REQUIEM
Einmal rief Thomas Kling mich an, als ich in Berlin
aaaaalebte,
auf Zeit in einem Raum mit aufblasbarem Bett
und Telefon, zweiter Hinterhof, lebendig begraben.
Keine Ahnung, woher er die Nummer hatte. Mensch,
ich muss mit dir reden, dröhnte der Meister. Und
aaaaaredete.
Ich nickte, ein Kind, das magisch denkt.
Er war es leibhaftig, ich kannte die Stimme –
ich hatte ihn einmal lesen erlebt: Er saß beim Buchhändler
verdeckt von einem Stapel Wälzer am Verkaufstisch
und skandierte mit Verve seine Verse.
Immer wieder drehte er die Augen auf Weiß.
Nach einer Stunde fuhr er hoch: Alles Ärsche, zischte er,
die verstehen mich nicht. Und hatte Recht.
Ich kam nicht dazu, irgendwas zu sagen
oder ihn zu fragen, wie es ihm geht, wo er ist. Kling:
Ich beobachte, was du so machst. Dann legte er auf.
So schweigt er, wie er spricht mit Menschenstimme.
Was hatte er gesagt? Nimm deine Zunge und geh.
Hendrik Rost
EROEBERUNG DES MUNDRAUMS
Vor nunmehr acht Jahren ist der große Sprachekstatiker Thomas Kling gestorben, ein Dichter, der sich mit der elektrisierenden Präsenz seiner Auftritte ins Gedächtnis seiner Zeitgenossen eingebrannt hat. Seine Stimme ist noch da, fühlbar für alle, die ihm jemals begegnet sind, sie spricht weiter ihre schroff gefügten, die Materialität der Sprache markierenden Verse in unseren Körper und in unsere Träume hinein.
In diesem bewegenden Gedicht von Hendrik Rost ist der Virtuose der Sprachinstallation wieder auferstanden, in der ganzen Wucht seiner kommunikativen Eroberungsstrategie. Wer mit Thomas Kling ins Gespräch kam, musste erstmal ein Wechselbad der zarten Annäherung und schroffen Zurückweisung über sich ergehen lassen. Es redete erst einmal nur „der Meister“ – und waren diese Attacken der Einschüchterung erst einmal überstanden, durfte man sich seiner Aufmerksamkeit sicher sein.
Zwei unterschiedliche Dichtertypen treffen in diesem Gedicht aufeinander: der „dröhnende Meister“, der jeden Gesprächspartner zuerst seine Dominanz spüren lässt, und der irritierte, zögernde, in sich verkrochene und schließlich stumme Poet, der vom Meister zur Rede gestellt wird. Das lyrische Subjekt wird unter Beobachtung eines mächtigen Kollegen gestellt – und zieht sich zurück auf jenes Vermögen, das den Dichter auszeichnet: die Fähigkeit der ruhigen Selbstvergewisserung. In seinem Gedichtband Licht für andere Augen (2013) befasst sich Rost mit den Kernzonen unserer Existenz: Es ist eine Poesie der letzten Dinge, die sich mit dem Skandal der Sterblichkeit, den Zuständen schwerer Krankheit, der Vergänglichkeit und dem Vergehen beschäftigt und dagegen immer wieder die Figurationen des Lebendigen setzt – die Vermessung der Welt aus der Perspektive von Kindern.
Hendrik Rost ist im Grunde ein poetischer Antipode Thomas Klings: ein Autor, der sich das „schnurgerade Schauen“ und die intime Nähe zu den Dingen zum Ziel gesetzt hat, zugleich aber streng die Wahrnehmungsvoraussetzungen reflektiert, unter denen dieses Schauen möglich ist. Statt wie Kling die Wörter extremen Zerreißproben der Stauchung, Verschiebung und Zertrümmerung auszusetzen, vertraut Rost auf poetische Nüchternheit und die Möglichkeit einer unmittelbaren Präzision und Luzidität der Sprache. Er favorisiert eine Poetik der distanzierten Nähe, den Versuch, die Faktizität der Dinge und ihre mythische Aufladung zu erkennen.
Das „Requiem“ ist ein poetisch eindringlicher Versuch über die Vergänglichkeit. Der tote Meister, der mit seiner suggestiven Stimme das Ich erschüttert, wird hier noch einmal mit seiner „Menschenstimme“ vergegenwärtigt. Zugleich leistet er so etwas wie die schöpferähnliche Arbeit der Wiedererweckung. Denn die berührende letzte Verszeile lässt jene Geschichte des Markus-Evangeliums anklingen, in der Jesus einen Gelähmten heilt und anschließend auffordert: „Nimm dein Bett und geh.“ Auch gibt es Anklänge an die Wiedererweckung des Lazarus. Aus seinem Zustand des „Lebendig-Begraben“-Seins wird das Subjekt durch den Anruf des Meisters ins Leben und Schreiben zurückgeholt. Zugleich erweist dieser Vers dem poetischen Propheten des „Mundraums“ seine Reverenz. „Nimm deine Zunge und geh“: So werden in diesem Doppelporträt die so gegensätzlichen Dichtertypen am Ende im Modus des „Gehens“ miteinander verbunden. Der „Meister“ geht ins ewige Verstummen, sein schüchterner Zuhörer kann ins Sprechen zurückkehren.
