Mit dem Radau-Gott um die Welt
Fische an den Sohlen
Flossen am Absatz
Die goldne Sonne in der Mitte.
Sein Herz bekränzt mit Efeu
Sein Gesicht gefüllt mit roten Beeren
Seine nächsten Hände liegen auf den Felsen.
Wenn er die Spur verliert
Flüchtet er zum Abgrund
Und läßt alle Löffel fallen.
1. Andenken an das Pelzfrühstück
„Zur Abwechslung könntest du auch schon mal erwähnen, daß die Pelztasse jetzt Junge bekommen hat – kleine weiße, flaumige Mottenkugeln…“1 Alfred Barr jr., Der damalige Leiter des Museum of Modern Art in New York, hatte das „Déjeuner en fourrure“, eine mit chinesischem Gazellenfell bezogene Tasse mit Untertasse und Löffel, in der Pariser Galerie Cahiers d’Art ausgestellt gesehen und ließ es im gleichen Jahr 1936 für die Sammlung des damals noch jungen Museums ankaufen. In einem Brief an das Museum regte die 23jährige Meret Oppenheim an, ihre Pelztasse mit Mottenkugeln zu füttern. Aber schauen wir noch einmal zurück: Die „frühe“ Oppenheim sitzt eines Tages im Café de Flore zusammen mit ihrer Freundin Dora Maar und Pablo Picasso. An diesem Tag trägt sie ein selbstentworfenes Armband, bestehend aus einem Metallrohr, das sie mit Pelz beklebt hat, und erregt damit die ungeteilte Bewunderung der Freunde. Picasso wirft ein, man könne also alles mit Pelz überziehen, und Meret erwidert:
Auch diesen Teller und diese Tasse dort…
Gesagt, getan.
In einem Gedicht aus dem Jahre 1933, „Sansibar“, scheint Meret Oppenheim bereits einen Entwurf für eine solche Pelztasse auszusprechen und gleichzeitig ihren Standpunkt zum späteren, bis heute anhaltenden „Pelztassen-Ruhm“ darzulegen:
Die roten Füchslein
Alle leben einsam
Sie zehren am längsten
Sie essen ihren Pelz.
Jene zehren am längsten, so sagt Meret Oppenheim im Gedicht, die ihren Pelz essen. Dazu gehören diejenigen, die imstande sind, von sich selbst Abschied zu nehmen. Es gilt, die äußere Hülle (hier ist es der Pelz) abzulegen, um den Ruhm zu überleben, zu überdauern. Und das hat jeder selbst in der Hand. Kein anderes Objekt als die Pelztasse, seit damals eines der meistzitierten Anschauungsobjekte des Surrealismus, weiß diesen Traum von Ewigkeit „wirklicher“ zu träumen. Es kann auf plumpe, erotische Anspielungen verzichten; vielmehr verbreitet es ein erotisches Klima um sich, eine erotische Atmosphäre, deren Geheimnis darin besteht, daß dieses Objekt seinen Traum nach innen träumt. Wir begegnen diesem falschen Hasen, diesem gezähmten Raubtier hinter Glas, das im kleinen Raum, den es beansprucht, unglaublich viel anrichten kann – wie einer täuschend echten Fälschung. Seine Gefährlichkeit: es vermag sich selbst zu ergründen. Was dort ergründet wird, kann der Betrachter nicht sehen. Es geschieht hier ein Absehen, ein Übersehen, ein Wegschauen vom Betrachter.
Im Schaukasten des Museum of Modern Art vollzieht sich also bis heute eine ausgesprochen seltene Darbietung: Ein Gegenstand träumt nach innen den Traum einer Verwandlung, die äußerlich bereits stattgefunden hat. Dieser Traum ist gleichzeitig die Grenze des Objektes, des Gegenstandes, denn hier beginnt seine Auflösung – doch mit jedem Blick hat die Tassendame sich ihren Pelz neu angelegt. In einem gläsernen Sarg liegt sie wie das träumende Schneewittchen, das mit jedem Blick eines Zuschauers von neuem wach geküßt wird.
