Matthias Göritz: Zu Matthias Göritz’ Gedicht „Stadtplan“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Matthias Göritz’ Gedicht „Stadtplan“ aus Matthias Göritz: Loops.

 

 

 

 

MATTHIAS GÖRITZ

Stadtplan

Die Namen bedeuten mir nichts
State Street, Clark Street, Belmont
Die Illusion ist kein sicherer Rückhalt

Da geht es nach links
Da geht es nach rechts
von Westen nach Osten

Da ist der See –

Aber vom Schweiß steht da nichts
und vom Licht, das nachts mit seinen Schneidezähnen
in die Straßen herabfährt

mit dem leichten und leeren Geräusch
Hier, glaubst du, kommt die Übermacht ganz von selbst
Ich stehe am Fenster und schwitze mein Ich aus

Rette sich, wer will

 

Stadtplan

oder

Truhen für die Schätze der Welt

 

Stadtplan für Chicago

 

Anfänge, zumal die von Gedichten, sind schwer zu rekonstruieren.
Vielleicht war es wirklich ein Stadtplan:

Pläne sind Versuche, Ordnung zu schaffen, indem man eine Ideallinie auf das Papier zieht und somit die Stadt aus ihrer Dreidimensionalität, mag sie nun wild gewachsen oder am Reißbrett der Architekten und Stadtplaner entstanden sein, in Flächigkeit übersetzt.
Auch Landkarten und Stadtpläne sind Übersetzungen, Porträtzeichnungen von der Welt mit dem einfachsten Mittel: dem Stift oder dem Pinsel auf der Tontafel, dem Papyrus, dem Holzstück, dem Papier. Die ältesten erhaltenen Karten stammen aus babylonischer Zeit, sind zugleich Anweisungen, Navigations- und Orientierungshilfen. Sie können die Welt nicht ersetzen, sie auch nicht erklären. Aber sie können sie mit ein paar Strichen, ein paar Sätzen in der Phantasie hervorzaubern und uns, ihren Lesern, eine Richtung vorgeben. Der Schriftsteller Louis Stevenson, der Autor des Romans Die Schatzinsel, in welchem die alte Karte des Seeräubers Flint die Protagonisten aus der alten Schenke, dem ,Admiral Benbow‘ in England, bis auf eine geheimnisvolle Südseeinsel treibt, schreibt, daß er alle diejenigen nicht verstehen kann, die jene Schönheit und Lust auf Abenteuer, die eine Karte ausstrahlt und in das Gehirn ihrer Betrachter einpflanzt, übersehen oder geringschätzen.

Seit etwa fünfhunderttausend Jahren existieren Menschen auf der Erde, seit ungefähr fünftausend Jahren leben sie auch in Städten. Der Schritt aus der Höhle war nicht der in die Welt der letzten Dinge, sondern in einen Lebensraum, dessen Muster ein anderes Zeichensystem darstellt, eines, das Auskunft gibt über die Lebensverhältnisse, die es ordnet, die sich in ihm spiegeln. Dieser Schritt in die Schrift verlangt Entzifferungsarbeit. Man muß die Stadt lesen, ihre verschiedenen Episoden, Titel, Anfänge. Denn die Stadt ähnelt weit mehr einem unordentlichen Antiquariat als einem aufgeschlagenen Buch.

Stadtpläne – die in der Regel älter sind und langsamer veralten als Reiseführer – gibt es wohl, seit es Städte gibt. Die ältesten stammen aus Mesopotamien, dem Zweistromland, und sind auf sumerischen Tafeln erhalten, wie etwa auf der Tontafel mit dem Plan der Stadt Nippur (um 1500 vor Christus).
In den stetig anwachsenden Ballungszentren, den Städten, findet ein ewiger Kampf zwischen Ordnung (Plan) und Unordnung (Gelände, Umgebung, Wachstum, Zuzug) statt.
Die moderne amerikanische Stadt ist dabei mit ihrer schachbrettartigen, rechtwinkligen, durchnummerierten Anlage von Beginn an ein Versuch der Kolonialisierung des Paradieses. Diese begann in Manhattan 1811 nach dem Muster altrömischer Militärlager und läßt sich bis heute als architektonische Fassung des amerikanischen Traums – sich selbst einen Grund in der Menschheitsgeschichte zu geben – in den Städten Chicago, Philadelphia, Los Angeles und New York anschaulich nachvollziehen.