Michael Braun
Lyrikanthologien sind sehr vergängliche Gebilde. Mit dem ehrgeizigen Ziel, einen „ewigen Vorrat“ von „hinterlassungsfähigen“ (Gottfried Benn) Poemen anzulegen, sind die Herausgeber solcher Anthologien in der Regel gescheitert. Was als Gedichtsammlung mit nahezu unbegrenzter Haltbarkeitsdauer geplant ist, entpuppt sich fast immer als zeitabhängige, von intellektuellen Moden beeinflusste Bestandsaufnahme, ebenso kurzlebig wie die lyrische Saisonware. Unser gemeinsames Unternehmen Der gelbe Akrobat, das wir 2009 als Summe einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit zeitgenössischen Gedichten vorlegten, ist indes kein klassisches Anthologie-Projekt, sondern ein work in progress, das sich einem publizistischen Glücksfall verdankt. Zwanzig Jahre lang ermöglichte uns die Wochenzeitung Freitag, in unregelmäßiger Folge Kolumnen zu deutschsprachigen Gedichten der Gegenwart zu schreiben. In stetem Wechsel verfertigten wir ab 1991 unsere Kommentare zu den Gedichten, biografische und sympathetische Annäherungen an die Texte, die im Idealfall aufeinander antworteten und sich zu einem großen Gespräch über Poesie ausweiteten. Die erste umfassende Zwischenbilanz dieser Arbeit mit 100 Gedichten und ebenso vielen Kommentaren haben wir 2009 im Verlag des Poetenladens vorlegen können, ein Kompendium, das mittlerweile in der dritten Auflage vorliegt.
Unser Gespräch mit der zeitgenössischen Poesie haben wir auch nach dem Ende der Freitag-Kolumne fortgesetzt. Die „Neue Folge“ des „gelben Akrobaten“ erscheint seit Januar 2011 monatlich auf der Internet-Seite des Poetenladens sowie in verschiedenen Folgen in der Zeitschrift poet. Das dialogische Prinzip ist beibehalten worden.
Im vorliegenden Band präsentieren wir nun 50 neue Gedichtkommentare, die sich der gegenwärtigen deutschen Lyrik widmen. Die Texte wurden in vielen Fällen aktuellen Literaturzeitschriften entnommen. Mit Gedichten von Elisabeth Langgässer, Wilhelm Lehmann und Oskar Loerke wird an die Großmeister der naturmagischen Schule erinnert, um die es still geworden ist.
Michael Braun und Michael Buselmeier, Vorwort
Hier werden Gedichte und Kommentare sichtbar.
Michael Braun und Michael Buselmeier haben nach dem Erfolg des ersten Bandes in einer neuen Folge (2009–2014) fünfzig weitere Gedichte der Gegenwart ausgewählt und kommentiert.
Die beiden Lyrikkenner legen damit so profund wie verständlich den zweiten Teil eines Standartwerkes vor, das unerlässlich ist für all jene, die wissen möchten, was Lyrik heute noch zu leisten vermag.
Zu den Gedichten, denen sie sich widmen, gehören Entdeckungen aus aktuellen Literaturzeitschriften ebenso wie vieldiskutierte Texte bekannter Autoren wie Günter Grass oder Jan Wagner (Bd. 1). Mit Gedichten von Elisabeth Langgässer, Wilhelm Lehmann und Oskar Loerke wird an die Großmeister der naturmagischen Schule erinnert, um die es still geworden ist.
Poetenladen, Klappentext, 2016
– Michael Buselmeier und Michael Braun beherrschen die hohe Kunst, auf zwei Seiten ein Werk zu erhellen: Ihre Anthologie Der gelbe Akrobat 2 versammelt fünfzig zeitgenössische Gedichte.. –
Vor sieben Jahren erschien Der gelbe Akrobat, eine Sammlung von hundert kommentierten Gedichten. Inzwischen liegt der Band, für eine derartige Anthologie ein schöner Erfolg, in der dritten Auflage vor. Und da Michael Braun und Michael Buselmeier seither nicht aufgehört haben, zeitgenössische Lyrik zu lesen und darüber auch zu schreiben, sind jetzt mit Der gelbe Akrobat 2 weitere fünfzig ihrer Kommentare erschienen – selbstverständlich samt der dazugehörigen Gedichte.