Es ist das Fell, das Haar, das das Leben eines Tieres überdauert und seine Lebendigkeit bewahrt; Meret Oppenheim hat die darin enthaltene Idee stets fasziniert. Es genügt ein leichter Windstoß, um die feinen Haare des Pelzes zu bewegen. Und ein geflecktes Fell gibt auch nach dem Tod eines Tiers das Bild seiner Wildheit, seiner flüchtenden Bewegungen, seiner Grazilität zu Lebzeiten. Wenn man noch dazu weiß, daß eine chinesische Gazelle die nackte weiße Porzellanhaut der Uniprix-Tasse bedeckt…
Aber was die Pelztasse angeht, kann man auch ganz im Sinne von Meret Oppenheim an ihren Mottenkugel-Nachwuchs denken und sämtliche Theorien und Interpretationen sofort vergessen. Die Pelztasse selbst hat daran gedacht und die Künstlerin animiert, ein Andenken, ein „Souvenir du déjeuner en fourrure“ zu fertigen. Dieses 1970 als Multiple ausgeführte Kitschobjekt feiert nun endlich, mit imitiertem Pelz und mit falschem Edelweiß geschmückt, unter bombiertem Glas die „reine“, simple Idee und weist schlicht und ironisch auf ihren Unterhaltungswert.
2. Ein poetischer Auftrag: Kleiden Sie sich als Eisbär
Den Gedichten vorangestellt ist das Objektbild „Habillez-vous en ours blanc“ oder „Kleiden Sie sich als Eisbär“, das im Jahre 1935 entstanden ist. Es weist insofern erstaunlich direkt auf die folgenden Gedichte Meret Oppenheims hin, als es einen poetischen Aufruf im Bild formuliert, der ebensogut eine ihrer Gedichtzeilen sein könnte. Man darf es einen Vorfahren der Pelztasse nennen; es vergibt den Auftrag zu einer Reihe von Metamorphosen, zur Verwandlung an jeden, der will. In seiner Aussage und Gestaltung seltsam sperrig und quer, „läuft“ es zwar nicht, funktioniert aber doch reibungslos. Nennen wir es einen Apparat, poetischen Auftragsdienst, magischen Kasten, aus welchem die Einfälle herausfallen, wie sie eingefallen sind. Wenn es einen Projektor von Pelztassen gibt, von „entrückten Tieren“, vom „Ursprung des Feigenblattes“, von „roten Wolken“, welche brennen, regnen und in einem wie eine untergehende Sonne leuchten – einen Projektor von „ausgeschriebenen Objekten“2(wo die Haut des Großvaters in Falten gelegt wird wie eine Erdkarte) etc. …, dann ist es vielleicht diese oxydierende Messingplatte mit dem horizontalen Schlitz. Auf dem Zelluloid darunter erkennen wir ein Wesen, das offensichtlich um die Gestaltung seiner Haut ringt; ein Tier, dem man gerade seine Haut abzieht, um ihm anschließend in seinen Mantel zu helfen! Es geht um Kopf und Kragen. Es knistert im Bild. Das Knistern macht die Maschine, denn hier ist der Pelz, der Eisbär noch nicht haarig – er ist vielmehr Stoff, Linie, Bewegung und Taille. Das Bild, von zarter Buntheit, tröstet über die Vergänglichkeit einer Verwandlung, einer Ekstase. Die Show dauert auch hier nicht viel länger als in einem Nachtlokal.3Poetische Aufträge werden ausgeworfen und verteilt (hingegen die „Braut von Solothurn verteilt Fledermäuse unters hungrige Volk“), welche sich einen Augenblick lang einlösen wollen. Dann gehen sie in Flammen auf, „Da weiß man nichts Näheres“, würde Meret Oppenheim jetzt sagen. Hier hat sie die Tür gefunden, durch eine Nebensache die Hauptsache zu vergessen, Hauptsache Nebensache.
