– Zu Eva Maria Leuenbergers Gedicht „jeden tag kommen neue körper:…“ aus Eva Maria Leuenberger: dekarnation. –
EVA MARIA LEUENBERGER
jeden tag kommen neue körper:
die strömung zieht sie durch den fluss
in den see hinein:
manche augen sind offen
manche mit münzen geschlossen
man sagt, im wasser wird der körper frei
dekarnation durch verwesung
wasser, das liebende, löst die haut
vom fleisch das fleisch
von den knochen die knochen
sinken zum boden
des sees
es gibt keine namen im see
die gedärme verschlingen sich
untereinander: aber es gibt so etwas
wie ruhe:
wenn die abgelöste haut an die oberfläche
schwebt, spiegelt das licht
im nebel
ist die berühmteste Moorleiche der Welt. 1950 von Torfstechern im dänischen Silkeborg entdeckt, ist der vor über zweitausend Jahren gewaltsam zu Tode gekommene Mann zu einem poetischen Mythos geworden. Seamus Heaney hat dem „Tollund Man“ zwei Gedichte gewidmet. Auch die 1991 geborene Schweizer Dichterin Eva Maria Leuenberger eröffnet den zweiten Zyklus ihres Debütbuches dekarnation mit einer Reminiszenz an den gut konservierten „Mann Tollund“. In den Gedichten des Kapitels „Moor“ wählt Leuenberger – wie im gesamten Band – ein Verfahren extremer Reduktion der lyrischen Elemente, wobei durch die konsequente Engführung der Wörter und Motive stets spannungsreiche Konstellationen entstehen. Im ersten Zyklus kreist die poetische Suchbewegung um ein „Tal“ und damit verknüpfte Naturmotive (Bach, Wiese, Wind, Wasser). Ein eigentümlicher Prozess der Anthropomorphisierung setzt hier ein, wobei offen bleibt, ob hier das „Tal“ selber spricht oder ein einsames Ich sich durch eine fremd anmutende Landschaft bewegt. Im Zyklus „Moor“ wird nun die Ankündigung des Titels eingelöst: Ausgehend von einem Denkbild zum Tollund-Mann, findet sich das lyrische Subjekt anschließend am Rand eines Sees wieder. Und hier setzen die Auflösungsprozesse ein, auf die der Begriff „Dekarnation“ („Entfleischung“) zielt: Von einem menschlichen oder tierischen Körper werden alle Weichteile entfernt, sodass nur noch die Knochen oder ein Gehörn zurückbleiben. Wenn hier nun die Auflösung toter Körper im Wasser evoziert wird, ist nicht nur der antike Mythos präsent, demzufolge den Toten bei der Überfahrt in den Hades eine Münze auf die Augen gelegt wird, gleichsam als Entgelt für den Fährmann Charon. Als Tonspur tönt auch das Ophelia-Motiv mit, der literaturgeschichtlich prominenteste Fall eines toten Menschen im Wasser, wie ihn Brecht, Georg Heym u.a. thematisierten: „Als ihr bleicher Leib im Wasser verfaulet war / Geschah es (sehr langsam), daß Gott sie allmählich vergaß…“
Michael Braun, Volltext, Heft 4, 2019
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