Viele meiner Gedichte sind ,Stadtgedichte‘ und führen in einer ersten Lesart in Spaziergängen, Bus- und Taxifahrten durch die Stadt. „Stadtplan“, zum Beispiel, leitet eine Serie von Gedichten über Chicago ein. Immer wieder geht es um Bewegung. Die konkrete Bewegung durch das zufällige Nebeneinander verschiedener Orte, Menschen und aufgeschnappter Sätze erzeugt im Gedicht einen Raum, dessen Ordnung diese scheinbaren Alltäglichkeiten übersteigt – das Gedicht wird im Idealfall – zu einer betretbaren Landschaft. Der Dichter als Reiseunternehmer – sein eigener bester Kunde – muß daran interessiert sein, wie ein solcher Raum zustande kommt. Und was er bedeutet. Stadtpläne sprechen als Schöpfungsmythen des Industrie- und, als frühvernetzte Zonen, auch des Computer- und Biokybernetischen Zeitalters, von einer prinzipiell les- und planbaren Welt.
Auch Stadtgedichte sind Übersetzungen. Übersetzungen des komplexen, bunten, lebendigen Durcheinanders, Übertragungen eines Rhythmus, eines Beatschlags, Übersetzungen aus dem Gesehenen, Geschehenen, Geschmeckten, aus der Welt in die Schrift. Ihnen bleibt es vorbehalten, neben den Schöpfungen auch von der Erschöpfung zu berichten, dem Verfall des eigenen Leibs und des eigenen Blicks im Stadtkörper, der metaphorischen Verschweißung mit dem, was auch noch da ist: dem Licht, jenem Aufklärungs- und Beleuchtungselement, das einem merkwürdigerweise oft einen Augenblick lang jedes Genesisgelände zu zerknabbern scheint. Denn bloß eine Erfahrung ist in der Stadt nicht zu machen – es sind viele.

Mit der unruhigen, überscharfen Aufmerksamkeit eines Schlaflosen nimmt man die Stadt als eine dauernde Ablenkung wahr. Dauernd passiert etwas – und der Dichter ist für all dies Geschehen ein unaufhörlicher Chronist. Insofern besteht für mich das Material des Gedichts nicht nur aus den Geräuschen, sondern auch aus dem Schweigen, dem tatsächlichen Anschauen von etwas, dem Rhythmus des Erlebens, ohne daß es das Erlebte wäre, wovon im Gedicht ausschließlich die Rede ist. Aber um Leben geht es. Um Lebendigkeit, eine Ordnung auf anderer Ebene.

Bei meiner ersten Reise nach Amerika fiel mir etwas auf, was ich heute, im zeitlichen Rückblick, als Mythenreste bezeichnen würde: Die Fassaden der Herrenhäuser am East River, von denen Alexis de Tocqueville gleich nach seiner Ankunft in der Neuen Welt 1830 schrieb, daß sie verkleinerten griechischen oder römischen Tempeln glichen. Auch Philadelphia nimmt, wie praktisch heute noch jeder amerikanische Universitätscampus, für sich in Anspruch, nach dem Muster Athens gebaut worden zu sein.
Beim Gehen fand ich in einem Möbelgeschäft ein Sofa mit dem Namen „Helena 2“. Diese banalen Überbleibsel aus der griechischen Mythologie führen in meine Kindheit zu den Erzählungen meines Vaters von der Ilias. Sie führen auch, anders, zu einem afroamerikanischen Beautyshop mit Namen Aphrodite. Mit diesen gefundenen Versatzstücken, den ,already-mades‘, begannen sich Verbindungen zwischen verschiedenen Zeiten und Orten herzustellen – für einen Augenblick schien das ganze Nebeneinander der Stadt ein Gedicht.

