– Zu Georg Trakls Gedicht „Die Sonnenblumen“ aus Georg Trakl: Dichtungen und Briefe. –
GEORG TRAKL
Die Sonnenblumen
Ihr goldenen Sonnenblumen,
Innig zum Sterben geneigt,
Ihr demutsvollen Schwestern
In solcher Stille
Endet Helians Jahr
Gebirgiger Kühle.
Da erbleicht von Küssen
Die trunkne Stirn ihm
Inmitten jener goldenen
Blumen der Schwermut
Bestimmt den Geist
Die schweigende Finsternis.
Es ist nicht bekannt, dass Georg Trakl, der nur 27 Jahre alt wurde, je eines der Sonnenblumen-Bilder von Vincent van Gogh gesehen hätte – einem Künstler jenseits bürgerlicher Ordnungen, dem er sich in vieler Hinsicht verwandt gefühlt haben könnte. Auch bei diesem Gedicht handelt es sich um ein Stillleben, das als nature morte zugleich von einer leidenschaftlichen existentiellen Dramatik bewegt wird: Es gibt keine Grenze zwischen Pflanze und Mensch, zwischen den hochgewachsenen Blumen und ihrem Betrachter, ihr stummes Dasein berührt ihn als innere Gemeinsamkeit, als geschwisterliche Nähe zum Tod. Zweimal wird in dem kurzen Text die goldene Farbe angesprochen – ein intensiver Akzent, geradezu die Übersetzung der Blumen in die dichterische Vision. Mit „Helians Jahr“ beruft der für seine oftmals schwer zugänglichen Chiffren bekannte Dichter eine seiner gehaltvollsten Gestalten. Die große „Helian“-Dichtung, die Beschwörung einer dem Untergang geweihten Geistnatur, hat Trakl so viel bedeutet, dass er sie ans Ende seiner 1913 erschienenen Gedichtsammlung stellte. Indem das Sterben der Blumen hier mit dem Ende von Helians Jahr „gebirgiger Kühle“ vermittelt wird, treten Natur und Empfindung, Äußeres und Inneres in eine poetische, nicht mehr real ausweisbare Konstellation. Man hat diese oftmals surreale Durchdringung unterschiedlicher Welten bald auf Trakls Drogenexperimente und auf Träume zurückzuführen versucht, bald auf klangmagische Wirkungen. Letztlich spricht das Gedicht, das der Dichter nicht veröffentlicht hat, jedoch von einer Solidarität des Kreatürlichen, angesichts der Sonnenblumen kommt Menschliches zum Vorschein: Es ist von Küssen, einer trunkenen Stirn und dem Geist die Rede. Das Menschliche der Demut, der Schwermut und des Geistes zeigt sich „inmitten“ der zweiten Strophe, „inmitten jener goldenen / Blumen der Schwermut“. Ein Geist der Dunkelheit und des Schweigens – hier blüht eine im Untergang faszinierende Landschaft, die in ihrer Stille von einer besonderen Innigkeit ist.
Doch sollte man das Gedicht nicht bloß als Monolog eines Einzelgängers lesen, es evoziert außer dem Helian-Komplex zwei weitere Außenseiter des bürgerlichen Lebens: Charles Baudelaire und seine Blumen des Bösen wie auch Hölderlin, eine der anderen großen Trakl-Lektüren. Sein Gedicht „Hälfte des Lebens“, zwei siebenzeilige Strophen, klingt in der Anrufung des ersten Verses an – bei Hölderlin in der Mitte der ersten Strophe: „Ihr holden Schwäne“ –, ebenso im Beginn der zweiten Strophe jenes „Und trunken von Küssen“. Das Gedicht Trakls erscheint somit auch als Anteilnahme an einer großen Tradition, an einem Dialog, der zugleich der „schweigenden Finsternis“ antwortet. Was also monologisch, ja hermetisch verschlossen erscheint, verdankt sich mehr einer Solidarität des unglücklichen Bewusstseins, letztlich einer sozialen Verantwortung: Sie hat nicht die programmatischen Züge eines Aufbruchs, Trakl hat das nietzscheanische Menschheitspathos nicht gepflegt, sondern sein Dichten wird, in der Nähe Dostojewskis, zum Asyl der „Erniedrigten und Beleidigten“, wie es zeitgleich etwa Egon Schiele festhielt, auch in Bildern von verfallenden Sonnenblumen.
Kurze Zeit nach der Entstehung dieses Gedichtes, das im Juni oder Juli 1914 geschrieben wurde, brach Trakl in den Weltkrieg auf, unter Hinterlassung einer kurzen Reflexion, die den von Trakl erfahrenen Riss, den er durch die Wirklichkeit gehen spürte, im Licht einer staunenswerten Verantwortung erscheinen ließ:
Gefühl in den Augenblicken totenähnlichen Seins: Alle Menschen sind der Liebe wert. Erwachend fühlst du die Bitternis der Welt; darin ist alle deine ungelöste Schuld; dein Gedicht eine unvollkommene Sühne.
Darin steckt auch etwas von der kritischen Weltsicht eines Karl Kraus, den Trakl verehrt hat und der über Trakl nach dessen Tod schrieb:
Es war mir immer unbegreiflich, daß er leben konnte.
Nachdem er in der Schlacht bei Grodek mit der Betreuung von neunzig Schwerverwundeten überfordert war, setzte er seinem Leben freiwillig ein Ende.
Mathias Mayer, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebenunddreißigster Band, Insel Verlag, 2014
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