– Zu Dieter M. Gräfs Gedicht „Nach Mattheuer“ aus Dieter M. Gräf: Falsches Rot. –
DIETER M. GRÄF
Nach Mattheuer
auch die Tulpen: ab
geschnitten, liegen auf
dem ewiglangen, weiß
bezognen Tisch, auf
dem der Kuchen stehen
könnte, wär man tot.
So ganz allein dahin
gemalt, bestraft
mit dünnschissfarbnem
Hintergrund: hervor
gehoben. Niedergeschlagen
die Augenlider. Wir bitten
um ein neues Bild, nun
mit verdorrten Tulpen,
um eine weitere Aus
zeichnung. Dann
um ein Bild mit leerem
Fleck statt Blumen;
eins ohne sie, das
nächste: auch noch ohne
Tisch; die Aus-
gezeichnete im Westen – –
(Die Ausgezeichnete, 1973/74)
Eine ältere Frau mit kurzen, ergrauten Haaren sitzt mit gesenkten Augen an einem Tisch, vor ihr ein bescheidener Blumenstrauß, ein paar rote Tulpen. Die Frau wirkt müde und erschöpft, das weiße Tischtuch, auf das ein Schlagschatten fällt, trennt sie von der Welt und von dem Betrachter. Wolfgang Mattheuer (1927–2004), der prominente DDR-Maler, hat sein 1973/74 entstandenes Bild „Die Ausgezeichnete“ genannt. Es sorgte damals für Furore, denn die DDR-Kulturpolitik rieb sich an diesem Bild, das sich so demonstrativ abwandte von der Imago einer strahlenden Heldin der Werktätigen. Der Dichter Dieter M. Gräf radikalisiert im vorliegenden Gedicht das Zeitbild des Malers. Die einsame „Ausgezeichnete“, die in Mattheuers Bild so isoliert und entrückt wirkt, wird imaginativ in die Zukunft des wiedervereinigten Deutschland projiziert. Das Porträt der „Ausgezeichneten“, so suggeriert Gräf in einer bösen Volte, hätte im neuen Deutschland keine Kontur mehr. Die neue Bilder-Folge, die hier ersonnen wird, vollzieht die langsame, unaufhaltsame Auslöschung der Motive. Die „Ausgezeichnete im Westen“ hat kein Gesicht mehr, sie ist in ihrer Individualität von der Bildfläche getilgt. Dieter M. Gräf (*1960) hat in seinem opulenten Gedicht- und Foto-Band Falsches Rot viele solcher geschichtsarchäologische Expeditionen zu den Urszenen deutscher Geschichte komponiert. In akribisch gestalteten Langgedichten widmet er sich den Apologeten des autoritären Sozialismus, so etwa dem primären Hofdichter der DDR, Johannes R. Becher. Aber auch die falschen Propheten des Westens haben ihren Auftritt, besonders die schrillste und autistischste Stimme: Andreas Baader, der hier als hemmungsloser „Leader“ firmiert
Michael Braun, Volltext, Heft 2, 2018
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