„Das Unendliche tritt aus dem Glückszufall hervor, den du geleugnet hast“, zitiert der amerikanische Dichter Charles Simic in seinem brillanten Essay „Medici Groschengrab“ einen Satz von Mallarmé. Es ist ein Essay über den Künstler Joseph Cornell, seinen engsten poetischen Verwandten, einen virtuosen Zauberer der Kindheit, der auf seinen Spaziergängen durch New York, ausgehend vom Utopia Parkway in Queens, Trödel, Objekte und Krimskrams sammelt und zu Hause ein riesiges Archiv aus Zufälligkeiten anlegt, das er dann in seine geheimnisvolle Kunst, in Kästen einbaut, die zumeist den Zauber einer Alice-im-Wunderland-Landschaft verbreiten.
Genau wie Cornell sucht jemand, der schreibt, den Moment, in dem der Zufall der Notwendigkeit begegnet. Oder, wie Simic über die Kästen Cornells und ihre geheimnisvoll offene Magie sagt:

Irgendwo in der Stadt New York gibt es vier oder fünf Objekte, die zusammengehören. Einmal zusammen, sind sie ein Kunstwerk. Das ist Cornells Prämisse, seine Metaphysik.

Es ist eine poetische Prämisse des Aufspürens: So wird die Stadt „der Ort, wo die unwahrscheinlichsten Gegensätze zusammenkommen, der Ort, wo unsere getrennten Intuitionen sogleich zusammenfinden“.

Foto Ohne Titel (Soap Bubble Set), 1936

Ohne Titel (Soap Bubble Set), 1936

In der Lyrik führt diese Sichtweise nicht zu formal strengen Gedichten, sondern zu Versen, die Schichten berühren, die eine Art Archäologie betreiben, ein Lesen der Welt einleiten, ohne dabei Ganzheits- oder Durchschauungsansprüche zu stellen, die doch immer nur Illusion sind.
Manchmal hat man das Gefühl, daß sich alles in ein Gedicht verwandeln kann – oder genauer: man hat nach der Lektüre das Gefühl, hier könnte einem im nächsten Augenblick das Unerwartete begegnen. „Die Landschaft liegt wie in einer Musik / auf dem Tisch hocken Riesen- / Zikaden / und sehen uns an / Was müssen wir fremd sein“, heißt es in dem Gedicht „Alles ist eingefangen“, das in der Chicago-Serie dem Stadtplan zur Seite steht. Gedichte zu schreiben, die wie die Kästen Cornells sind, ist ein Traum.

 

3 Fotos von Amerika

 

Eigentlich großes Theater: Orte, die man als Flaneur durchstreift, Orte, an denen das Unmögliche auf kleinstem Raum zusammenkommt. Götter und Teufel, Himmel und Hölle, Zikaden und Tische. Man sieht in den Gesprächen von Drag Queens, die am Nebentisch sitzen, plötzlich Bilder der eleusinischen Mysterien aufblitzen.
Ein riesiger Wald von Korrespondenzen tut sich auf, ein absurder, manchmal auch ein schauriger, in all seiner Buntheit melancholischer Jahrmarkt. Gedichte werden so zu geheimen Truhen für die Schätze der Welt, Dichter zu Sammlern.
Ist Lyrik die eigentliche Essenz der Welt, wie Joseph Brodsky behauptet, dann ist sie für das Flüchtige zuständig. Für das schöne Flüchtige der Gerüche, die Geräusche des Lichts, Liebe, das ganze schöne Ephemere. Wörter haben kein Material – aber einen unbegrenzten Laderaum. Wenn man mit diesem Blick morgens durch eine Stadt wandert, dann hat man das Gefühl von Verheißung: Wohin gehen wir als nächstes? Welches Geheimnis verbirgt sich wohl hinter der nächsten Ecke? Es kann ein Schmuddelkino, ein Salvation Army Superstore, eine vollkommen normale Straße mit festgetretenen Kaugummiflecken sein. Alles ist möglich. Bereits hier betreten Sie Anfänge für ein Gedicht.

Aus Manfred Enzensperger (Hrsg.): Die Hölderlin Ameisen, DuMont, 2005

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