EXPEDITION
Ging wochenlang
im Kreis, immer
nachmittags. Kam gestern
ans Tor
sagte:
Er könne es sich
wieder vorstellen
Menschen aus
Staub geformt.
Klaus Merz
Dem Schweizer Dichter Klaus Merz (geb. 1945) genügen wenige Pinselstriche, um zum Kern der Dinge zu gelangen und die schwankenden Fundamente des Weltgebäudes freizulegen. Dieser Autor ist ein Meister der Kürze, der sich extrem zurücknimmt und lieber die Phänomene selbst sprechen lässt, anstatt ihnen von außen Bedeutungen aufzunötigen.
Für eine Ausstellung in der Predigerkirche in Zürich lieferte Merz 2005 einen Beitrag mit dem sprechenden Motto „In den Staub geschrieben“. An den Wänden der Kirche erschienen seine Gedichte, die ganz real „in den Staub geschrieben“ waren, da nämlich durch die Buchstaben die staubige Patina von der Wand gewischt wurde. An dieses Motiv knüpfte auch der Gedichtband Aus dem Staub (2010) an: Die biblische Formel von der Vergänglichkeit des Menschen – „Alle, die sich abwenden vom Herrn, werden in den Staub geschrieben“ – wird hier ebenso wachgerufen wie die Bewegung eines Fliehenden, der sich „aus dem Staub macht“. Das Gedicht „Expedition“ knüpft nun wiederum an die Schöpfungserzählung des Buchs Mose an:
Und Jehova Gott formte den Menschen aus dem Staub der Erde und blies ihm den Lebensodem in die Nase; und so wurde der Mensch eine lebendige Seele.
Die Schöpfer-Gestalt im Gedicht scheint jedoch starke Zweifel an diesem Vorhaben zu hegen. Vorgängig ist die Erfahrung, dass der Prozess der ersten Schöpfung an ein ungutes Ende gekommen ist, so dass eine Neuerschaffung der Welt nur unter Aufbietung aller positiven metaphysischen Ressourcen möglich scheint. Die schwarze Pointe liegt nun in der Verortung der Schöpferfigur. Der hier unablässig „im Kreis“ geht und dann ans „Tor“ kommt, um seine Reflexion zu verkünden, ist offenbar eingeschlossen hinter Mauern. Der Gott im Gefängnis – bei der vordergründigen Apologie des Lebens öffnen sich theologische Falltüren.
Michael Braun, Michael Braun (Hrsg.): Lyrik-Taschenkalender 2015, Verlag Das Wunderhorn, 2014
„Ich bleibe am Rand. Nichts von der Strömung, die soll mich verschonen“, schrieb Ilse Aichinger 1976 in ihrem eigensinnigen Prosagedicht „Insurrektion“. Und dieses Bekenntnis zur Existenz am Rand war auch ein Akt des Widerstands gegen die Herrschaft der gefälligen Formulierung und gegen die vorschnelle „Bildung von Zusammenhängen“.
Auch die Gedichte des Lyrik-Taschenkalenders 2015 arbeiten auf unterschiedliche Weise an dieser ästhetischen „Insurrektion“ und an der schönen Kunst, alte Sprach- und Denk-Ordnungen aus den Angeln zu heben.
Wie seine kalendarischen Vorgänger webt der Lyrik-Taschenkalender 2015 ein Netz aus Gedichten, poetischen Korrespondenzen und Kommentaren. 17 Dichterinnen und Dichter aus Deutschland, Österreich und der Schweiz haben jeweils zwei Lieblingsgedichte deutscher Sprache ausgewählt und kompakt kommentiert. Der Herausgeber stellt seinerseits gemeinsam mit dem Lyriker und Essayisten Henning Ziebritzki alle am Taschenkalender beteiligten Autoren und Kommentatoren mit je einem exemplarischen Gedicht vor.
Michael Braun, Vorwort, Frühjahr 2014
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