3. Der Humor – die Auseinandersetzung mit der Sentimentalität
Das erwähnte Bild „funktioniert“ nach einem ähnlichen Prinzip wie Marcel Duchamps „Akt, die Treppe hinabsteigend“ aus dem Jahre 1912, da es vor allem mit der Vorstellung von Bewegung arbeitet. Was der Kunst von jeher ein Anliegen ist – Dinge und Menschen zu bewegen – und was im Film als perfekte Illusion erreicht wurde, spricht Duchamp in seinen Bildern aus. Er entlarvt damit den damaligen Avantgardebegriff, indem er das Rezept einer Stilrichtung preisgibt, die sich gerade erst formiert hatte. In seinem Bild stolpert der kubistische Akt in Teilen die Treppe hinunter. Damit hatte Duchamp eine Banalisierung der kubistischen Technik vollzogen, die man ihm so übelnahm, daß sein für den Salon der Unabhängigen eingereichtes Bild abgelehnt wurde. – Dieses souveräne Abschweifen von festgefahrenen Stilnormen kündet von Geistesblitz und angemessenem Humor anstelle von zuviel „Terpentingeist“ (Marcel Duchamp).4Mit jedem neuen Bild, jedem neuen Objekt, jedem neuen Gedicht nimmt der Humor Abschied – und das sehr persönlich. Der Humor schießt auf die Verzweiflung, sagt man, aber er sitzt neben einer traurigen Dame; ohne sie wäre er nie zur Türe hereingekommen. Humor ist letztlich auch die Begabung, persönliche Krisen zu überstehen.5Für Meret Oppenheim wie für Duchamp bedeutet es die Bereitschaft, die intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Sentimentalität zu führen und auszuhalten. Die Sentimentalität, die mit jedem festgelegten Stil Arm in Arm geht.
Meret Oppenheim verwendet Zelluloid, ein Material, dessen zeitgemäß übliche Anwendung als Filmmaterial die Auseinandersetzung anregt und intensiviert. Indem die Künstlerin Farbe auf Zelluloid aufträgt, erscheint das Bild wie ein modernes Stilleben – eines, das sich „filmisch“ bewegt. Gertrude Stein fragt in einem ihrer „Zarten Knöpfe“:
Ein langes Kleid. Was ist die Strömung die Maschinen macht, die sie knistern macht, was ist die Strömung die eine lange Linie bringt und eine notwendige Taille. Was ist diese Strömung. Was ist der Wind, was ist er… („Ein langes Kleid“).6
Nun, in diesem Fall könnte es die oxydierende Messingplatte sein. Das vielversprechende Los oder den poetischen Gewinn entnehmen wir einer unauffälligen Reklametafel inmitten des Bildes: „Kleiden Sie sich als Eisbär“. Wenn auch hier keine Pelze knistern, so doch ein raffiniert arbeitender Apparat, „der die Strömung macht“.
4. Sing-Sing – Entwürfe für eine unmögliche Mode
Als poetische Aufträge kann man auch die zahlreichen Modezeichnungen auffassen, die Meret Oppenheim in der Pariser Zeit um 1936 entwarf, um endlich Geld zu verdienen. Ein einziges Mal verkaufte sie für eine lächerlich geringe Summe den Entwurf für einen mit Pelz überzogenen Armreif an Schiaparelli. Der „dernier cri“, der „letzte Schrei“ der Mode hat die Entwürfe der Künstlerin nie erreicht, mit gutem Grund: die Ideen waren „immer wieder eine Spur zu verrückt“ oder ließen sich nicht verwirklichen, weil sie zu einleuchtend praktisch und daher nicht rentabel waren. Wer läßt sich auch schon gerne ein Nest mit einem Vogelei ins Ohr setzen oder schleppt einen dicken Echsenschwanz hinter sich her oder läßt sich eine lange rote Zunge aus einem Hundsgesicht übers Gesicht flattern! Wenn man davon ausgeht, daß das Tragen von Mode selbst schon Herbst bedeutet – die neue Kollektion ist in den Köpfen der Couturiers immer schon ausgebrütet –, dann haben die Modeentwürfe Meret Oppenheims allerdings ohne alle Jahreszeiten auskommen können. Die Entwürfe sind solche für eine unmögliche Mode. Erneut kann hierin die Begabung verfolgt werden, mit eigenen Ideen und Techniken spielerisch umzuspringen. Diese werden nämlich durch „praktische Anwendung“ persifliert, die surrealistische Idee schlechthin erscheint in den Entwürfen veräußerlicht. Sie sagt: Seht her, so einfach geht das, voilà. Unter den Skizzen finden sich solche mit betont grotesker Note, zum Beispiel der Gürtel, bestehend aus Kabel mit Stecker und Steckdose. Soll der fließende Strom die Hose halten? Eine andere schlägt Schuhe aus Fell vor, bei denen vorn die rotlackierten Zehen herausschauen sollen. Ausgeführt finden sich ähnliche Ideen heute in vielen Punkläden. Dazu bemerkt Meret Oppenheim:
… Diese Dinge liegen heute irgendwie in der Luft. Damals war es ja ganz etwas anderes. Etwas verrückt und doch schon eher eine Provokation.7
Es ist eine ideenreiche Anziehkunst, welche die surrealen Ideen zu verwirklichen suchte, als ob das ganz einfach ginge. Meret Oppenheim wollte diese Ideen eben mal auf den Arm nehmen und damit spazierengehen, sie ausführen. Kann man mehr für ein Geheimnis, für das Unsichtbare tun, als es so sichtbar auszuplaudern?
