AN SISYPHOS
Zuerst den Stein, den musst du finden.
Dann lerne, wie man einen festen Knoten macht,
sonst gleitet deine Hand ab, greift ins Moos, und
wer sich dann blamiert, bist du. Instinkt ist das, du
weißt es ja, ein jeder hat es vor dem Ende schwer,
und es kann Fälle geben, da wird das Moos sogar
zum Rettungsring, dann stehst du da und bist klatsch-
nass und musst dich vor der halben Stadt bedanken.
Zuerst den Stein, den musst du finden.
Dann lerne, wie man Ornamente meißelt, sonst
schließen sie die Mauer rings um dich – bis an die
Knie zuerst, dann bis zum Hals – und dir bleibt nicht
einmal die Zeit zu schreien. Und bist du dann erst
betoniert, bleibt, wo du warst, nur eine Mauer stehen,
hässlich anzusehen – anstelle einer Kathedrale.
Zuerst den Stein, den musst du finden.
Dann wähl die Farben aus, eh du zum Goldschmidt gehst
und einen Ring bestellst. Woher die Steine kommen, musst
du fragen, und lass dir auch was zu den Zeiten sagen, du
weißt doch, wann du sie gefunden hast. Manche Steine
schärfen das Gehör, manche Steine machen blind – und
manche brechen das Herz, manche Steine machen Kummer
und manche rufen grundlos Träume auf…
Zuerst den Stein, den musst du finden.
Dann denk gut nach, eh du ein Kind gebierst, denn sonst –
wer weiß? mag es der Vater schlucken, wenn ihn die
Lust nach Neugeborenem überkommt. Hast du den Stein
zur Hand, gut eingewickelt, kannst du ihn wohl in seinen
Rachen stopfen, so rettest du das Kind – du hast die Chance.
Denn andernfalls, du kennst die Göttersagen, sie haben nie
auch nur das eigene Kind geschont und standen immer,
wo der Stärkere war.
Zuerst den Stein, den musst du finden.
Dann überleg dir gut, was du dir wünscht. Willst du
denn wirklich an den Ort zurück, an dem die Steine
so viel klagen?
Bela Chekurishvili
Georgien, so heißt es in der Erzählung von Guram Dotschanaschwili „Ein Mann, der die Literatur sehr liebte“, ist ein großes Land auf der Weltkarte der Poesie. Für ein Land, so groß wie Bayern, südlich des Kaukasus an der Ostküste des Schwarzen Meeres, kann die georgische Literatur auf eine lange Tradition zurückblicken. Die Verschriftlichung der georgischen Sprache und damit der Ursprung der georgischen Literatur geht auf die Bibelübersetzung und erste hagiographische Texte im 5. Jh. zurück. Georgisch ist eine agglutinierende Sprache aus der südkaukasischen Sprachfamilie, die mit keiner anderen Sprache bzw. Sprachgruppe verwandt ist. Im Georgischen werden die Wörter schwach betont, wobei die Betonung konstant bleibt. Deswegen wird die georgische Versifikation zu den syllabischen Systemen gerechnet. Dafür spricht der für syllabische Verssysteme typische starke Endreim sowie der bis zum 18. Jh. verbreitete Inreim vor den Verszäsuren. Das erste (gereimte) georgische Gedicht, die Inschrift auf der Sioni-Kirche von Ateni, wurde im 9. Jh. geschrieben. Die kirchlichen Loblieder (Hymnen) wurden im Mittelalter mit ungereimten Jamben gedichtet, einem zwölfsilbigen Vers mit einer Zäsur nach 5 bzw. 7 Silben. Bald entwickelte sich der anfänglich sporadische Reim zum festen Strukturelement der georgischen Dichtung. Die weltliche Poesie entstand im 12. Jh., als der georgische Hochmittelalterstaat unter Königin Tamar (1184–1213) seine Blüte erreichte. Tamariani, eine Sammlung der Loblieder auf die Königin vom Dichter Tschachruchadse, ist in zwanzigsilbigen Vierzeilern (5/5/5/5), mit Endreim und Inreim vor der Zäsur (aab ccb ddb eeb) geschrieben, die in der georgischen romantischen Dichtung nachleben. Als berühmtester georgischer Dichter aller Zeiten gilt Schota Rustaweli (2. Hälfte des 12. Jh.). In seinem zuweilen als Epos bezeichneten Versroman Der Recke im Tigerfell importiert er die reiche Überlieferung des persischen Ritterepos, die er mit der politischen Realität Georgiens verband, und stellt weltliche Tugenden, Liebe und Freundschaft, ins Zentrum seines Poems. Seine außerordentlich reiche Sprache, Reime und Tropen beeinflussten die georgische Dichtung nachhaltig. Er kanonisierte die Versform Schairi, einen sechzehnsilbigen Quatrain mit einem Endreim (aaaa), und bestimmte auch die poetische Gattungsordnung. Bis zum 17. Jh. war die Lyrik der prestigereicheren epischen Dichtung nachgeordnet. König Teimuraz I. (1589–1663), erster Herausforderer Rustawelis, experimentierte mit Schairi und führte neue Gattungen ein: Anbant’keba (Lob des Alphabets), eine Gedichtform, in der je nach dem Schwierigkeitsgrad jedes Wort, jeder Vers bzw. jede Strophe einen Buchstaben des Alphabets der Reihe nach thematisiert; Madschama, eine aus dem Persischen übernommene Form der Gedichtsammlung mit homonymen Paarreimen, und Gabaaseba, ein dialogisches Streitpoem mit These und Antithese.