Da lässt sich schon bei der bloßen Lektüre der jeweils vorangestellten Verse manche Entdeckung machen. Der Name Brigitte Struzyk etwa dürfte nicht eben vielen geläufig sein. Ihre leichtfüßige Anverwandlung des eigentlich längst zu Tode zitierten Hölderlin-Gedichtes „Hälfte des Lebens“ aber wird man so schnell nicht vergessen:
Ich aber ging
durch den Weinberg
Ich ging
wo die Birnen
am Wegrand
o weh
wo sie lagen
und dachte an ihn
ob er getrunken hat
ob er trunken war
vom Leben vom Tod
halbe/halbe
Michael Buselmeier nun weiß zu berichten, dass dieses Gedicht Anfang der Neunzigerjahre, während eines Aufenthalts der Dichterin in den Weinbergen rund um Edenkoben entstanden ist. Wobei es dieser topografischen Rückbindung, wie er zu Recht schreibt, gar nicht unbedingt bedarf. Sie verleiht dem Gedicht aber, wie so viele andere, scheinbar nebensächliche Hinweise, die Braun und Buselmeier geben, eine zusätzliche Dimension, eine schöne Lebendigkeit.
Die hohe Kunst, auf zwei Seiten Erhellendes über den jeweiligen Dichter und sein Werk mitzuteilen, wie auch dem ausgewählten Gedicht eine Lektüre angedeihen zu lassen, die trotz der Kürze schlüssig erscheint, beherrschen die beiden Lyrik-Kenner virtuos. Immer wieder gelingt es ihnen wie nebenbei, die (literatur-)historischen Bezüge der Gedichte aufzudecken, sei es bei Ulrike Draesner, Gerhard Falkner oder Ann Cotten.
Auch Max Ernsts Gemälde „Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen“, das Anlass war für Arne Rautenbergs Gedicht „drei amseln“, wird nicht sofort jeder vor Augen gehabt haben:
die jungfrau züchtigt das jesuskind
drei amseln flüchtig schweigen im wind
In seinem Kommentar legt Michael Braun die vielfältigen Lesarten offen, die diese beiden eigentlich terrassenförmig angeordneten Verse nahelegen. So wird der Leser zum Wiederlesen und Weiterdenken angeregt.
Nicht alle Dichter, die in Der gelbe Akrobat 2 mit Gedichten auftauchen, sind noch am Leben, ja drei sogenannten „Naturmystikern“ der Jahrhundertmitte – Elisabeth Langgässer, Oskar Loerke und Wilhelm Lehmann – gilt neben einigen vor allem aus den Siebzigerjahren bekannten Lyrikern das besondere, melancholisch gefärbte Interesse Michael Buselmeiers.
Braun dagegen hat sich zumeist dem Heute verschrieben und beobachtet nicht zuletzt das Werk derjenigen besonders aufmerksam, die überhaupt erst in den Achtzigern geboren wurden: Levin Westermann, Kerstin Preiwuß oder eben Ann Cotten. Letztere vertreibt denn auch schnell jeden Anflug von Melancholie. Gesagt sei noch, dass ihr Gedicht „Rosa Meinung“ im Landgericht Berlin entstand und, im späteren Verlauf, auf Heinrich Heine Bezug nimmt:
In des Landgerichts Fotze
geh ich als ein blasser Traum
Frau ist alles, was ich kotze
lauter Wahrheit dieser Raum.
In dieser besonderen Anthologie moderner deutscher Lyrik stellen Michael Braun und Michael Buselmeier 100 Gedichte vor, die sie zugleich mit einer jeweils etwa zweiseitigen Interpretation versehen. Es finden sich Texte von so verschiedenen Autoren wie Peter Hamm, Thomas Kling, Erich Fried, Friederike Mayröcker, Kurt Drawert, Sarah Kirsch, Jan Wagner und vielen anderen. Ich finde die Auswahl der Gedichte insgesamt sehr gelungen. Alle sind es wert, sich mit ihnen näher zu befassen. Auch die Interpretationen von Braun und Buselmeier sind lesenswert und erhellend. Sie stellen die Gedichte oft in einen Kontext von historischen Begebenheiten, literarischen Bezügen und Aspekten in der Lebensgeschichte des Autors und tragen so zu einem besseren, facettenreichen Verstehen der Texte bei. Eine kleine Einseitigkeit liegt m.E. darin, dass Braun und Buselmeier vor allem solche Gedichte auswählen, die die Zerissenheit, Entwurzelung oder um es mit Heidegger zu sagen „Unbehaustheit“ des modernen Subjekts fokussieren. Die ja auch in der Lyrik immer vorhandene „Leichtigkeit des Seins“ kommt dabei deutlich zu kurz. Ein weiterer kleiner Schönheitsfehler: die sehr prosaische, fast könnte man sagen, etwas lieblose, auf jeden Fall unkreative Gestaltung des Buchs durch den Verlag poetenladen. Nichtsdestotrotz: ein in jedem Fall lesenswertes Buch für jeden, der sich für moderne deutsche Lyrik interessiert.
Armin Steigenberger: Jenseits der Komfortzone – Erlebnisse beim Erleben von Poesie
signaturen-magazin.de
Matthias Friedrich: Biografische Bemerkungen
literaturkritik.de, April 2016
Paul-Henri Campbell: Gelbe Akrobatik
fixpoetry.com, 22.1.2016
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