Etliche Entwürfe umhüllen einen literarischen Kern, geprägt von dem sehr eigenen schwarzen Humor ihrer Künstlerin. Da gibt es den „Chapeau pour trois personnes“, einen Hut der von drei Frauen gleichzeitig getragen wird und, laut Meret Oppenheim, durch weiße und schwarze Mannequins vorzuführen ist. Oder ein anderes Modell „Chapeau de plage“, der vom Wind am Strand zu einer weißen Wolke aufgebläht werden soll; einen Gürtel, der zwei Frauenhände aneinanderfesselt, und nicht zuletzt einen Lippenstift, von Meret Oppenheim Sing-Sing genannt, der auf seine Art das Lied der Dinge pfeift.
5. Husch, husch, der schönste Vokal entleert sich
Drückt die Titelgebung der Bilder eine starke Sehnsucht nach Sprache aus, nach Worten, die den Auftrag haben, ins Bild hineinzureiten, mitzureden, aus allen vier Ecken gleichzeitig – so wirkt umgekehrt in den Gedichten der Meret Oppenheim ein entschlossenes Drängen nach Erfüllung im Bild, ein Impuls zur räumlichen, figuralen Ausdehnung. Diesem Drängen verleiht Meret Oppenheim vor allem in ihren frühen, dadaistisch geprägten Gedichten einen heftigen, ja widerspenstigen, doch immer strengen Rhythmus. Man könnte die Lyrik Meret Oppenheims, wie die Pelztasse, als ein sich selbst ergründendes Wesen auffassen und von einer „unausgesprochenen“ Thematik sprechen, die sich in ihnen bizarr entfalten kann.
Unter den neueren finden sich einige wenige, die sich vor allem im Rhythmus sehr stark von den frühen unterscheiden. Auf diese „Ausnahmen“ trifft es zu, daß sie eher eine poetische Stimmung ungehemmt ausbreiten und in dieser Zerstreuung ihre Bestimmung finden. Unergiebig die Suche nach einem Muster, einer Vorlage, einem festen Stil, der den Gedichten zugrunde liegen könnte. Was Meret Oppenheim einmal für ihre Bilder formulierte: Jede Idee werde mit ihrer Form geboren, und: es gelte, die ganze Aufmerksamkeit auf die jeweils neue Gestalt und Ausarbeitung dieser Idee zu richten – das ließe sich auch für die Gedichte sagen. Meret Oppenheim bemerkte, sie habe niemals im strengen Sinne an diesen Gedichten gearbeitet, sie habe sie aufgenommen und aufgehoben. „Sie sind mir eingefallen.“ Auf jeden Fall brauchten sie keinen Grund zur Ursache! Da sie nicht hergestellt wurden im üblichen Sinn, sträuben sie sich vor der Auslegung. Auch handelt es sich nicht um autobiographische Begleitung. Viel angemessener und reizvoller scheint es mir, von autobiographisch abgelenkten Arbeiten zu sprechen, von eher „indirekten Reden“ mit stark optischen Eigenschaften. Als ein sehr spezielles Moment fällt auch in der Lyrik Meret Oppenheims die Komik, das Groteske, das feierlich Makabre ins Auge – es ist wieder das, was sich am Ende jedes Poems „persönlich“ verabschiedet. Ein letzter Satz richtet nochmals „absichtlich“ Verwirrung an („Wir wollen lebenslänglich Stühle flechten“, oder „Ach, das rote Fleisch und die blauen Kleeblätter, sie gehen Hand in Hand“), so wie auch die Titel der Bilder bei Meret Oppenheim oft das Ausschlaggebende sind, die Sporen für den schüchternen Wallach, für den „Traum, der (dann schnell) vor dem Erwachen davonspringt“.8„Ohne mich ohnehin ohne Weg kam ich dahin…“ – wer spricht das, wer macht solche Aussagen? Vielleicht ein Kaspar Hauser im Reich der Lyrik.
