IN DER AKTUELLEN UND WAHRSCHEINLICHEN ZUKUNFT
Hier schauen wir also aufs Land: Wellen von Gräbern
aaaaaund Korn.
Dies leichte Beben? Ein Haus, das sich setzt. Eine
aaaaagrausame Vergangenheit zieht hindurch.
Und da drüben das brennende Schiffsdeck. Der
aaaaapolitische Apparat.
Das Seelenlose zum Leben erweckt. Das übliche Fahnenschwenken.
Kormorane auf Steildächern beobachten, wie das Staatsschiff zweimal gedreht wird.
So viele geistreiche schöne Dinge tot. Diese Turbulenz. Dieser
Nahe Eins-zwei-Marsch durch eine Landschaft von Menschenhand.
Dunkles Relativieren vor der Brillanz des letzten Aktes
Einer inszenierten Produktion. Das Ensemble verbeugt sich. Ein Kassetten-
Rekorder klick, klick, klickt. Eine Art Uhr. Eine Maßeinheit.
Wir wünschen uns aufs Boot zurück. Wünschen uns die Antwort
Auf die Frage: Wann sollen wir das Theater
Verlassen und hinaus in die Nacht? Wann sollen wir akzeptieren, dass Leben nur
Eine übertriebene Art besonderen Flehens ist, romantisiert
Jenseits des Sagbaren in Mond, Stein, Schwarm und Bäume.
Was würdest du aus diesem Bild entfernen? Das Land, das sich
Bis in prähistorische Zeit erstreckt? Zehntausende Inseln? Eiskappen und dergleichen?
Die Atmosphäre? Den menschlichen Körper? Alles davon?
Alles bis auf letzteren? Du behieltest den Menschen als Bestandteil der Mischung,
Würdest aber seinen entschlossenen Zerstörungswillen entfernen? Na, viel Glück.
Was bedeutet es, einen Standpunkt zu haben? Was bedeutet es,
Bemerkenswertes erreicht zu haben? Erfolgreich zu sein bei der Darstellung
Der Nuancen eines fest stehenden Vorgangs?
Hör zu: was immer dabei herauskommt, wenn wir wollen, können wir
Die Idee „Mond“ auch weiterhin als kraftvolle Dichtung betrachten, als Vision von
John Keats und seinen Kameraden, die Schlacht aber steht noch bevor.
Wie viele Tage wird es noch geben? Die Unaufmerksamen werden eifrig
An Magie glauben: Kornkreise, das nicht manipulierte Bild, Definitionen,
Die sich den Definitionen entziehen. Andere werden die weniger günstigen Folgen
Von Zynismus wie Kommerzialisierung für bare Münze nehmen.
Letztere wird darauf bestehen, dass der Schwarm eine bloße Ansammlung ist.
Eine überwältigende Präsenz, die auf das Gebäude hinunterschaut, wo jemand sitzt
Und Erdrutschraten vorhersagt. Lange, nachdem wir abgetreten sind,
Können wir sagen, wir waren hier. Wissentlich oder nicht,
Wir arbeiteten auf die finale Erosion von Orten hin, die geschleift
Und umkämpft wurden, vor allem im wörtlichen Sinn–Ausbeutung
Und industrielle Zerstörung. Nichts ist verloren. Eher gewinnen wir sogar
Erfahrung. Diesen unbefleckten Augenblick, es wird ihn geben, bis in alle
Einzelheiten, wenn das erkaufte Interview und andere urige Zeichen des Niedergangs
Unsere Geschichte der Flut und dem Feuer erzählen.
sind gekennzeichnet durch den verspielten Umgang mit hochkomplexen Fragen über Wahrnehmung und Perspektive einerseits und die Frage nach der Beschaffenheit von Medien und deren Spiegelungen im menschlichen Geist andererseits. Die Kritik feiert Bang, die erst spät zur Lyrik fand, hymnisch.
