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Ich bitte dich, sieh doch,
sie verhüllen die Sonne.
Ist dir klar, warum sie sich
sogar die Wolken aneignen wollen.
Ich bitte dich, sag doch,
warum hast du vor mir
all den Schmerz verborgen,
deinen, den alltäglichen…
Ich bitte dich, sieh doch,
sogar die Sonne tragen sie weg
Die Lyrik der slowenischen Dichterin Maruša Krese ist liedhaft. Sie spricht von Mutterschaft und Krieg, von Alltag und Vergeblichkeit, von Heimatverlust und Kindern. Sie kennt den Litaneienton und das Lamento, trockenen Humor und weise Gelassenheit. Sie singt, auch wenn sie weint, sie verwandelt Not in murmelnden Klang.
Als hörten wir uralte Weisen, die sich als heutig-frisch entpuppen.
Maruša Krese debütierte 1989 mit dem Gedichtband Heute (deutsch Gestern, Heute, Morgen, 1992), da lebte sie mit ihren zwei Kindern schon in Deutschland. Nach Stationen in London und San Francisco, nach Reisen bis Australien und China. Eine Weltbürgerin, die es im kleinen Slowenien nicht hielt, es sei denn mit Ausblick aufs Meer. Doch das Weggehen hat seinen Preis; davon erzählt Kreses zweiter Gedichtband, Bahnhöfe (1992), der Orte und Nicht-Orte vermisst sowie die Unruhe eines Minus-Lebens. Bis Sarajevo, die geschundene Stadt zum Bezugspunkt wird. Wort heißt der lakonische Titel des dritten Gedichtbandes, der (noch vor der slowenischen Originalausgabe) 1994 in serbokroatischer Übersetzung in Sarajevo selbst erschien: Hommage und poetische Solidaritätsbekundung, Identitätssuche im Zentrum der Versehrtheit. Maruša Krese ist während des Bosnienkrieges regelmäßig nach Sarajevo gefahren, um Spenden zu überbringen. Für ihre selbstlose Hilfe und Tapferkeit wurde ihr 1997 das Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland verliehen. Aus der Erfahrung mit dem Krieg ist nicht zuletzt ihr beeindruckendes Feature Von der Bora verweht. Ljubljana-Beograd-Sarajevo (1998) entstanden, das verschiedenen Stimmen Raum gibt und zum dokumentarischen Zeugnis geriet. Dennoch überzeugt Krese am stärksten dort, wo sie ihrer lyrischen Subjektivität vertraut, wo kein kollektives Leid durch das Sprachrohr des Dichter-Ichs spricht.
Auch im vorliegenden Band ist der Krieg präsent, wobei Sarajevo – zur Kulisse abgedrängt – als Metapher für jegliche Zerstörung steht. Selbst nach Ende des Kriegs setzt sich dieser fort: in den Köpfen, in den Herzen, in zwischenmenschlichem Zwist. Aus heldenhaftem Widerstand ist normaler Wahnsinn geworden. Und die Toten – sie kommen nicht zur Ruhe.
Unter jedem Bild in dieser Stadt breche ich zusammen,
vor jedem Streich des Lebens breche ich zusammen,
vor den eiligen Gräbern breche ich zusammen,
vor dem brennenden Fluss, der eingestürzten Brücke,
dem verschneiten Berg,
vor jedem Verlassen der Stadt,
die buchstäblich verschwindet (…)
Vor meiner Ruhe breche ich zusammen,
die der Tod gebracht hat,
der richtige, der böse, der fremde,
der hässliche,
den sich keiner von uns ausgesucht hat.
Meine Kinder, lieber schreibe ich kein Testament.
Durch die 54 Gedichte zieht sich das insistente Thema von Suche und Enttäuschung, von Verlust und Einsamkeit, von Schmerz und Vergeblichkeit, von Wut und „verfluchten Illusionen“, von Kälte und der „Schizophrenie dieser Welt“. Das lyrische Ich träumt, hadert, hofft, klagt und verzweifelt, lässt seinen Emotionen freien Lauf, in litaneienhaftem Singsang, doch ohne weinerliches Pathos, unaufdringlich und schlicht wie in diesen Zeilen:
Schlafen möchte ich, schlafen,
bis ich mich ausgeweint habe,
bis ich das Leben genug verflucht,
mich genug gequält habe mit dem Unglück, von dem alle behaupten,
es sei Glück.
Schlafen möchte ich, schlafen,
bis mir jemand wieder Gute Nacht wünscht.
Maruša Kreses Gedichte machen auf ergreifende Weise sinnfällig, wie sehr Leben Wanderschaft ist: zwischen Zigeunern und „zahnlosen Männern“, zwischen Ruinen und Meeren, zwischen eingeengten Begriffen („local, no local“) und Lügen aller Art, zwischen einer fernen Kindheit und einer Gegenwart ohne Lichtblick.
Das Leben ist,
ich weiß nicht,
wie ich es sagen soll,
ein langweiliges alltägliches Unrecht geworden.
So ein kleines.