Gemeinsam ist den frühen Gedichten die plötzliche Gegenwart einer Stimme – wie aus einem hohlen Baum gesprochen. Sie bilden bizarre Gerüste, Sprachfiguren, in deren „Innerem“ Leitern oder fragile Treppen nach unten, nach draußen zu führen scheinen.
Einmal ist es der „merkwürdige Erdteil“, welcher in weiße Tücher gewickelt gleich einer gerade fertiggestellten Skulptur die gewundene Treppe eines Hauses hinuntergerollt wird. Wie für ein Schauspiel oder einen Festakt bestimmt, finden sich im Gedicht dramaturgische Anweisungen in Klammern – „(Zeremonie)“. Er bleibt „pulvrig ungesehen“ auf der Straße liegen, um schließlich noch die Ansicht auf eine Landschaft zu gewähren („nachts ein helles Relief, mühsam wie eine bergige Landschaft“). Das ist wieder das Panorama, der Blick, mit dem die schönsten Worte verlorengehen und die „schönsten Vokale“ sich entleeren. Der Nullpunkt ist erreicht, der erste Tag bricht an und findet sich mit dieser Stille ab. Bietet ein Wort nicht deshalb einen besonders geheimen, sicheren Aufenthaltsort, weil es von sich selbst am wenigsten spricht? Meret Oppenheim stellt ihre Worte zusammen, damit sie sich beim Sprechen im Munde herumdrehen und voneinander loskommen.
„Kacherache panache“ – magnetisch erschaffene Worte, die in einer Art Mikadospiel andere losreißen, auslösen. Der „Wallache“ weiß, daß er bloß eine Stimmung ist, eine Atmosphäre, die übersehen wird; gerade deshalb wird sie sich ausbreiten: „So verlangts der gute Ton“ – er ist das Tischgespräch. Was man nicht hört, was man nicht sehen kann, trifft am ehesten ein. Der Augenblick hat ihn aufgehalten, den Wallach, auch die Dichterin hält ihn nicht lange fest. „Ich kenne ihn“, sagt sie von ihrem schüchternen Wallach. Auf seinem Rücken brennen die Zeilen durch, rasen durch einen Schweigewald und verkünden unterwegs Schlagzeilen der aktuellen Tagespresse:
Der Königin von England hat er ein Taschentuch geschenkt.
Wie handschriftliche Signaturen, wie Titel unter den Bildern hocken diese Worte, Sätze schließlich in einem dunklen Kellerraum und raunen:
Wir wollen lebenslänglich Stühle flechten
Soviel steht fest, diese Stühle werden geflochten. Meret Oppenheim hat selbst einmal ein Beispiel für die Raumwirkung eines Gedichts gegeben. 1933 fertigte sie für „Endlich! Die Freiheit!“ einen Lageplan an. Danach wird ein Echo in alle vier Ecken eines Raums geschickt, um dann als „Kleine Fontäne“ oder eben indirekte Rede zurückzusprechen. Es erfolgt Antwort mit ein paar Linien, ein paar Worten oder einer Skizze für ein wichtiges Bild. In einem Gespräch im Februar dieses Jahres berichtete Meret Oppenheim noch immer fasziniert von einer Reise nach Brasilien 1969, wo sie unter anderem auch die damals noch junge Stadt Brasilia besuchte. Hier wollte sie sich sofort niederlassen, endlich hatte sie einen Ort gefunden, an welchem sie sich vorstellen konnte zu leben. „Die Stadt als Kunstwerk, als Idee, auf einem Hochplateau gelegen und auf blutroter Erde gebaut“, habe sie leidenschaftlich für den Ort eingenommen und inspiriert.
