn sie gehört ja zu allen drei kategorien dazu. aber sie soll nicht mehr so dominant sein.
ich bin immer noch wütend und genieße diesen zustand sehr (natürlich nur für meine schreibarbeit). im moment möchte ich mich mit der wut mehr zurechtfinden und ihr am liebsten noch mehr platz einräumen, hier und da noch lauter werden. in Auftakt gab es, denke ich, schon anzeichen dafür, der nächste gedichtband soll diesen ton jedoch genau zur hälfte beinhalten. letztendlich kann ich hier aber nur aus meinen gefühlen heraus sprechen. vielleicht empfinden es die leserInnen meiner gedichte wieder ganz anders. vielleicht bin ich sprachlich und thematisch noch gar nicht dort, wo meine gedichte in meiner vorstellung schon stattfinden, vielleicht erzähle ich hier von gedichten, die ich bisher nur im kopf geschrieben habe. ich weiß es nicht und tue mich eben deshalb auch mit dem vergleichen schwer. ich kann nur sagen, dass ich so geradeaus wie möglich schreiben will. nach dem Auftakt vielleicht einen „Aufsatz“…?
für den neuen gedichtband schreibe ich die texte in form von zyklen. der eine dreht sich um ein du, der andere um uns alle. soviel vielleicht noch zum formellen unterschied. das ist eine spannende form, die es mir ermöglicht, mir das ganze von vornherein als buch vorzustellen. also auch sehr praktisch für jemanden wie mich, denn ich arbeite nie nur so vor mich hin, sondern immer mit einem bestimmten ziel vor augen. und das ist in diesem fall ein neues buch.

Sandig: Ein Zyklus über uns alle? Wen meinst Du damit? Geht es Dir um eine bestimmte soziale Gruppe, eine Generation, oder ist das Wir in Deinen Gedichten eher rhetorischer Natur? Aber wenn nicht, wäre Dein Vorhaben dann nicht eine Anmaßung? Ein Generation Golf Buch im Gedichtformat?

Pelny: ich glaube nicht, dass mein vorhaben eine anmaßung ist. dafür mache ich viel zu wenig den mund auf. und das liegt nicht daran, dass ich das nicht wollen würde, sondern schlicht daran, dass ich es nicht kann. ich bin leider nicht nur im zwischenmenschlichen umgang von meiner herkunft und erziehung geprägt, sondern eben auch in meiner – nennen wir es – kunst, den versuch, das zu ändern, starte ich aber immer wieder. vielleicht gelingt es mir von gedicht zu gedicht ein bisschen mehr. natürlich fühle ich mich nicht dazu berufen, über anderer leute denken und fühlen zu schreiben. ich schreibe also über „uns“ aus meinem blickwinkel heraus. darin besteht vielleicht eine klitzekleine parallele zu „Generation Golf“, daran gedacht habe ich jedoch bisher überhaupt nicht.
um deine frage etwas genauer zu beantworten: ich schaue gerade einfach lieber vor als zurück das finde ich verrückt genug. eigentlich sind die zeitungen und erzählungen von freunden, über deren arbeit und das, was am ende davon übrig bleibt, über den fraß, den wir tagtäglich in uns hineinstopfen, über wissenschaftliche entwicklungen, politische desaster etc. im moment meine größte inspirationsquelle. und weil ich unendlich viele parallelen zu mir und wieder anderen menschen, die ich kenne, ziehen kann, gibt es dieses „wir“, und weil es nicht enden wollende geschichten sind, wird es ein zyklus, der sich um uns herum bewegt – beobachtet und aufgeschrieben von mir.

Sandig: Bedeutet das auch, dass Literatur und Musik Dich in Deiner Arbeit weniger beeinflussen? Und wenn doch, welche Art von Musik und welche Literatur findet Eingang in Deine Gedichte?

Pelny: nein, das bedeutet es nicht. ich wurde hin und wieder gefragt, welche musikerInnen mich bzw. meine musik beeinflussen. ich weiß es nicht. wenn ich morgens aufwache, ist das erste, was ich im kopf habe, ein song. das muss nicht unbedingt einer sein, den ich am tag zuvor gehört habe. es kann auch einer sein, den ich nur ein einziges mal gehört habe. ich bin sowas wie eine wandelnde jukebox. selbst songs, die mir überhaupt nicht gefallen, finden eingang in mein hirn und – häufig, ungünstigerweise – auch in dessen speicher. das ist mit der literatur ähnlich. auch wenn ich mich dahingehend auf keinen ohrwurm am morgen verlassen kann. jedenfalls vermute ich manchmal, dass alles, was ich höre und lese, in einer art zwischenspeicher abgelegt und später, wenn es an die arbeit geht, abgerufen und gefiltert wird. für mich gibt es keine bestimmte band und keine bestimmten autoren, die mich immer wieder inspirieren, und auch keine zeit, in der mal der eine oder der andere meine muse ist. alles, was ich aufnehme, wird in mir zu geschichten, an denen ich dann weiterschreibe.
also im moment inspirieren mich für einen meiner zyklen vorrangig gruselige alltagsgeschichten, dabei handelt es sich eben um kein festgeschriebenes werk, um keine schon von jemandem verfasste story, sondern um nackte tatsachen, die sich mir aufdrängen.

Sandig: Schon verstanden, aber jetzt will ich natürlich noch wissen: Welchen Ohrwurm hattest Du heute morgen? Und welches Buch hast Du als letztes gelesen?

Pelny: mein heutiger ohrwurm war ein etwas ungewöhnlicher: ein geburtstagslied. „heute kann es regnen, stürmen oder schneien…“ [„Wie schön, dass du geboren bist“ ist ein Kinderlied von Rolf Zuckowski, Anm. Sandig], da war ich gut vorbereitet für einen heute stattfindenden geburtstag. manchmal passen die ohrwürmer thematisch.
als letztes gelesen habe ich die Heimstraße 52 von selim özdogan. das ist der nachfolger von Die Tochter des Schmieds, beide bücher haben mich sehr beeindruckt und ich freue mich schon auf den dritten teil dieser trilogie, die von mir aus eigentlich gern eine dekalogie werden könnte.

Sandig: Ich danke Dir für dieses kleine Mailgespräch zwischen Deutschland und Kanada und wünsche Dir ein großartiges Fest in Victoria. Liebe Grüße, Deine Almut.

Ostragehege, Heft 67, 2012

 

 

 

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Marlen Pelny liest am 17. November 2013 im Rahmen der Reihe Literatur in Weißensee ihr Gedicht „Der verlotterte Puls“.

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