Das Leben ist,
wie soll ich sagen,
eine unaufhörliche Strafe Gottes geworden.
So eine kleine.
Indes: Es gibt kein kleines Leben im großen, das kleine ist das einzige. Ein Leben als Suche nach „warmen Schuhen, Strümpfen, nach Wasser, Brot, Gas, guten Seelen und kleinen Schüsseln“. In einem solchen Leben, in dem es scheint, „als wäre alles vergebens gewesen, heißt Glück vielleicht eine Handvoll heiße Maroni“.
Eine Zaubervokabel. Von ihr geht Wärme aus, Trost; jenes Einverständnis, welches das lyrische Ich sonst nur beim Anblick der schlafenden Kinder empfindet. Denn die Kinder in ihrer Unschuld sind die einzigen Garanten eines ursprünglichen Sinns. Unhinterfragbar das Glück, sie geboren zu haben.
Es gibt sie also doch, die heile Welt: in der eigenen Kindheit und auf den Gesichtern der Kinder. Nur hat sich Erinnerung in Schmerz verwandelt und das Geschick der Kinder ist fragil.
Maruša Krese ist eine Dichterin des Prekären: Sie schreibt der Gefährdung entlang, dem unmerklich-unaufhaltsamen Gang der Zeit, die zersetzt und transformiert. „Wir kehren zurück, zurück. / Nur wohin, warum, wie“, heißt das lakonische Fazit, das jede Erklärung des Vorgefallenen ausspart. Dinge ereignen sich ohne unser Zutun, wir sagen gut und meinen unsere Ohnmacht. Wir sind Narren, zum Hoffen geboren, zum Scheitern verdammt. Unser Wahnsinn weint und lacht.
Maruša Kreses literarisches Ich changiert zwischen Mutter und Klageweib, zwischen Seherin und Närrin, streift die Tragik, indem es das ironische Understatement nicht umgeht. Spiel? Nein, höchste Authentizität. Oder mit den Worten Marina Zwetajewas:
Das, was für euch ‚Spiel‘ ist, ist für uns der einzige Ernst. Ernsthafter werden wir auch beim Sterben nicht sein.
Ilma Rakusa, Nachwort
– als zweisprachige Originalausgabe in der Edition Korrespondenzen vorgelegt – erzählt in stimmigen Bildern vom Ungeheuerlichen, ohne es reduzierend zu benennen. Es sind poetische Stenogramme von einem posttraumatischen Leben, durch die bei allem Schmerz und Verzweiflung auch die errungene Fähigkeit zum Glück sanft hindurchblitzt. Selbst das Testament ging verloren ist ein Abschied der slowenischen Lyrikerin von einem einst weiten Land. Es war einmal auf dem Balkan…
Edition Korrespondenzen, Ankündigung
„Jedes Wort bringt Unglück / Jedes Wort kommt als ein Geschenk daher“, heißt es in Selbst das Testament ging verloren, ihrem jüngsten Gedichtband. Maruša Krese ist eine Frau der Stille. Bei Abendeinladungen im Kreis von Kollegen spricht sie kaum ein Wort. Sie schweigt ein durchaus freundliches, sehr waches Schweigen. Die Sprache der anderen ist tatsächlich oft nicht ihre. „Wir sprechen eine andere Sprache, du kennst sie nicht“, schrieb man ihr 1991 aus Ljubljana. Damals lebte die slowenische Lyrikerin seit einem Jahr in Berlin. In Slowenien ist ihre kritische Stimme noch heute unerwünscht, in Berlin produziert sie Features für den Rundfunk. Und denkt an Rückkehr nach Slowenien, ans Meer vor allem, das als Sehnsuchtsbild in ihren Texten wiederkehrt. Für einige Monate im Jahr. Mehr wohl kaum. Denn die Sprache Sloweniens ist noch immer nicht die ihre. Also schweigt sie. Und das Wesentliche steht ohnehin in ihren Gedichten.
Cornelia Niedermeier, Der Standard
im Bosnienkrieg, das ihr 1997 das Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland eintrug, umkreist Krese auch lyrisch die Themen Krieg, Zerstörung, Wahnsinn, als deren Chiffre Sarajewo erscheint. Ihr jüngster Zyklus, Selbst das Testament ging verloren, besteht aus 54 Gedichten unterschiedlicher Länge und liest sich wie ein verhaltener Klagegesang. Mit liedhafter Rhythmik spricht das lyrische Ich von Suche und Enttäuschung, von Verlust und Einsamkeit, von Schmerz und Vergeblichkeit. Ganz unsentimental artikuliert es Leid und Wut angesichts der „Schizophrenie dieser Welt“. […] Wie subtil Poesie Welt einzufangen vermag, indem sie auf dem subjektiven Ausdruck beharrt, das beweisen – in stimmiger Übersetzung – die Gedichte von Mila Haugová, Petr Borkovec und Maruša Krese, die ohne einen einzigen schrillen Ton auskommen. Lakonisch entlarven sie den zwischenmenschlichen Dissens, die Gleichgültigkeit der Dinge, die Brüchigkeit der Sprache – und vermeiden jedes falsche Glücksversprechen. Auf die Dichter wäre in schwierigen Zeiten zu hören. Auf solche Dichter.
