Michael Braun: Zu Christiane Heidrichs Gedicht „Today I am functional (1)“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Christiane Heidrichs Gedicht „Today I am functional (1)“ aus Edit, Heft 72. –

 

 

 

 

CHRISTIANE HEIDRICH

Today I am functional (1)

Und während sich die Möglichkeiten aufbäumen, berührt zu werden,
mein eigener Körper ausgerechnet hält still.

Ich brauche genau eineinhalb Stunden von meinem Aufenthaltsort zur Destination,
die mir weitergegeben wurde, zu der ich aber auch will.

Von weiter weg gesehen halte ich große Objekte abwechselnd in die Kamera.

Meine Hände sehen dabei unschön aus. Sie schimmern, als wären sie durchsichtig, träge.
Als ragten sie absichtslos in die Zeit und verwiesen auf nichts.

Ich gebe den Zielort ein, mit angespannten Organen. Ich habe kein Thema.

 

Man kennt diesen Zustand

des Transitorischen aus einem legendären Lesebuch-Text: „Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. / Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.“ Bertolt Brechts „Radwechsel“ setzte damals freilich die Entscheidungsfähigkeit eines Subjekts voraus, einen Willen und Richtungssinn des im Wartezustand befindlichen Ich, eine auf die Veränderung einer defizitären Lage gerichtete Intention. Im Gedicht der 1995 geborenen Künstlerin und Dichterin Christiane Heidrich freilich verlässt sich der Körper des Subjekts nicht auf eine planvolle Entscheidung des Ich, sondern definiert sich selbst als ein zu beobachtendes System, eingebettet in ein Environment aus Medien. Das Ich ist selbst nicht die steuernde Instanz, sondern ist eingeschlossen in eine ruhige, fließende Bewegung, deren Ursprung und Ziel an technische Geräte delegiert wird. Ein Ich, eine Kamera, mit der „große Objekte“ beobachtet werden können, ein Navigationssystem, in das man den „Zielort“ eingibt: Das sind die Protagonisten des Gedichts, wobei der Körper nur als Relaisstation fungiert, zugleich als Ort einer permanenten Selbstbeobachtung. Das lyrische Ich dieser ganz im Zeichen der Facebook-Kultur stehenden Poesie ist ständig unterwegs „auf einer rutschigen Fläche unbeantworteter Nachrichten“, wie es in einem weiteren Gedicht von Christiane Heidrich heißt. Alles wird delegiert an ein fluides Einerlei im digitalen Raum, an die Unentschiedenheit als Lebensform. Sie mündet in die ostentative Koketterie mit dem bloß Funktional-Technischen: „Ich habe kein Thema.“

Michael Braun, Volltext, Heft 1, 2018

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