Die Prädominanz Rustawelis hat erst Dawit Guramischwili (1705–1786) gebrochen. Als junger Mann von Lesginen in den Nordkaukasus entführt, floh er nach Russland und verstarb auf einem kleinen Landgut im heute ukrainischen Mirgorod. Dawit Guramischwili ist metrisch einer der reichsten georgischen Dichter mit 45 Versmaßen und 87 Versformen. Neben seinem Hauptwerk Dawitinai, in dem die Geschichte Georgiens mit der Autobiographie des Autors verwoben ist, bestimmen Liebe, Klage, Heimweh, Pastorale sein lyrisches Spektrum. Er bereicherte die georgische Lyrik mit russischen und ukrainischen metrischen Formen, die er für seine Gedichte einsetzte. Nach Guramischwili, der als Vorläufer des „europäischen“ Stranges der georgischen Poesie gilt, wird der georgische Vers nicht mehr nur syllabisch, sondern syllabotonisch aufgefasst (d.h. nach dem regelmäßigen Wechsel betonter und unbetonter Silben gewertet). Besiki (Besarion Gabaschwili, 1750–1791) und Sayat-Nova (1712–1801) stehen für eine entgegengesetzte Tradition. Sayat-Nova, ein Armenier aus Tiflis, war ein Ashugh, ein wandernder Dichter und Sänger, der meistens georgisch, armenisch und türkisch dichtete. Er importierte den Muchambasi, einen ursprünglich mit Instrumentalbegleitung gesungenen arabisch-persischen Fünfzeiler, dessen einheitlicher Reim der ersten Strophe in der letzten Zeile der weiteren Strophen aufgegegriffen wird (aaaaa, bbbba cccca etc.) Sein jüngerer Zeitgenosse Besiki, ein Poet der sinnlichen Liebe, war der Großmeister der Metapher und des End- und Inreims mit 22 unterschiedlichen Formen der Reimbildung. Auch er war ein großer Formexperimentator und führte neue Versmaße ein, darunter einen nach ihm benannten geschichtsträchtigen Vierzehnzeiler (5/4/5), der später in den Sonetten georgischer Symbolisten nachlebte. Auf Guramischwili und Besiki gehen die georgischen heterosyllabischen Versmaße zurück. Themen und Motive von Besiki und Sayat-Nova, insbesondere die Liebe und das Fest, stehen am Anfang der dekadenten populären Stadtkultur von Tbilissi, die bis in die 1920er Jahre andauerte.
Der Anschluss Georgiens an das Russische Reich 1801 bildet nicht nur eine politische Zäsur. Mit der georgischen Romantik nähert sich die georgische Dichtung der Bahn der europäischen Literaturgeschichte. Die Romantiker haben weniger mit Versmaßen experimentiert als ihre Vorläufer, sind im Vergleich zu ihnen ärmer an Metaphern und Reimen – ihre Innovationen waren eher inhaltlicher Art. Sie übersetzten europäische und russische Dichter ins Georgische und begannen, die europäischen Versformen und Inhalte ins Georgische zu integrieren. Während Grigol Orbeliani (1804–1881) beide Traditionen der georgischen Dichtung, die epikureische und die odische, weiterführte, ohne sie zu vermischen, war sein jung verstorbener Neffe Nikolos Barataschwili (1817–1845) der erste Metaphysiker der georgischen Literaturgeschichte. Sein Gedicht „Merani“ (zu Deutsch: schwarzes Ross), dessen Reiter dem Schicksal zum Trotz ins Verderben reitet, gilt als der Höhepunkt der georgischen romantischen Dichtung.