Ilma Rakusa, Neue Zürcher Zeitung, 1.11.2001
Wie viele kriegerische Auseinandersetzungen hat es seit dem Zerfall Jugoslawiens in den letzten Jahren gegeben? Im Kopf hat man die Bilder von Toten, Internierten, Flüchtenden, brennenden Häusern. Zu viele Bilder vielleicht. Eine Frau, dreifache Mutter, sprachmächtig, versucht seit Jahren, dem Elend dieser Kriege Sprachgestalt zu geben. Maruša Krese, 1947 in Ljubljana geboren, begann 1989 mit dem Schreiben von Gedichten. Auf den ersten Band, Heute, folgte das Buch Bahnhöfe, in dem sie vom Fortgehen aus der geschundenen Heimat sprach: mit ihren Kindern suchte sie Zuflucht in Deutschland, in London, in San Francisco; sie reiste bis Australien und China. Als Zuhause blieb ihr nur die Muttersprache, das Slowenische. Treffend nannte sie ihren dritten Lyrikband Wort.
Das neueste Buch der Dichterin trägt den Titel Selbst das Testament ging verloren: 54 Gedichte, zweisprachig gedruckt, ins Deutsche übertragen von Klaus Detlef Olof. Die Bilder des Krieges, die allabendlich in den Nachrichtensendungen vorüberflimmerten, riefen ungläubiges Staunen hervor, dass solche Grausamkeiten im heutigen Europa noch möglich sind (Europa müsste doch aus der Geschichte gelernt haben). In den Gedichten von Maruša Krese dringen die Schrecknisse in die Tiefe:
Das Leben ist,
ich weiß nicht, wie ich sagen soll,
ein langweiliges alltägliches Unrecht geworden.
So ein kleines.
Das Leben ist,
wie soll ich sagen,
eine unaufhörliche Strafe Gottes geworden.
So eine kleine.
In den Gedichten geht es um „Suche und Enttäuschung, Verlust und Einsamkeit, Schmerz und Vergeblichkeit, Wut und die verfluchten Illusionen“, schreibt die Slawistin Ilma Rakusa im Nachwort zu dem Buch.
Auf das magische Wort wartete ich, das einfache, das Wort nimmt die Last der Welt, das dir das Leben zuflüstert, das dir die Wahrheit entrückt.
Wohin geht das Leid eines Menschen, der nicht mehr friedlich schlafen kann? In sein Unterbewusstes, in seine Seele. Von dort holt es Maruša Krese zurück in die Sprache, um nicht wahnsinnig zu werden:
Ich komme zurück und warte, dass doch einer etwas sagt. Einfach so aus dem Herzen.
Hier klingt eine Stimme wie in einem Lied. Maruša Krese flüchtet in ihren Gedichten ein zweites Mal: nicht die konkrete Situation auf dem Balkan schildert sie. Ihre Gedichte sprechen von dem Innenraum des Menschen, den die Angst verdunkelt:
Schlafen möchte ich, schlafen,
bis ich mich ausgeweint habe,
bis ich das Leben genug verflucht,
mich genug gequält habe mit dem Unglück,
von dem alle behaupten,
es sei Glück.
Schlafen möchte ich, schlafen,
bis mir jemand Gute Nacht wünscht.
Diese Frau, die alles verloren hat, sagt in einem Gedicht: „Ich bin stärker als der Krieg, als die Männer, die die Leben zerbrochen haben, als alle blutigen Leichname in dieser Stadt, als alle Verzweiflung und leere Hoffnung, als Hunger und Angst, als der Verlust der Wörter und die arroganten fremden Soldaten, als das verschmutzte Meer und die gesunkenen Schiffe.“ Kraft gibt ihr die Aufgabe, für ihre Kinder da zu sein. Von dem Mann, der sie gezeugt hat, ist nicht die Rede:
Ich schaue ihnen zu, wie sie schlafen.
Meine Kinder.
Ich schaue ihnen zu,
um Kraft zu schöpfen.
Ich schaue ihnen zu
und frage mich,
wie könnte ich sie jemals verlassen.
Ich sehe diese ruhenden Gesichter,
wische weg die Bilder aus der Stadt,
die Gott nicht mehr mag.
Auch ich nicht.
Ich sehe diese stillen Gesichter
und schließe die Augen vor dem Leben,
das mich versetzt hat,
statt mir Verstand zu schenken.
Noch einmal sehe ich in die Gesichter,
die ich im Glück geboren habe,
und schließe die Augen.
Lass, Gott, lass es für immer sein,
hier ist es alt geworden,
hier zwischen den Häusern ohne Dach.
Diese Gedichte, entstanden aus klar benennbarer Not, sind längst über den politischen Anlass hinausgewachsen. Anders als Fernsehbilder, lassen sie nicht kalt.
Sylvia Patsch, Vorarlberger Nachrichten, Juli 2001
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