TURMGEDICHT
1843
Die dunkle Sprache und die Wehmut der Betrachtung
ergeben keine Poesie mehr – ich denke zuviel
an das Verstrichene, mitten in der Nacht an welches Land
Es war keine so hochgelegen errichtete
Welt, als dass die Seele vor sich verschlechternden Zeiten
dort mit Wörtern Fallen gestellt hätte
dass der Verderb hier vor deinen Augen alles
plündert, welche Enthüllung trieb dich
auch jetzt auf den Weg, Steine wird just der, der dir folgt
auf dich werfen, auf wen, schaffe sie weg, flüstern sie, deine Existenz,
sie könnten sagen, trete nicht auf das Gesims, auch
vorsichtig nicht eines Tages werfen die Turm-Gedichte
einen härteren Schatten als der Turm auf die schweigende Welt
und sie ziehen dich in tiefere Tiefen, wie du siehst
Stuttgart, 1993–95
Márton Kalász wurde 1934 in Somberek/Schomberg in Südungarn geboren. Er machte sich im Budapester Kulturleben nicht mit der Sprache seiner Mutter, dem Deutschen, sondern mit der Sprache seines Vaterlandes als Rundfunkreporter, Redakteur und Verlagsleiter einen Namen. Er ist Dozent für Germanistik an der Budapester Protestantischen Universität Gáspár Károli und Vorsitzender des Ungarischen Schriftstellerverbandes. 14 Lyrikbände, zahlreiche Prosasammlungen, Kinder- und Jugendbücher sowie Übersetzungen ins Ungarische markieren sein literarisches Profil. Der Roman Téli bárány (deutsche Ausgabe 1992 im Grazer Styria-Verlag: Winterlamm) wurde zum Bucherfolg.
Der Aufenthalt 1991–1994 als Leiter des Ungarischen Kulturinstituts in Stuttgart führt Márton Kalász zur intensiven Beschäftigung mit Hölderlin. Lyrischer Niederschlag dieses Aufenthalts ist der Band Sötét seb, erschienen 1996 im Budapester Kortárs-Verlag. Der Dichter versteckt sich in diesem Werk hinter der in ihrer Unzeitgemäßheit zeitgemäßen Maske des im Tübinger Turmzimmer vor sich hin vegetierenden Hölderlin, um wichtige Erkenntnisse zu gewinnen. In seinem Versteck im Turmzimmer stellt sich Kalász die Verbannung als Tatsache vor, um seine Aussagen über Liebe, Freiheit, Schönheit, Hass, Harmonie des Griechentums, Grausamkeit und Verzeihung und die Taten des menschlichen Monsters festzuhalten. Seine Sorge um Heimat, Sprache und Schöpferkraft, seine Einsamkeit und beständige Liebe zu einer Frau werden zum Echo von Hölderlins lyrischen Reflexionen. Sein Aufenthalt erweist sich als ein Turmerlebnis. So fasst er – nicht anders als Hölderlin in seinem Roman Hyperion – den Lebenslauf sowohl des Individuums wie der gesamten Menschheit im Bild der „excentrischen Bahn“. Seine Poesie ist sowohl eine Selbst- als auch eine Gesellschaftsanalyse, sie ist persönlich und doch zugleich welthaltig. Dabei dient ihm zur Grundlage nichts anderes als Hölderlins geschichtsphilosophisches Programm der späten Hymnen: die umfassende Sinndeutung des Lebens und seiner Antagonismen.
Die poetische Sprache verschließt sich dem flüchtigen Leser. Sie erscheint auf den ersten Blick antiquiert und schwierig. Man muss sich ihr mit Geduld annähern, um sie zu erschließen und von ihr eingefangen zu werden. Es ist aber die dunkle Sprache Hölderlins letzter Texte, auf die hier vorsichtig stets zurückgegriffen wird und die diese anspruchsvolle Lyrik legitimiert. Das Wissen um den „Patmos-Rücken“ Hölderlins, um sein Leben und seinen Werkzusammenhang, imaginäre und eigentliche Begegnungen, das eigene Weltwissen, in wenigen Zeilen zusammengedrängt – alles wird interpretiert und verwandelt in eine poetische Wirklichkeit, die künstlerische Nachahmung des Menschen Hölderlin. So wird für ihn die Verbannung zum Schauplatz von Glück und Verdammnis, Sieg und Untergang, Selbstbesinnung und Leid.
Evoziert werden die Lebensstationen Hölderlins (Nürtingen, Maulbronn, Frankfurt a.M., Flycht, Homburg, Jena, Tübingen), die Familie: die Mutter, die kühle „warzige Geheimrätin“, die in der Welt verlorene Tochter, die unglückliche Liebe, die ihn mit seiner „Diotima“, der Frau des Frankfurter Bankiers Gontard verband. Mit viel Einfühlungsvermögen nähert sich Kalász der „lichtlosen“ Turmzimmer-Existenz Hölderlins bei der Tübinger Schreinerfamilie Zimmer und tastet alle Zeichen des allmählichen physischen und psychischen Verfalls eines „einstürzenden Lebens“ ab. Auch über das politische Umfeld Hölderlins sowie über seine „Jakobiner“-Vergangenheit, seinen Dichter- und Freundeskreis (Schlegel, Tieck, Brentano, Sinclair, Uhland), die „Zeitgeister“ in Jena: Görres, „der alte“ Goethe, Heine; die blinde „Weltberühmtheit“ Dulon u.a. gibt er eine umfassende Auskunft. An die Seite des zum Schweigen gebrachten Hölderlin stellt Kalász in einzelnen Gedichten andere Gestalten, die die Welt verändern wollten (Revolutionäre wie „der Mann aus Klein-Asien“, Luther, Spinoza, Sinclair, Einstein und schließlich, in „Notiz in der Spiegelgasse“, Lenin) und die dafür mit dem Leben, Gefängnis oder Exil zahlen mussten.
Den versöhnten Zusammenhang von Innen- und Außenwelt des Menschen, gestiftet durch die „göttliche Natur“ – Hölderlins Desiderat – können diese Gedichte verständlicherweise nicht vermitteln. Sie spenden keinen Trost, bestenfalls Trotz. Es klingt daher prophetisch (ohne das Klischee vom prophetischen Dichter Hölderlin zu bemühen), wenn im abschließenden Gedicht behauptet wird, dass „eines Tages werfen die Turm-Gedichte / einen härteren Schatten als der Turm auf die schweigende Welt“.
Julia und Robert Schiff, Nachwort
Der ungarische Lyriker Márton Kalász hat sich jahrelang intensiv mit Hölderlins Werk beschäftigt. Ergebnis ist der vorliegende Zyklus Dunkle Wunde. Kalász spricht hier gleichsam mit der Stimme des kranken Hölderlin, aus seinem Kopf heraus, in der geheimnisvollen Sprache seiner späten Hymnen, metaphernreich, in verqueren älteren Wendungen. Diese Gedichte verschließen sich dem flüchtigen Leser, sie verlangen Einfühlung und eine bestimmte begriffliche Anstrengung. Evoziert werden die Familie, die Freunde, das politische Umfeld der Weltveränderer, eine zersplitterte Turmzimmer-Existenz. Es geht um Verbannung, Haß, Liebe, Einsamkeit, vor allem um Ängste.
Márton Kalász wird im Fernsehsender Újbuda vorgestellt.
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