Ilia Tschawtschawadse (1837–1907), Jurist, Schriftsteller, Dichter und Bankier, der Anführer des georgischen Risorgimento, distanzierte sich politisch und poetisch von der Vorgängergeneration und machte seine Dichtung zu einem politischen und didaktischen Instrument. Sein Mitstreiter, der Dramatiker, Epiker und Lyriker Akaki Tsereteli (1840–1915), der beliebteste Dichter Georgiens im 19. Jh., der hervorragend alle Register der georgischen poetischen Tradition zu beherrschen wusste, zog gewissermaßen eine Bilanz der georgischen Dichtung, demokratisierte die poetische Sprache und näherte sie dem Vernakular an. Vascha-Pschawela (1861–1915), ein jüngerer Zeitgenosse von Tschawtschawadse und Tsereteli, entdeckte die Volkssprache und den Dialekt der ostgeorgischen Kaukasusprovinz Chewsureti für die georgische Hochliteratur. Er war der größte Naturdichter in der georgischen Literatur und belebte Ende des 19. Jh. die mythische Welt des Kaukasus mit integren, ungebrochenen und tragischen Heroen. Die ersten Dekaden des 20. Jhs. waren die Hochzeit der georgischen Poesie. Zu dieser Zeit eignete der symbolistische Orden tsisperi qantsebi (Blaue Hörner) sich die europäische und russische Dichtung an und initiierte die georgische literarische Moderne. In seinem poetischen Manifest „l’art poetique“ wollte Titian Tabidse (1893–1937) westliche und östliche poetische Kulturen auf dem Boden der georgischen Dichtung vereinigen. In dieser Aufgabe der Synthese hat ihn aber sein Cousin, der größte georgische Dichter des 20. Jhs., Galaktion Tabidse (1891–1959), übertroffen. Der von Baudelaire, Verlaine und Théophile Gautier beeinflusste Tabidse ist der musikalischste georgische Dichter, der mit seinen 130 metrischen Formen sogar Dawit Guramischwili übertraf. Viele zeitgenössische Dichter stehen bis heute unter seinem Einfluss. Tbilissi entwickelte sich in den 20er Jahren des 20. Jh. zum internationalen poetischen Zentrum, auch für russische und armenische Dichter. Diese Entwicklung wurde mit der bolschewistischen Eroberung Georgiens 1921 unterbrochen. In den 30er Jahren vernichtete der Stalinterror viele Avantgardekünstler. Bis in die 60er Jahre haben georgische Dichter das, was ihnen an Formexperimenten nicht mehr möglich war, durch die emotionale Note, etwa in der historischen und patriotischen Lyrik, zu kompensieren versucht. Später konnten Ana Kalandadse (1924–2008), der mehr als Prosaiker bekannte Otar Tschiladse (1933–2009), oder Lia Sturua (geb. 1939) die offiziellen Freiräume nutzen. Lia Sturua entdeckte den inneren Monolog und Bewusstseinsstrom für die georgische Dichtung und setzte sich in den 70er Jahren für den als „ungeorgisch“ erklärten vers libre ein.
Der Zusammenbruch der UdSSR hat auch die poetische Landschaft in Georgien verändert. Die durchaus heterogene Nachwende-Dichtung, zu der die Autoren dieses Bandes gehören, vereint die radikale Ablehnung der Tradition. Die Nachwendedichter brachen mit dem kulturheroischen Verständnis des Dichters und der Dichtung, das noch bis in die späte Sowjetzeit anhielt. Auch poetisch versuchen sie sich von der Tradition zu distanzieren, vermeiden den Reim und überhaupt feste Versformen. Darin hatten sie in der Sowjetzeit bestimmte Vorläufer, die signifikanter Weise entweder keinen ,,zentralen“ Status genossen oder offiziell gar nicht anerkannt waren, wie Schota Tschantladse (1928–1968) und Karlo Katscharawa (1964–1994). Kurz nach der Wende brachten die Gründer des „reaktiven Klubs“ Irakli Tscharkwiani (1961–2006) und Kote Qubaneischwili (geb. 1961) Slang und Popkultur in die Dichtung ein. Der Bruch mit der traditionellen georgischen Dichtung, die Geste der Rebellion, eine manchmal eklektisch anmutende Suche nach der neuen poetischen Sprache kann als ein gemeinsames Merkmal aller Nachwendegruppierungen der georgischen Dichtung gelten. Ein Ausdruck dessen mag auch sein, dass die zeitgenössischen georgischen Dichterinnen und Dichter sich stärker an der europäischen bzw. angelsächsischen Lyrik (T.S. Eliot, Ezra Pound, Beat Generation, Black Mountain Poets) und der russischen Dichtung (Joseph Brodsky, Dmitri Prigow, Lew Rubinstein) orientieren als an ihren unmittelbaren georgischen Vorläufern. Wie überall auf der Welt wird heutzutage Dichtung weniger gelesen als Prosa. Auch die georgischen Dichterinnen und Dichter haben mit diesem Phänomen zu kämpfen. Mögen sie in Deutschland geneigte Leser finden. Die interlinearen Übersetzungen der Gedichte hat Tengiz Khachapuridze angefertigt, im Deutschen nachgedichtet hat sie der Lyriker Norbert Hummelt.
Zaal Andronikashvili, Vorwort
Aus der Ferne bei facebook
Interview mit Norbert Hummelt am 22.5.2008
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