Und dann gab es außerhalb der Stadt einen improvisierten Zoo, es war einfach Sand aufgeschüttet und leichte, zarte Zäune drumherumgelegt, sehr lose alles befestigt – wie nur für gerade einen Augenblick da. In einem solchen Gatter gab es zum Beispiel Mähnenwölfe – in einem andern Geier, das konnte man auf einer Tafel am Zaun lesen, brauchte es aber kaum zu glauben, da diese Vögel auch mal hochflogen zu den anderen, die oben kreisten. Egal welche, auf jeden Fall kamen sie zurück in ihren Ansichtskäfig, weil sie es gewohnt waren oder weil sie es so wollten. Man weiß nichts Näheres. („Man dreht die Türen um und liest die Lobhymnen der Vögel.“) Das fand ich so gut, so komisch, so lustig – ringsum der Urwald, überall Schwärme, Wolken von Vögeln, die die Sonne fast verdunkeln über einem – und dann ausgerechnet hier ein solcher Zoo, der auch wiederum gar keiner ist. Nur noch die Idee fliegt hier ein und aus, hoch und runter und läßt sich auch mal nieder…
Den Sinn für dieses lose Geschehen, für die „surrealen“ Momente im Alltag, für das Kreuz und Quer der Gedanken und Ideen bewahren auch die Gedichte. Wie in diesem improvisierten Zoo die Vögel lassen sie sich nicht festlegen, nicht lange anschauen. Ihre Worte fliegen auf wie die Vögel im Zoo und kommen zurück, manchmal in fremder Begleitung, Beim Einfallen bilden die Worte eine „vorübergehende“, sehr eilige Figur. Ein Weg wird sichtbar, indem er gegangen wird so wie ein Raum hörbar gleichsam sichtbar wird durch das Echo, das die eigene Stimme erzeugt.
Vielleicht könnte man die Haltung der Gedichte mit einem Objekt Marcel Duchamps vergleichen: Ein Geometriebuch,9das er seiner Schwester zur Hochzeit geschenkt hatte, war auf dem Balkon aufgehängt. Der Wind, die Zeit blätterte in den Seiten des Buches, um es schließlich zu entleeren. Zuletzt blieb wirklich davon nichts zurück als der leere Buchdeckel. Auch dieses Objekt hat sich selbst ergründet, Rote Füchslein, die ihren Pelz essen und endlich sind die Haare leer – diese Gedichte erzählen, wie nach der Sintflut die Arche sich leert; die Tiere laufen auseinander und vermischen sich. So bleibt von den Gedichten die Empfindung von einer gesprochenen, wie gehauchten Skulptur.
Für den vorliegenden Band wurden einige Zeichnungen und Skizzen ausgewählt, die in ihrer Art sparsam auf die später ausgeführten Bilder hinweisen, aber gleichzeitig noch immer von ihrer Ausführung träumen. Zusammen mit den Gedichten sollten sie als hors d’œuvre das Quere, Vorläufige und Bizarre im Werk von Meret Oppenheim unterstreichen und à la carte von der anderen Seite, dem stark ausgeprägten „Augenleben“ der Künstlerin erzählen. Ein schönes Paradox in dem Gedicht von 1934 „Edelfuchs im Morgenrot“ verdeutlicht, wie wichtig dieses Nebenwerk ist:
Schädlich sind die Nebenmotten, ohne sie kann nichts gedeihn
Die Nebenmotten, die auch zum Verhängnis werden können wie das „unendliche Domino“ in einem anderen Gedicht. Dieser Kosmos beginnt um die Ecke oder in den Wolken, beim Anblick eines schönen Gegenstandes und ist grenzenlos. Daher geht man ins Detail, um für kurze Zeit diesen Überblick zu vertiefen. Doch selbst hier, in jedem Gegenstand offenbart sich dieses Panorama, so daß man auf jeden Fall immer zuviel sieht. Meret Oppenheim malt davon so viele Bilder wie möglich. Das Allgemeine existiert in diesem Sinne für sie nicht, weil es stets en detail gewußt wird. Es ist ein kosmischer, ein philosophischer Schimmer, den die Gedichte und Bilder Meret Oppenheims reflektieren – sie bekommen ihn auf dem langen Weg, den sie bereits hinter sich und immer wieder noch vor sich haben. Ein selbsternannter Hausgeist oder auch „Radau-Gott“ schaut mit amüsierter Neugierde dem Wildwechsel der Bedeutungen zu. Mit einer Art „erotischen Kompetenz“ wacht Meret Oppenheim über das eigene Werk, in welchem sie endlich doch auch insgeheim das Insgesamt für sich bewahren kann und in dem das Insgesamt insgeheim immer wieder neu entsteht,
Christiane Meyer-Thoss, April 1984, Nachwort
stellt die Sprach-Künstlerin Oppenheim vor. Er vereinigt die Gedichte aus den Jahren 1933–1980. Neben den Gedichten lenken Zeichnungen und Skizzen die Aufmerksamkeit auf die Herausforderung des Queren, Vorläufigen und Bizarren im Werk von Meret Openheim.
Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1984
Carmela Thiel: Wenn man Künstler ist, „dann dringt das einfach von selbst durch“
Deutschlandfunk, 6.10.2013
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