– Zu Else Lasker-Schülers Gedicht „Ich glaube wir sind alle für einand’ gestorben…“ aus dem Band Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Band I/I, Gedichte. –
ELSE LASKER-SCHÜLER
Ich glaube wir sind alle für einand’ gestorben –
Und auch gestorben unser Café in Berlin.
Arm zog ich aus, ich habe nichts erworben.
Doch Thränen liess ich in Berlin.
Im Wuppertal, Schnee deckte damals Rosenstrauch und spätes Grün;
Von schönster Mutter wurde ich geboren,
Zur Welt gebracht, es glitzerte die Februarnacht ….
Es standen Feen vor den Gartentoren.
Gebt acht: 12 schlug es von des Turmes Wacht!
Ich hab mein Märchenland – es war einmal – verloren,
Verloren ……
Doch seelig nur – der edle Jude hat es schlichter schon gesagt,
Die bettelarm zu Gott durch diese Welt gejagt.
Ach die Liebe ist gestorben – manch Heiligen führt der Engel
„lebend“ heute in das Paradies von dieser Welt.
Wo keine Liebe glüht,
Verblüht das Leben ungeküsst
Im Juden und im Christ, im Heiden und Buddhist.
Das ewige Leben dem,
Der viel von Liebe weiss zu sagen.
Ein Mensch „der Liebe“ kann nur auferstehen.
Hass schachtelt ein wie hoch die Fackel auch mag schlagen.
Es ist leicht, sich ein Bild von Else Lasker-Schüler zu machen, wenn man sich an die Legenden anlehnt, die über sie, nicht zuletzt von ihr selbst, in Umlauf gesetzt worden sind und die noch Jahrzehnte nach ihrem Tod die Wahrnehmung der Dichterin geprägt haben: als „schwarzer Schwan Israels“, als „Sappho, der die Welt entzweigegangen ist“, als exzentrische Boheme-Künstlerin mit Talmischmuck und wallenden Gewändern. Hinter diesen Maskeraden aber stehen die dichterischen Texte, zumal die aus dem Jerusalemer Nachlaß, die erstmals in der Kritischen Ausgabe des Jüdischen Verlags erschienen sind.
Aus den nachgelassenen Lyrikkonvoluten Else Lasker-Schülers stammt auch dieses titellose Gedicht. Zu datieren ist es offenbar in die Jahre des Schweizer Exils, über das die um 1938 entstandenen „Tagebuchblätter aus Zürich“ (hier findet sich die Typoskriptfassung des Gedichts) am besten Auskunft geben. Einer zunächst ungebrochenen, dann nachlassenden Produktivität steht die wachsende Misere der Emigration gegenüber. Zurück ins nationalsozialistische Deutschland konnte sie nicht, weil sie jüdischer Herkunft und, seit der Ausbürgerung im September 1938, staatenlos war; in der Schweiz bleiben durfte sie nicht, „im Hinblick auf die große Ueberfremdung“, wie die Eidgenössische Polizei 1936 mitteilte; nach Palästina ausreisen konnte sie erst, als im Februar 1939 das rettende Visum kam.
In den Akten der Zürcher Fremdenpolizei ist dieser Teufelskreis dokumentiert: Ohne Arbeitserlaubnis fehlte die Publikationsmöglichkeit, ohne dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung mußte sie ständig darum bitten, die Duldungsfrist zu verlängern. Rastlos versuchte sie, „wie ein Tagelöhner“ durch den antiquarischen Verkauf ihrer Bücher und Bilder ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
Was hat die unerwünschte, nur geduldete Emigrantin angesichts dieses Exils auf Widerruf zu sagen? Es ist das Lebensbilanzgedicht einer fast Siebzigjährigen. Von der Geburt bis zum antizipierten Tod reicht die Liste der Verluste, eine traurige Registerarie. Da ist das „Café in Berlin“: das Café des Westens am Kurfürstendamm, später das Romanische Café, kulturelle Hauptstadtbörse für die expressionistische Generation. Da ist das Kindheitsparadies in Wuppertal mit dem Garten hinter dem Haus und der „schönste(n)“ Mutter, ihrem „Heiligenbild“, die sie einmal durch einen Sprung vom „Turm“ noch schneller zu erreichen versuchte. Die Konstellation der Geburt ist von Goethe geborgt. Doch die klassische Einheit von Leben und Dichten gilt nicht mehr. Mit dem „Glockenschlage zwölf“ wird, genau in der Mitte des Gedichts, das Kindheitsmärchen zerschlagen.
Der schlimmste Verlust ist der der Liebe. Else Lasker-Schüler schrieb, wenn sie liebte, und sie liebte, wenn sie schrieb, mit einer Unbedingtheit und Unerbittlichkeit, die ihre Geliebten, Freunde, Fürsprecher manchmal vor den Kopf stieß. Wenn die Liebe fehlt, können die Menschen nur mehr füreinander sterben:
Wo keine Liebe glüht,
Verblüht das Leben ungeküsst.
In der zweiten Gedichthälfte wird aus der Legende vom armen Glückskind das Liebesevangelium der desillusionierten Dichterin. Bei der Selbstseligsprechung der Armen sollte man aber nicht überhören, daß Christus „der edle Jude“ genannt wird. Else Lasker-Schüler hat Brücken zwischen den Konfessionen gebaut, ohne die Unterschiede der Religionen zu ignorieren. Das haben selbst die zeitgenössischen Besucher, unter ihnen Thomas Mann, die dem nach nur zwei Aufführungen im Dezember 1936 vom Zürcher Spielplan abgesetzten Toleranz-Drama Arthur Aronymus und seine Vater Respekt zollten, übersehen. Werner Kraft hat die Anekdote überliefert, daß Else Lasker-Schüler, an einem jüdischen Fasten- und Feiertag in einer Synagoge Schokolade essend, den sie ermahnenden Tempeldiener bat, sie nicht in ihrer Andacht zu stören.
Die Botschaft des Gedichts ist ein Versprechen:
Ach die Liebe ist gestorben – manch Heiligen führt der Engel
,lebend‘ heute in das Paradies von dieser Welt.
Das erinnert auch im Wortlaut an die Verse aus dem „Blauen Klavier”, ihrem berühmtesten Exilgedicht:
Ach liebe Engel öffnet mir
– Ich aß vom bitteren Brote –
Mir lebend schon die Himmelstür,
Auch wider dem Verbote.
Dieser Hilferuf will zu Lebzeiten gehört werden. Die Dichterin, die im Exil ihr Publikum verlor, obwohl sie 1945 in Jerusalem weder vereinsamt noch verarmt starb, suchte ein sehr irdisches, kein himmlisches Paradies – ein Phantasieparadies im „teuren Heimathaus“ ihrer Kunst. Das ist ihr letztes Dichtungsgebot: elegisch, mit kunstvollen End- und Binnenreimen von der Liebe in Zeiten des Hasses zu dichten, wie hoch die Fackel der Aufklärung oder der Vernichtung „auch mag schlagen“.
Michael Braun, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg).: Frankfurter Anthologie. Zweiunddreißigster Band, Insel Verlag, 2008
Ich könnte weinen. Danke für dieses Geschenk an die Welt.