Die American Book Review beschreibt ihre Metaphorik als „voll von wunderschönen, komplexen Gedanken“, Publisher’s Weekly betont die „Spannung zwischen der Klarheit der Form und dem vagen, unabgeschlossenen Oszillieren der Emotionen“. Der Band mit ausgewählten Gedichten aus allen veröffentlichen Bänden Bangs ist illustriert vom US-amerikanischen Comic-Künstler Matt Kindt. Die Übersetzung und Auswahl wurde in enger Zusammenarbeit zwischen der Übersetzerin Barbara Thimm und der Autorin vorgenommen.
luxbooks, Klappentext, 2010
– In einer zweisprachigen Ausgabe zu entdecken ist die amerikanische Lyrikerin Mary Jo Bang. –
Erst vor kurzem war Alice wieder in aller Munde. Tim Burton hatte einen 3-D-Fantasy-Film über das Mädchen gedreht, das in ein Kaninchenloch fällt und später im Wunderland auf so merkwürdige Gestalten wie den Märzhasen und den verrückten Hutmacher trifft. Die 1946 in Waynesville, Missouri, geborene Dichterin Mary Jo Bang hat ein Gedicht über Alice geschrieben; das Fantastische wird darin dem rationalen Denken gegenübergestellt, „das mit einer Axt an die Tür des Waldes schlägt“.
In ihrem Arm hält Alice einen schwarz-weißen Panda, der natürlich ausgestopft ist, denn „wer würde sich schon trauen, einen echten Bären so dicht am Ohr zu halten?“ Allerdings beschwört das Gedicht allein dadurch, dass es diese Frage stellt, ein Bild des Mädchen mit dem Panda im Arm herauf – und der Abstand zwischen Möglichkeit und Realität schmilzt zusammen.
Was hier ausgelotet wird, ist der Raum, der dem Möglichkeitssinn gehört. Mary Jo Bang verfolgt ein Konzept der Distanz, sie erfindet ständig neue Rollen und Figuren, spannt in ihren Gedichten Assoziationsbögen, die von Alice über Freud und Plato bis zur Popikone Cher reichen:
Kulturminiatur und gekleidet wie Kleopatra steigt sie
Eine Treppe halbrunder Stufen hinab…
Manches wird, wie im Comic-Strip, auch bewusst überzeichnet.
Die zauberhafte Ausstattung der deutschen Ausgabe von Mary Jo Bangs Gedichten mit dem Titel Eskapaden ist alles andere als zufällig. Das von dem amerikanischen Comic-Künstler Matt Kindt illustrierte Buch trifft einen anderen Nerv von Mary Jo Bangs weit gefächertem medialen Interesse. „The Graphic Novel and the Cultural Moment“ heißt ein Kurs, den sie an der Universität von St. Louis, Missouri, betreut. Von unterschiedlichen Standpunkten aus betrachten Dozentin und Studenten dabei diese gezeichneten Geschichten und lernen so einiges über Blickwinkel, Plot, zeitlichen Verlauf der Handlung und das Verhältnis zwischen Leser beziehungsweise Betrachter auf der einen und Zeichnung und Text auf der anderen Seite.
Das Sehen, das Licht und die Wahrnehmung spielen in Mary Jo Bangs Gedichten eine große Rolle, was damit zu tun haben mag, dass die Dichterin neben einem Studium der Soziologie und einigen Jahren als Hilfsärztin in London auch Fotografie studiert hat. In ihren jüngsten Gedichtbänden nimmt Jo Bang häufig Bezug auf Arbeiten der Bildenden Kunst, von Jasper Johns oder der portugiesischen Künstlerin Paula Rego.
Der deutsche Künstler Sigmar Polke, in dessen Bildern das erzählerische Moment ja deutlich hervortritt, hat sie stark beeindruckt. Ihr 2007 in der Greywolf Press erschienenes Buch Elegy hat Mary Jo Bang Michael Donner Van Hook gewidmet, ihrem Sohn, der 2004 an einer Überdosis Tabletten starb. Diese Gedichte, in denen sie eine Sprache zu finden versucht für diesen Verlust, sind vielleicht die bewegendsten in dieser großartigen deutschen Ausgabe ihrer Gedichte. In „Eine Sonate für vier Hände“ lesen wir über den nun für immer abwesenden Sohn:
Warum bist du nicht, wo du hingehörst?
Ein schwarzer Hut auf einem Haken sagt nichts.
Michael Braun: Eine Kapsel mit Asche
signaturen-magazin.de
Mary Jo Bang – Das Leben einer Dichterin.
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